Die Demokratietheorie von Jean-Jaques Rousseau

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Die Demokratietheorie von Jean-Jaques Rousseau
1 Der identitäre Demokratieansatz von Jean-Jacques Rousseau
A) Biographische Aspekte und Zeitumstände
B) Das Menschenbild / Naturzustand
C) Die grundlegende Frage bei der Errichtung einer bürgerlichen
Gesellschaft
D) Die Lehre von der Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft
E) Der allgemeine Wille (volonté générale) und der Einzelwille (volonté
particullière)
F) Die Verbindlichkeiten des allgemeinen Willens / Willensbildung
G) Die Identitätslehre / Staatsauffassung
2 Kritik an Rousseaus Demokratietheorie
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Der identitäre Demokratieansatz von Jean-Jacques Rousseau
A) Biographische Aspekte und Zeitumstände
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der sich stolz als "Bürger von Genf"
tituliert... ist in der Spätzeit des Absolutismus geboren. Die Staatstheorien
eines Bodin und eines Hobbes waren aus dem Unbehagen an der inneren
Zerrissenheit politischer Gemeinschaften geboren. Jetzt entstanden die
zukunftsweisenden Staatstheorien aus dem Unbehagen am Absolutismus.
Die polizeistaatliche Bevormundung der Untertanen, die sich bis in
persönlichste Bereiche erstreckte, und das System der Privilegien ...
weckten den Ruf nach Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit.
(Reinhold Zippelius, Geschichte der Staatsideen, München 1985, S. 102)
B) Das Menschenbild / Naturzustand
"Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich
für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist
dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht.. ."
(Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1977, 1. Buch, 1. Kp.)
" ... Laßt uns daher schließen, daß der wilde Mensch, der in Wäldern
herumirrt ohne Fertigkeiten, ohne Sprache, ohne Wohnhaus, ohne Krieg
und ohne Verbindung, ohne seinesgleichen zu bedürfen, und ohne
Begierde, ihnen Übles zuzufügen.... nichts anderes als seinewahren
Bedürfnisse fühlt..." Die Betrachtung des Naturzustandes zeigt, "daß sogar
die natürliche Ungleichheit lange nicht so viel Wirklichkeit und Einfluß in
diesem Zustand hat, wie unsere Schriftsteller uns einreden wollen...'
(Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der
Ungleichheiten unter den Menschen, in: Schriften 1, Frankfurt 1981, S.
225 f.)
C) Die grundlegende Frage bei der Errichtung einer bürgerlichen
Gesellschaft
".. Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen
gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen
Mitglieds verteidigt und schützt und durch diedochjeder, indem ersich
mitallen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie
zuvor. Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der
Gesellschaftsvertrag darstellt."
(Gesellschaftsvertrag, 1- Buch, 6. Kp.)
D) Die Lehre von der Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft
" ... Denn die Ausgangslage ist, da jeder sich voll und ganz gibt, f ür alle
die gleiche, und da sie f ür alle gleich ist, hat keiner ein Interesse daran,
sie für die anderen beschwerlich zu machen..."
(Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kp.)
Unter Gleichheit ist zu verstehen, "... daß ferner kein Staatsbürger so reich
sein darf, um sich einen anderen kaufen zu können, noch so arm, um sich
verkaufen zu müssen".
(Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 1. Kp.)
E) Der allgemeine Wille (volonté générale) und der Einzelwille (volonté
particullière)
" ... Wenn man also beim Gesellschaftsvertrag von allem absieht, was
nicht zu seinem Wesen gehört, wird man finden, daß er sich auf folgendes
beschränkt: Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und
seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und
wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen
auf!'
(Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kp.)
"Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet
das gesellschaftliche Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in
dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben.
Nun darf aber die Gesellschaft nur gemäß diesem Gemeininteresse regiert
werden!'
(Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 1. Kp.)
"Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen
und dem Gemeinwillen; dieser sieht nur auf das Gemeininteresse, jener
auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von
Sonderwillen: aber nimm von ebendiesen das Mehr und das Weniger weg,
das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der
Gemeinwille."
(Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kp.)
F) Die Verbindlichkeiten des allgemeinen Willens / Willensbildung
"Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er
stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt,
daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der
gesamten Körperschaft gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß
man ihn zwingt, frei zu sein
(Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 7. Kp.)
"Aus dem Vorhergehenden folgt, daß der Gemeinwille." immer auf dem
rechten Weg ist und auf das öffentliche Wohl abzielt: woraus allerdings
nicht folgt, daß die Beschlüsse des Volkes immer gleiche Richtigkeit
haben. Zwar will man immersein Bestes, aber man sieht es nicht immer.
Verdorben wird das Volk niemals, aber oft wird es irregeführt, und nur
dann scheint es das Schlechte zu wollen."
(Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kp.)
"Wenn man in der Volksversammlung ein Gesetz einbringt,fragt man
genau genommen nicht danach,ob die Bürger die Vorlage annehmen oder
ablehnen, sondern ob diese ihrem Gemeinwillen entspricht oder nicht;
jeder gibt mit seiner Stimme seine Meinung darüber ab, und aus der
Auszählung der Stimmen geht die Kundgebung des Gemeinwillens
hervor. Wenn also die meiner Meinung entgegengesetzte siegt, beweist
dies nichts anderes, als daß ich mich getäuscht habe und daß das, was ich
für den Gemeinwillen hielt, es nicht war. Wenn mein Sonderwille gesiegt
hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre deshalb
nicht'frei gewesen."
(Gesellschaftsvertrag, 4. Buch, 2. Kp.)
G) Die Identitätslehre / Staatsauffassung
"Ich behaupte deshalb, daß die Souveränität, da sie nichts anderes ist als
die Ausübung des Gemeinwillens, niemals veräußert werden kann und daß
der Souverän, der nichts anderes ist als ein. Gesamtwesen, nur durch sich
selbst vertreten werden kann; die Macht kann wohl übertragen werden,
nicht aber der Wille."
(Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 1. Kp.)
" ... Was ist also im eigentlichen Sinn ein Akt der Souveränität? Es ist
keine Übereinkunft des Überlegenen mit dem Unterlegenen, sondern eine
Übereinkunft des Körpers mit jedem seiner Glieder: eine rechtmäßige
Übereinkunft, weil sie den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat, eine
billige Übereinkunft, weil sie allen gemeinsam ist, eine nützliche
Übereinkunft, weil sie kein anderes Ziel haben kann als das allgemeine
Wohl, eine dauerhafte Übereinkunft, weil sie die öffentliche Gewalt und
die höchste Macht zum Bürgen hat. Insoweit die Untertanen nur derartigen
Übereinkünften unterworfen sind, gehorchen sie niemandem außer ihrem
eigenen Willen;..."
(Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 4, Kp.)
Kritik an Rousseaus Demokratietheorie
In Rousseaus Theorie sind die Keime für zwei gänzlich verschiedene
Entwicklungen enthalten: Sein leidenschaftliches Eintreten f ür die
Beteiligung des ganzen Volkes an der politischen Gewalt gab dem
Gedanken der Volkssouveränität in Europa neue Kraft... Doch zugleich
sind in Rousseaus Demokratiebegriff freiheitsgefährdende Elemente
enthalten, die ihm selbst offenbar nicht bewußt waren, die aber von
späteren Diktatoren zur Errichtung einer Scheindemokratie mißbraucht
wurden: Die Behauptung, daß es einen unfehlbaren Gemeinwillen gäbe,
die Machtkonzentration bei der Volksversammlung, das Fehlen
unantastbarer Grundrechte.
Rousseaus "volonté générale" erhebt den Anspruch, ähnlich wie ein
Naturgesetz absolut gültig und richtig zu sein. Wie wird dieser unfehlbare
Gemeinwille ermittelt? Nach Rousseau durch die Diskussion aller Bürger,
sofern sie nur gutwillig und gut unterrichtet sind. Was aber, wenn der von
Rousseau angenommene Ausgleich der Sonderinteressen nicht stattfindet
und keine Einstimmigkeit erzielt wird? Dann ist für Rousseau die
Minderheit im Irrtum. Wenn sie diesen Irrtum nicht einsieht, muß sie zur
Unterwerfung unter den Mehrheitswillen gezwungen werden. Wer an die
"volonté générale" glaubt, kann abweichende Meinungen nicht dulden;
denn für ihn ist der Wille der angeblich gut unterrichteten und am
Gemeinwohl orientierten Mehrheit unfehlbar.
Der Anspruch der Mehrheit, den unfehlbaren Gemeinwillen zu vertreten,
wird noch gefährlicher dadurch, daß Rousseau der Minderheit keine
Möglichkeit gewährt, lebenswichtige Interessen zu schützen. Er kennt
keine dem Gemeinwillen entzogenen, unantastbaren Menschenrechte. Er
glaubt, in der Volksversammlung würden sich immer Vernunft und
Gerechtigkeit durchsetzen, weil es ihm undenkbar erscheint, daß das Volk
sich selbst unvernünftige und ungerechte Gesetze geben könnte. So hält er
Begrenzungen des Volkswillen, etwa durch das Prinzip der
Gewaltenteilung und durch unantastbare Menschenrechte, für unnötig.
(Hans Hermann Hartwich [Hrsg.] Politik im 20. Jahrhundert,
Braunschweig 1984, S. 67)
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