25.01./26.01.16 Von welchen religiösen Voraussetzungen lebt der moderne Rechtsstaat? Jürgen Mohn, Prof. Dr. Zusammenfassung Der Titel meines Vortrags bezieht sich auf den Aufsatz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, einem deutschen Staatsrechtler und Rechtsphilosophen, über „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“. In diesem Aufsatz, der den modernen Staat als ein Ergebnis und Produkt der Säkularisation versteht, befindet sich ein berühmter und vieldiskutierter Satz über das Verhältnis von Religion und modernem Staat. Dieses sogenannte Böckenförde-Diktum besagt: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. In dem Vortrag soll das Diktum aufgegriffen werden und als Ausgangspunkt von Überlegungen dienen, die sich einer religionswissenschaftlichen Perspektive verdanken. Die Gegenthese, die ich vorzuschlagen gedenke, besteht darin zu zeigen, dass der moderne Rechtsstaat auf zwei Ebenen seine eigenen religiösen Voraussetzungen im Sinne seiner Bindekräfte garantieren können müsse: Erstens liegen auch dem modernen Staat absolute Werte zugrunde, die selbstbezüglich nicht hinterfragbar gesetzt sind, und er hat zu ihrer Aufrechterhaltung eigene Symbole, Rituale, Verfahren und Gewalten zur Verfügung. Zweitens ist der moderne Staat die oberste Instanz zur Religion im Sinne der partikularen Religionsgemeinschaften und ‚verwaltet’ diese. Jede Religion, die als Religion auftreten will, muss sich in das Rechtsgefüge und in die politischen und rechtlichen Prozesse des Staates einfügen. Ich gehe in meinem Vortrag folgendermassen vor, um am Ende ausführlicher auf diese Thesen zurückzukommen: 1. Die Konzeption des Gesellschaftsvertrages von Jean-Jacques Rousseau, die das Volk zum Souverän erhebt, beharrte bereits darauf, dass jeder Staat seine eigene Religion, seine „religion civile“, haben müsse. 2. Die Französische Revolution hat sich demgemäss unter Rückgriff auf Rousseau ihre eigene Religion geschaffen und dabei das Element, das auch heute den Staat inhaltlich bestimmt, als sakral und absolut inauguriert, also in Kraft gesetzt: Die Menschenrechte und den sie garantierenden Gesellschaftsvertrag (Demokratie). Und genau diese dienen als gesetzliche Grundlage auch dem modernen Staat und ihnen werden alle anderen partikularen Religionsausübungen unterstellt. 3. Die Säkularisierungsthese, die Böckenförde zur Grundlage seines Aufsatzes und zur Voraussetzung seines Diktums macht, ist aus diesem Grund kritisch zu hinterfragen. 4. Die Böckenförde-These muss von daher nochmals anders interpretiert werden und umgedreht – invertiert – werden. Denn es gibt eher rechtliche Voraussetzungen der Religionsausübung im modernen Rechtsstaat. Und es muss neu im Anschluss an Rousseau gefragt werden, welche Voraussetzungen des modernen Staates aus welchem Grund religiös genannt zu werden verdienen. 5. Fünftens sollen schliesslich die religiösen Voraussetzungen des Staates kurz im Sinne einer doppelten These identifiziert werden. Dabei thematisiere ich den modernen Staat im Verhältnis zur Religion nicht aus rechtswissenschaftlicher, sondern aus SeniorenUni. Ein Angebot der Volkshochschule beider Basel und der Universität Basel Volkshochschule beider Basel, Kornhausgasse 2, CH-4051 Basel T +41 (0)61 269 86 66, F +41 (0)61 269 86 76, [email protected], www.vhsbb.ch religionswissenschaftlicher Sicht. Folgende abschliessenden Thesen werden ausformuliert und zur Diskussion gestellt: 1. Die Menschenrechte gewähren Grundrechte, die im Sinne des öffentlichen Interesses über partikulare Religionen anzusetzen sind. Konkrete Glaubensüberzeugungen und die Ausübung von religiösen Handlungen sind so weit gewährleistet, dass die Grundrechte anderer durch diese nicht in Frage gestellt werden. Wenn wir unter Religion eine absolute Setzung und Legitimation von menschlichem Handeln und Denken verstehen, dann ist es gerade die gesetzliche Verfassung des modernen Rechtsstaats, also das Rechtssystem und dessen Umsetzung, dessen Instanzen, dessen Verfahren, dessen politische Aushandlungen, die über Religion und deren Ausübung gesetzt sind. Die oberste Religionsinstanz ist also die Verfassung wie auch bei Rousseau es der Gesellschaftsvertrag war. Die konkreten Religionen sind diesem untergeordnet. Es gibt also religiöse Voraussetzungen, von denen der moderne Rechtsstaat lebt: nämlich seine eigene Absolut-Setzung, so dass er den Absolutheitsansprüchen partikularer Religionen übergeordnet ist. 2. Die konkreten Religionen selbst leben von diesen zivilreligiösen Voraussetzungen des Rechtsstaates: ihre Ausübung in einer religionspluralen Demokratie ist abhängig von den zivilreligiösen Grundlagen des Rechtsstaates. Religionen im Sinne von Religionsgemeinschaften, aber auch im Sinne von individuellen Religionsausübungen, sind also von Voraussetzungen abhängig, die sie selbst nicht mehr garantieren können: von denen der Verfassung und der Rechtsprechung. Literatur und Internetlinks Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart: Reclam Verlag 1977. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, 42-64 Kontakt [email protected]