Engerlbengerl - Servus Magazin

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EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE
Engerlbengerl
Im Himmel ist die Hölle los: Jemand hat die Schaukelpferde
in Schaukelzebras verwandelt, und der Polarstern ist weg.
Wenn da nicht Lausengel Raphael die Finger im Spiel hatte.
TEXT: TOBIAS MICKE‚ILLUSTRATIONEN: JULIA LAMMERS
B
ei uns auf Erden hätte man zu so einem Kind
Rotzpipn gesagt. Oder Flegel. Oder zumindest Lausbua. Oder sonst etwas, was einem im Ärger über die
Lippen kam – und das man natürlich sofort bereute.
Aber oben im Himmel durften die Engel so etwas
nicht laut sagen. Sonst hätten sie von Petrus eine
Verwarnung gekriegt. Oder noch schlimmer: einen
schwarzen Punkt in ihrem Engel-Führerschein, der
ihnen das freie Fliegen erlaubte.
Jedenfalls konnte Raphael (in irdischer Zählweise
etwa 6 Jahre alt und mit einem schwarzen Lockenkopf ausgestattet), wenn ihm fad war, eine mordsmäßige Rotzpipn sein. Die großen Engel sagten
dann gütig, wenn auch ein wenig säuerlich lächelnd,
„Engerlbengerl“ zu Raffi.
Raffi konnte laufen, aber noch nicht gescheit fliegen
– aerodynamisch waren seine Flügel dafür noch zu
klein –, und das zipfte ihn mächtig an. Denn jetzt, vor
Weihnachten, da sausten und brausten alle anderen
im Himmel nur so durch die Luft: All die Heerscharen
von Engeln mussten dem Christkind helfen, die Wünsche der Erdenkinder in Erfüllung zu bringen und
überhaupt alles für das große Fest vorzubereiten.
Geschenke mussten besorgt oder gebastelt, dann
hübsch eingepackt, verschnürt und adressiert werden. Körbe voll duftender Kekse wurden gebacken,
schillernde Weihnachtskugeln aus Glas geblasen.
Und auch die nicht materiellen Wünsche – also zum
Beispiel, dass Papi und Mami aufhören zu streiten,
dass Anna endlich den Freundschaftsbrief von Peter
findet, den er ihr heimlich in die Jacke gesteckt hat,
oder Gesundheit für die Oma und Weltfrieden für
alle – versuchten die Engel einigermaßen in Erfüllung gehen zu lassen.
Das mit dem Weltfrieden war natürlich besonders
schwierig. Und es machte es nicht gerade leichter,
dass Raffi überall für Unordnung und Chaos sorgte.
In der Adressierungsstube hatte er sich einen fetten,
schwarzen Filzstift geschnappt und damit begonnen, im Bastelsaal die Geschenke zu „verschönern“:
Statt Schaukelpferden stand dort jetzt eine Herde
von Schaukelzebras, die Teddys hatten schwarze
Ringe um die Augen und schauten drein wie unausgeschlafene Pandabären, und die handgeschnitzten
Kasperlpuppen sahen mit aufgemaltem Bart und
Brille aus wie eine Mischung aus Räuber Hotzenplotz und Großmutter.
Aber das war noch nicht alles. In der Mittagspause
hatte er mit einer großen Schere die violetten Advent-Arbeitskleider der beiden Engel Serafina und
Cherubina in löchrige Scherenschnitte verwandelt,
sodass sich diese nicht mehr jugendfrei vor die Himmelstür wagen konnten. Und in der Verpackungs-
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abteilung hatte er die Engel Indriel, Samiel und Uriel heimlich mit einer Packschnur an den Füßen
zusammengebunden. Als sie dann wie Dominosteine umgefallen waren und Raffi kichernd davonlaufen wollte, verwickelte er sich derartig in der
Schnur, dass ihn die gütig, wenn auch ein wenig
säuerlich lächelnden Engel mit der Schere befreien
mussten. Dabei schnitten sie ihm ganz aus Versehen
ein paar seiner schönen schwarzen Locken ab.
Als Raffi dann noch in der Versandabteilung den
Stempel für die Grußkarten mit der Aufschrift „Frohe
Weihnachten“ gegen den mit „Frohe Ostern“ tauschte
und Erzengel Gabriel erst draufkam, nachdem schon
drei Lieferungen bei der irdischen Post abgegeben
worden waren, war das
himmlische Maß voll.
Denn so würde man bis
zum großen Tag niemals fertig werden.
Fest an ihrem Platz und funkeln um die Wette. Das
geschah stets unter großer Geheimhaltung und in
einem besonderen Raum, damit keiner der Sterne
abhanden kam und der kostbare Sternenstaub nicht
in falsche Hände gelangte.
Aber alles, was geheim war, war natürlich besonders
spannend für Raffi. Unbemerkt schwindelte er sich
unter dem wallenden rosa Mantel von Serafina in
den geheimen Raum und war nun, als alle großen
Engel zur Weihnachtsbetriebsfeier geflogen waren,
wie hypnotisiert: Unzählige Sterne leuchteten sauber
geputzt in mehreren Reihen auf einem langen Tisch
auf samtenen Kissen, und selbst die, die noch nicht
fertig poliert waren, schillerten wunderbar. Kein
Edelstein kann so funkeln wie ein Stern, keine
Taschenlampe so hell
leuchten. Und was das
Erstaunlichste war: Raffi
hatte sich die Sterne immer riesig groß und heiß
vorgestellt und gedacht,
dass sie am Himmel nur
so klein aussahen, weil
sie so unheimlich weit
weg waren. Tatsächlich aber
passten die meisten Sterne wunderbar in eine Kinderhand, und sie waren herrlich warm.
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„Raffi schwindelte sich
unter Serafinas Mantel in
den geheimen Raum.“
Raffi bekam von den immer noch gütig, wenn
auch säuerlich lächelnden Engeln Stubenarrest. Und das bis zum
3. Adventsonntag. Das ist
der Freudensonntag im Advent, wo alle Engel Rosa
tragen, und da wollten die Engel nicht so sein. Obwohl Samiel, einer der gefallenen Engel, Bedenken
äußerte, dass das vermutlich keine so gute Idee sei,
jetzt, in der heißen Phase vor dem Heiligabend.
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Am Montag drauf war Sternenputztag. Jedes Jahr
am Sternenputztag verhüllen die Engel den Himmel
mit einer dicken Wolkendecke, sodass man von der
Erde aus keinen Stern sehen kann. Eine tolle Tarnung, um einmal alle Sterne vom Himmel zu holen,
sie vom Sternenstaub des vergangenen Jahres zu
befreien und ordentlich auf Hochglanz zu polieren.
Dann sind sie alle wieder rechtzeitig zum großen
Raffi konnte nicht widerstehen. Er schob eine Handvoll kleinerer Sterne in die linke Tasche seines
Engelsgewands und einen besonders großen, hell
leuchtenden Stern in die rechte Tasche. Bei so vielen, geradezu unzähligen Sternen würde niemand
die paar vermissen, und Raffi könnte sein Engelskinderzimmer damit schmücken. Dann huschte er
unbemerkt aus dem Raum …
Am nächsten Tag war im Himmel die Hölle los!
Die Engel hatten begonnen, die blitzblank
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geputzten Sterne wieder an ihre Plätze am Firmament zurückzufliegen. Und natürlich war irgendwann aufgefallen, dass welche fehlten. Denn jeder
Stern hat am Himmel seinen ganz eigenen Platz:
Im Sternbild Schwan fehlte ein Stück vom Schnabel,
den Fischen fehlten mehrere Schuppen und dem
Löwen sogar ein Auge. Das wäre vielleicht unten auf
der Erde nicht sofort jedem aufgefallen. Aber das
Schlimmste war: Der Polarstern war weg!
Der Polarstern gehört bekanntlich zur Deichsel des
Kleinen Wagens und hilft Seefahrern und Wanderern, sicher nach Hause zu finden. Nicht auszudenken, wenn der nicht mehr auftauchte! Hektisch wurde überall gesucht. Gefunden wurde nichts. Und
langsam machte sich Verzweiflung breit, denn man
konnte ja auch nicht ewig die dicke Wolkendecke
über der Erde hängen lassen.
Niemand kam auf die Idee, in Raffis Zimmer nachzusehen, wo die stibitzten Sterne tagsüber unsichtbar waren und nachts ein herrlich weiches Einschlaflicht erzeugten. Aber nachdem sich Raffi
anfangs sehr über seinen Streich gefreut hatte, bekam er zunehmend ein sehr, sehr schlechtes Gewissen. Wenn er jetzt versuchte, die Sterne zurückzubringen, würde er bestimmt erwischt werden,
denn wegen der verschwundenen Sterne hielten die
Engel nachts Wache und suchten rund um die Uhr.
Nach einer schlaflosen Nacht, in der ihm die funkelnden Sterne über seinem Bett gar keinen Spaß
mehr machten, beschloss Raffi, das Christkind um
Hilfe zu bitten. Das Christkind war nicht nur bekannt für seine Güte und seine alles verzeihende
Freundlichkeit, es war auch ausgesprochen schlau.
Raffi druckste bei seinem Geständnis ordentlich herum, zeigte dem Christkind, wie er sich in den geheimen Sternenputzraum geschummelt hatte und sagte
am Ende „Entschuldigung“ und „Es tut mir leid“. Und
nachdem das Christkind ihm sehr ernst zugehört hatte und dann noch für Raffis Gefühl unendlich lang
schwieg, lächelte es. „Wir bekommen das schon wieder hin, Raffi“, sagte es beruhigend. „Aber Menschen
und Engel, auch so kleine wie du, sollten für das, was
sie tun, geradestehen. Das heißt, dass du das, was du
angerichtet hast, auch wieder in Ordnung bringst, so
gut du kannst. Flieg rauf zu den Sternen, und bring
deine Zimmerdekoration zurück an ihren Platz.
Dann bleibt die Sache unser kleines Geheimnis.“
Raffi war einerseits sehr erleichtert über die Antwort des Christkinds, andererseits hatte er jetzt ein
neues Problem. „Aber ich kann ja noch nicht richtig
fliegen“, sagte er, „nur ein paar Meter flattern, so
ähnlich wie ein Huhn.“
Als Raffi das mit dem Huhn sagte, musste das
Christkind kichern. Und als Raffi ihm noch zeigte,
wie bei ihm das Hühnergeflatter aussah, musste
das Christkind schallend lachen. Dann aber beugte
es sich hinunter, nahm vom Boden des geheimen
Raums eine Handvoll Sternenstaub, der wegen des
ganzen Chaos noch liegen geblieben war, und pustete ihn über Raffis kleine Flügel.
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Raffi fühlte sich augenblicklich leicht wie eine Feder.
„Probier’s jetzt einmal!“, sagte das Christkind und
zwinkerte ihm zu. Ungläubig breitete Raffi seine Flügelchen aus, flatterte ein wenig unsicher. Und siehe
da, er konnte tatsächlich fliegen! Viel besser als jedes Huhn. Raffi versprach dem Christkind, alles wiedergutzumachen, und begann sofort mit der Arbeit.
Die anderen Engel waren so beschäftigt, dass keiner
das Fehlen des Engerlbengerls bemerkte. Und so war
Raffi bis zum Mittag des
24. Dezember fertig, obwohl die viele Fliegerei,
vom Schwan zu den Fischen, zum Löwen und
schließlich zum Kleinen
Wagen, mächtig anstrengend gewesen war.
Aber Raffi hatte dem
Christkind etwas versprochen, und außerdem fand er das Fliegen,
auch wenn es vorerst nur
für diese Geheimmission war, ziemlich cool.
„Oh, ein Wunder!“ rief das Christkind, damit sich
niemand zu sehr wunderte, wer die Sterne wieder
zurückgebracht hatte. Und nach einem Freudentänzchen, bei dem sich alle Engel an den Händen
nahmen, mit wallenden Kleidern im Kreis wirbelten
und „Halleluja!“ riefen, lüfteten sie die dicke Wolkendecke wieder. Jetzt konnte man auch von der
Erde aus endlich wieder den Sternenhimmel sehen.
Weil alle so erleichtert waren, wurde es ein sehr
ausgelassenes Weihnachtsfest im Himmel, fast
schon eine Weihnachtsparty, wenn man das bei
würdevollen Engeln so
sagen kann. Allen Engeln fiel auf, dass das
Christkind hin und wieder grundlos vor sich
hin kicherte. Aber nur
Samiel, einer der gefallenen Engel, bemerkte
in all dem Trubel, dass
Raffi an diesem Abend seltsam still war. „Nun gut“,
dachte Samiel gütig, aber ein wenig säuerlich lächelnd, „das Kind wird vernünftig, dann wird ja
doch noch ein würdevoller Engel aus ihm.“
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„Allen Engeln fiel auf, dass
das Christkind grundlos
vor sich hin kicherte.“
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Als es am Nachmittag des 24. Dezember dämmerte
und die Sterne einer nach dem anderen zum Vorschein kamen, schauten alle Engel staunend nach
oben: Die fehlenden Sterne waren wieder da! Der
Löwe hatte sein Auge wieder, die Fische ihre Schuppen, der Schwan seinen Schnabel, und selbst der
Polarstern stand wieder am Himmel – auch wenn er
bei genauerem Hinsehen nicht ganz sauber war.
Dabei war Raffi von seiner Geheimmission nur
überirdisch müde und hätte sich am liebsten gleich
nach dem Abendessen in sein Himmelbett gekuschelt. Aber das wäre natürlich ausgerechnet am
Heiligen Abend äußerst verdächtig gewesen.
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