ADHS wächst sich nicht aus

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nauen und sorgfältigen Umgang mit
den gewählten Formulierungen auffordert – gerade in Erstgesprächen.
Schließlich zur Kunst: Als Mittlerin zur Welt des Unbewussten
wird sie in der Hypnotherapie vielfach eingesetzt und entsprechend
auch auf der Tagung in ihrer Vielfalt vorgestellt. Kaum eine Kunstsparte, die nicht hypnotherapeutisch
fruchtbar zu machen ist und hier per
Workshop erfahrbar wurde: Musik
und Tanz, Malen, Schreiben und
sogar Zauberei sind Zugänge ins
hypnotherapeutische Feld. Faszinierend kann auch der Einsatz von
Märchen sein. Die Hypnotherapie
nutzt sie als Schatz „geheimnisvoller Seelenwahrheiten“, die ein offenes Feld für Identifikationen erschließen und Patienten eine Bilderwelt für das Erkunden innerer
Zustände und abgewehrter Anteile
erschließen. Gerade für eher „sprachlose“ Patienten ist dies ein spielerisch leichter Zugang: Jeder kennt
zumindest ein Märchen – das mit
offenem Munde zuhörende Kind
wird wieder wach und freut sich
über eine reiche Symbolsprache zur
Selbstexploration und für den Ausdruck des bislang noch Unsagbaren.
Die Tagung konnte vielfältige bereichernde Anregungen für die therapeutische Praxis geben. Das Erickson’sche Bekenntnis zum Reichtum
seelischer Entfaltung spiegelte sich
auch im kulturellen Rahmenprogramm des Kongresses: So endete er
mit einer pantomimischen Darbietung, während an vorherigen Abenden Tanztheater oder auch die hypnotherapeutische Reflektion von
Männerfiguren in Wagners Ring des
Nibelungen auf dem Programm
standen. Hier vermittelte sich ganz
konkret, wie viel Spaß das Begehen
des Unbewussten machen kann. Ob
um die Ecke der bunten Wiese eben
doch die Landschaften mit den Abgründen und Tiefen warten, – das
stellt die Hypnotherapie nicht infrage. Sie behauptet nur, dass die Gegend, die sie für therapeutische Veränderung erkundet, ein überaus erfrischender und angenehmer Ort
sein kann, – und dies nicht nur für
Patienten, sondern auch für die sie
behandelnden Therapeuten.
■
Dr. phil. Vera Kattermann
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 5 | Mai 2011
AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT-/HYPERAKTIVITÄTSSTÖRUNG (ADHS)
ADHS wächst sich
nicht aus
Die Abgrenzung vor allem gegenüber Persönlichkeitsstörungen und eine erhebliche Komorbidität machen
die Diagnose einer ADHS bei Erwachsenen schwierig.
Nicht jeder Betroffene braucht eine Behandlung.
weifel an der früher gängigen Lehrmeinung, ADHS
verschwinde im Erwachsenenalter
von selbst, gibt es schon länger:
1988 berichtet eine Fallstudie, wie
ein Erwachsener mit dieser Störung erfolgreich mit Psychostimulanzien behandelt wird, 1995 erscheint die erste Monografie. Drei
Jahre später wird das Buch „Driven
to Distraction“ (E. Hallowell/J. Ratey) unter dem Titel „Zwanghaft
zerstreut“ ins Deutsche übersetzt
und erreicht hierzulande eine große
Leserzahl. Seitdem konfrontieren
Erwachsene, die meinen, an dieser
Störung zu leiden, Ärzte und Therapeuten mit ihrer Selbsteinschätzung. Doch die Abgrenzung vor
allem gegenüber Persönlichkeitsstörungen und eine erhebliche Komorbidität machen die Diagnose
schwierig. Zudem haben Erwachsene sich jahrzehntelang an die
Symptome der Störung angepasst.
Wie äußert sich ADHS im Erwachsenenalter, wie stellt man die
Diagnose, und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Z
Bereits die Prävalenz muss
geschätzt werden
Die Erkrankung ist zwar inzwischen
von den Fachgesellschaften als eigenständige Entität anerkannt. Doch
bereits bei der Frage, wie häufig sie
auftritt, ist man auf Schätzungen angewiesen. Eine Erstmanifestation
im Erwachsenenalter ist nicht wahrscheinlich. Somit kann die Diagnose bei Erwachsenen nur retrospektiv
gestellt werden, was besondere
Schwierigkeiten aufwirft. Studien
über die Störung im Kindesalter zeigen eine Häufigkeit zwischen fünf
und neun Prozent. Ein bis zwei Drittel von ihnen sollen als Erwachsene
weiterhin Symptome aufweisen, also etwa zwei bis vier Prozent. Unter
jungen erwachsenen Gefängnisinsassen fand man 2004 eine Prävalenz von 45 Prozent, wobei komorbide Störungen eine wesentliche
Rolle spielten.
Bei 15 bis 20 Prozent der betroffenen Erwachsenen persistiert die
komplette ADHS-Symptomatik, die
übrigen haben Restsymptome mit
mehr oder weniger ausgeprägten
Defiziten. Allgemein gilt: Hyperaktivität und Impulsivität gehen eher
zurück, während die Unaufmerksamkeit bleibt. Dabei ist die Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit
fragwürdig, weil Menschen mit
ADHS sich nur bei langweiligen
Tätigkeiten und Routinearbeiten
nicht konzentrieren können. Spannenden und interessanten Aufgaben
widmen sie sich dagegen intensiv
und anhaltend. Diese als „Hyperfokussierung“ bezeichnete Fähigkeit
ist eine Ressource – manche Betroffene entwickeln sich bei einer Sache, die sie fesselt, binnen kurzem
zu Experten.
In der ICD-9 von 1978 wird das
hyperkinetische Syndrom des Kindesalters erstmals als eigenständiges
Krankheitsbild benannt. Zu Störungen von Aufmerksamkeit und Konzentration können die Betroffenen
eine verzögerte Entwicklung und
Störungen des Sozialverhaltens aufweisen. Die revidierte Fassung des
DSM-III von 1987 verwendet den
Begriff „Attention Deficit/Hyperactivitiy Disorder“ (ADHD). Bereits
die erste Fassung (1980) hatte das
Persistieren von Symptomen bis ins
215
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Erwachsenenalter als „ADD Residual Type“ erfasst. DSM-IV unterscheidet schließlich drei Gruppen,
in denen die Symptome Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität
mit je unterschiedlicher Gewichtung
auftreten. Laut ICD-10 (1992) kann
die Diagnose hyperkinetisches Syndrom auch im Erwachsenenalter gestellt werden: „Die Kriterien sind
dieselben, jedoch müssen Aufmerksamkeit und Aktivität anhand entwicklungsmäßig angemessener Normen beurteilt werden.“
Keine spezifischen Kriterien
für Erwachsene
Bis heute gibt es keine spezifischen
Kriterien für Erwachsene. Die Beschreibungen „Flüchtigkeitsfehler
bei Schularbeiten“, „steht in der
Klasse häufig auf“, „hat Schwierigkeiten, ruhig zu spielen“, „klettert
ständig auf allen Gegenständen
herum“ werden für die meisten Erwachsenen so nicht mehr zutreffen.
Krause zufolge kann „aus dem Fehlen (. . .) einer offenkundigen Unruhe
mit ständigem Herumlaufen“ nicht
„geschlossen werden, dass sich die
Störung ‚ausgewachsen‘ hat“ (1).
Meistens suchen Erwachsene mit
ADHS einen Psychiater oder Therapeuten wegen depressiver Verstimmung, innerer Unruhe oder Angst
auf. Manche berichten von dem Gefühl, den Überblick über ihr Leben
verloren zu haben. Erst gezieltes
Nachfragen im strukturierten Interview oder mittels eines Fragebogens
ergibt etwa eine beeinträchtigte
Fokussierung der Aufmerksamkeit,
Vergesslichkeit, Desorganisiertheit,
Impulsivität, Stimmungsschwankungen und Schwierigkeiten mit Routine und Disziplin. Meistens bleiben diese Menschen hinter ihren
Möglichkeiten zurück, nicht wenige
sind arbeitslos. Von ADHS betroffene Erwachsene gelten als chaotisch, launenhaft und „schusselig“ –
Eigenschaften, die nach allgemeinem Verständnis der Kontrolle durch
den Willen unterliegen. Oft werden sie deshalb jahrelang abgewertet und stigmatisiert. „Du könntest
schon, wenn du nur wolltest“ ist
vielen von ihnen „zum lebenslangen Mantra geworden“ (2). Aus diesen Erfahrungen resultiert fast im-
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mer eine negative Selbsteinschätzung. Das Erleben eigener Unzulänglichkeit führt zu einem verminderten Selbstwertgefühl. Dabei
verfügen ADHS-Patienten auf der
anderen Seite oft über viel Energie.
Sie sind neugierig und bereit, Risiken einzugehen. Ihre Reizoffenheit
geht einher mit Empathie, Sensibilität, Fantasie und rascher Auffassung
von Neuem.
Umwelteinflüsse modifizieren
die Ausprägung der Störung
1937 entdeckt der US-amerikanische Kinderpsychiater Charles
Bradley zufällig die paradoxe Wirkung von Stimulanzien bei Kindern mit „Minimal brain damage“.
Daraus leitet man ab, dass den
ADHS-Symptomen eine Störung
der biogenen Amine Dopamin
und Noradrenalin zugrunde liegt
(„Katecholaminhypothese“). Zwillingsstudien zeigen eine höhere
Konkordanzrate für ADHS bei
eineiigen Zwillingen im Vergleich
mit zweieiigen Zwillingen. Doch
sind zur Manifestation einer ADHS
zahlreiche Genanomalien erfor-
derlich, die jeweils nur einen kleinen Ausschnitt des klinischen Bildes mitbedingen. Umwelteinflüsse
modifizieren die Ausprägung der
Störung. Ein niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburtlichkeit, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sowie mütterlicher Nikotinund Alkoholkonsum erhöhen das
Risiko, diese Erkrankung zu entwickeln.
Unter welchen Umständen bestehen nun ADHS-Symptome bis ins
Erwachsenenalter fort? Vor allem
psychische Erkrankungen der Eltern,
allen voran dissoziale Persönlichkeitsstörungen und affektive Störungen, tragen dazu bei. Laut Krause
herrscht in Familien, in denen die Eltern von ADHS betroffen sind, ein
hohes Maß an Aggression und Gewalt. Beim Versuch, die Diagnose
ADHS im Erwachsenenalter zu stellen, stößt man auf zahlreiche Überschneidungen mit anderen psychischen Erkrankungen. Vor allem
affektive Störungen, Angststörungen
und Persönlichkeitsstörungen sind
differenzialdiagnostisch von Bedeutung. Für die Diagnose einer BorderDeutsches Ärzteblatt | PP | Heft 5 | Mai 2011
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und Persönlichkeitsstörungen sowie
Abhängigkeitserkrankungen.
Etwa 50 Prozent der ADHS-Betroffenen betreiben einen mehr
oder weniger ausgeprägten Substanzmissbrauch. Unter abhängigkeitserkrankten Jugendlichen hat
jeder Fünfte ADHS. Neugier und
Risikobereitschaft lassen Jugendliche mit ADHS häufiger und früher zu entsprechenden Substanzen
greifen. Mehrfachabhängige konsumieren mehr Substanzen als
Suchtkranke ohne ADHS. Dabei
wird neben Alkohol vor allem Cannabis konsumiert, gefolgt von Kokain und Stimulanzien. Oft bildet
der Substanzkonsum bei unbehandelten ADHS-Patienten den Versuch einer Selbsttherapie. Betroffene schildern eindrucksvoll, wie sie
mit Hilfe etwa von Kokain ihre
Überaktivität vermindern und anfallende Aufgaben bewältigen.
Foto: ddp
Methylphenidat jetzt auch für
Erwachsene zugelassen
Desorganisiertheit, Vergesslichkeit, Schwierigkeiten mit Routine und
Disziplin sind typische Symptome einer ADHS im Erwachsenenalter.
line-Persönlichkeitsstörung sind zum
Beispiel fünf von neun Kriterien erforderlich. Fünf von diesen Kriterien
können aber auch bei ADHS-Patienten vorkommen. Die übrigen, etwa
wiederholtes selbstverletzendes Verhalten, Suiziddrohungen und suizidale Handlungen, chronische Gefühle von Leere und vorübergehende
paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome findet man bei
ADHS-Patienten eher nicht und machen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung wahrscheinlich. Doch
nicht immer gelingt die Unterscheidung. 60 Prozent der BorderlinePatienten sollen in ihrer Kindheit
ADHS-Symptome zeigen – ein Hinweis darauf, dass sich in dieser
Gruppe vermutlich etliche ADHSBetroffene befinden (3).
Bereits 1992 finden Biederman et
al. heraus, dass Erwachsene mit
ADHS an zwei oder mehr komorbiden Störungen leiden (4). Das überrascht nicht, denn ADHS ist ein
Risikofaktor für zahlreiche andere
psychische Erkrankungen, ausgenommen die Schizophrenie. Im Vordergrund stehen Depression, Angst-
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Nach DSM-IV-Kriterien und deren
Anpassung an das Erwachsenenalter erfolgt die Diagnose häufiger als
nach der ICD-10. Grundsätzlich
gilt: Nicht jeder Erwachsene mit
ADHS braucht eine Behandlung.
Doch gegen Ende des dritten Lebensjahrzehnts fällt es diesen Menschen zunehmend schwerer, vorhandene Defizite auszugleichen.
Unzulänglichkeitsgefühle führen
zu einer depressiven Verstimmung
und zur ersten ärztlichen oder
therapeutischen Konsultation. Den
Leitlinien zufolge besteht eine Behandlungsindikation, wenn durch
Symptome der ADHS ein Lebensbereich schwerer oder mehrere Lebensbereiche leichter beeinträchtigt
sind. Am Anfang der Therapie steht
die Aufklärung. Durch eine Kombination von geeigneten Medikamenten und Psychotherapie lassen sich
bei den meisten Patienten die
Symptome bessern. Psychotherapie
ohne Medikamente scheint nur bei
leichter Ausprägung der Störung erfolgreich zu sein.
Die Medikation der ersten Wahl
ist Methylphenidat. Bisher erfolgte
diese Therapie nach den Kriterien
des „off-label use“. Denn im Erwachsenenalter war nur der selekti-
ve Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin zugelassen,
sofern er bereits vor dem 18. Lebensjahr verordnet wurde. Seit
April 2011 dürfen von ADHS betroffene Erwachsene in Deutschland auch mit Methylphenidat behandelt werden. Krause zufolge ist
die klassische Psychoanalyse meistens nicht indiziert, vor allem
schwerer betroffene und differenzierte Menschen können jedoch von
einer tiefenpsychologisch fundierten oder psychoanalytisch-interaktionellen Therapie profitieren.
Erste Studien belegen einen guten Effekt der Verhaltenstherapie.
Eine Gruppentherapie über zwölf
Sitzungen integriert Elemente der
Dialektisch Behavioralen Therapie
(DBT) wie Achtsamkeitstraining,
Stresstoleranz, Gefühlsregulation
und zwischenmenschliche Fertigkeiten (5, 6). In einem multimodalen Therapiekonzept sind zudem
Sport sowie Ausbildungs- und Berufsberatung hilfreich. Bei der Behandlung einer Suchterkrankung
sollte eine komorbide ADHS einbezogen werden (7).
■
Christof Goddemeier
LITERATUR
1. Krause J, Krause K-H: ADHS im Erwachsenenalter. 3. Auflage. Stuttgart: Schattauer
2009.
2. Werlen B: ADHS im Erwachsenenalter und
die Auswirkungen auf Partnerschaft und
Beziehung. Tönning: Der Andere Verlag
2009.
3. Fossati A, et al.: History of childhood attention deficit/hyperactivity disorder symptoms
and borderline personality disorder: A controlled study. Comprehensive Psychiatry
2002; 43: 369–77.
4. Biederman J, et al.: Further evidence for
family-genetic risk factors in attention deficit hyperactivity disorder. Patterns of comorbidity in probands and relatives psychiatrically and pediatrically referred samples. Archives of General Psychiatry 1992;
49: 728–38.
5. Hesslinger B, Philipsen A, Richter H: Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter. Ein Arbeitsbuch. Göttingen: Hogrefe
2003.
6. Philipsen A, et al.: Structured group psychotherapy in adults with attention deficit
hyperactivity disorder: results of an open
multicenter study. Journal of Nervous and
Mental Disease 2007; 195: 1013–9.
7. Philipsen A: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und Sucht. Vortrag Suchtforum, Zentrum für Psychiatrie Emmendingen, 27. Oktober 2010.
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