Seit ich höre, hat man mir gesagt, ich sei anders, und ich habe geachtet darauf, ob es so ist, wie sie sagen. Und es ist so, Hochwürden: Ich bin anders. Man hat mir gesagt, wie meinesgleichen sich bewege, nämlich so und so, und ich bin vor den Spiegel getreten fast jeden Abend. Sie haben recht: Ich bewege mich so und so. Ich kann nicht anders. Und ich habe geachtet auch darauf, ob’s wahr ist, daß ich alleweil denke ans Geld, wenn die Andorraner mich beobachten und denken, jetzt denke ich ans Geld, und sie haben abermals recht: Ich denke alleweil ans Geld. Es ist so. Und ich habe kein Gemüt, ich hab’s versucht, aber vergeblich: Ich habe kein Gemüt, sondern Angst. Und man hat mir gesagt, meinesgleichen ist feig. Auch darauf habe ich geachtet. Viele sind feig, aber ich weiß es, wenn ich feig bin. Ich wollte es nicht wahrhaben, was sie mir sagten, aber es ist so. Sie haben mich mit Stiefeln getreten, und es ist so, wie sie sagen: Ich fühle nicht wie sie. Und ich habe keine Heimat. Hochwürden haben gesagt, man muß das annehmen, und ich hab’s angenommen. Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, Euren Jud anzunehmen. (Andri zum Pater) Dieses Zitat ist dem Theaterstück „Andorra“ von Max Frisch entnommen. Andri ist über viele Jahre hinweg von seinen Mitmenschen als Jude betrachtet und behandelt worden. Lange hat er sich gegen diese Identität gewehrt. Als ihm schließlich vom Pater eröffnet wird, dass er gar nicht aus einer jüdischen Familie stammt, wird ihm jedoch bewusst, wie sehr er diese Identität bereits verinnerlicht hat. Selbstbewusst - sich seiner selbst bewusst - verlangt er nun von den anderen die ihm gebührende Anerkennung. Lange bevor ich mich bewusst für das Studium der (Sozial)Psychologie entschied, hatte dieses Zitat bereits mein Interesse für die Frage geweckt, wie das Soziale in das Individuum kommt und das Soziale durch das Individuum wirksam wird. Das Zitat illustriert die Macht sozialer Einflüsse, insbesondere die Wirkung von Stereotypisierungsprozessen, aber auch die Möglichkeit von Gegenmacht sowie individuellen und kollektiven Aufbegehrens. Es war und ist meine Hoffnung, dass Sozialpsychologie einen wichtigen aufklärerischen Beitrag zum Verständnis der fundamentalen Sozialität unserer Spezies leisten kann. Die sozialpsychologische Herangehensweise ist fundamental psychologisch, weil sie von der Annahme geleitet wird, das Soziale wirke durch die (Köpfe und Herzen der) Individuen hindurch und nicht über deren Köpfe hinweg, wie nicht wenige Soziologen annehmen. Gleichzeitig ist die sozialpsychologische Herangehensweise fundamental sozial, weil sie das Individuum im Kontext seiner Beziehungen zu bzw. Interaktionen mit anderen Individuen und Gruppen zu verstehen versucht, und nicht als abstrakte, losgelöste Einheit, wie dies nicht wenige Psychologen versuchen. Im Konzert der verschiedenen, arbeitsteilig verbundenen Wissenschaftsdisziplinen übernimmt die Sozialpsychologie folglich eine zentrale Vermittlerrolle zwischen der auf soziale Makroprozesse fokussierten Soziologie und der auf psychische Mikroprozesse fokussierten Psychologie. Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. (Theodor W. Adorno) Die Sozialpsychologie fragt, wie Individuen sich in sozialen Kontexten verhalten und warum sie dies so tun, wie sie es tun. Nach meinem Verständnis stellt die Sozialpsychologie aber nicht nur Fragen zum Status quo, sie stellt auch infrage. Sie ist eine kritische, keine affirmative Wissenschaft. Sie fragt immer auch, was sein könnte und wie dies erreicht werden kann. Ganz im Sinne der obigen Bemerkung von Adorno soll Sozialpsychologie als kritische Wissenschaft der Verdummung entgegenwirken, auch wenn und gerade weil die Macht den Geist meist missgünstig beäugt und stets zu korrumpieren versucht. 1 Von diesem Selbstverständnis geleitet erforschen meine Mitarbeiter/innen und ich seit mehreren Jahren die sozialpsychologischen Grundlagen individueller und kollektiver Identität und deren Bedeutung für intra- und intergruppales Verhalten (insbesondere bei Minoritäten und Majoritäten). Im Zentrum unserer Forschungsarbeiten stehen Phänomene wie Individualisierung und Gruppenbildung, Respekt und Macht sowie soziales und politisches Engagement und Protest. Bernd Simon, Kiel 2