Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen

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Professor Dr. Rolf Gröschner
Sommersemester 2015
Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen
Methoden- und Argumentationslehre
§ 6 Klassiker der rechts- und staatsphilosophischen Aufklärung
I.
Begriff der „Aufklärung“
1. Die klassische Formel Kants
2. Pico della Mirandola als Aufklärer der Renaissance
a) Der Mensch als „plastes et fictor“ seiner selbst
b) Menschenwürde als „Entwurfsvermögen“
II. Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau
1. Der Gesellschaftsvertrag bei Hobbes
a) Das Gedankenexperiment des Naturzustands
b) Die Beendigung des Naturzustands durch die Konstituierung des Staates
2. Rousseaus Philosophie der Republik
a) Titel und Untertitel des Contrat Social als Programm
b) Der Contrat Social als Republiktheorie
c) Die Transformation der natürlichen in die republikanische Freiheit
III. Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel
1. Kants Kritische Philosophie
a) Begriff der „Kritik“
b) Begriff der „Transzendentalphilosophie“
c) Kants Freiheitsbegriff
d) Der kategorische Imperativ
2. Hegels Dialektische Philosophie
a) Begriff der „Dialektik“
b) Hegels Freiheitsbegriff
c) Der Staat als sittlicher Staat
Professor Dr. Rolf Gröschner
Sommersemester 2015
Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen
Methoden- und Argumentationslehre
Texte zu § 6
Zum Begriff der „Aufklärung“
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Berlinische Monatsschrift
1784, S. 481 ff.): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung
eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache
derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt,
sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“.
Pico della Mirandola, De hominis dignitate, hrsg. v. A. Buck, Hamburg 1990, S. 5 ff.: „Wir
haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine
besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir
ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur
der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt
gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt.
Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen,
damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer (plastes et
fictor) dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst“.
Zum Gesellschaftsvertrag bei Hobbes und Rousseau
In den Theorien des sogenannten Kontraktualismus – von „contractus“, Vertrag – bezeichnet
„Gesellschaftsvertrag“ kein Phänomen der Rechtswirklichkeit, sondern das zentrale Gedankenexperiment zur Rechtfertigung (Legitimation) des Staates. In der historisch wie systematisch erstrangigen Legitimationstheorie des Thomas Hobbes wird die Notwendigkeit eines
(fingierten) Vertragsschlusses zur Konstituierung des Staates mit der Überwindung eines
„bellum omnium contra omnes“ – eines Krieges aller gegen alle – in einem (fiktiven) Naturzustand begründet, in dem niemand seines Lebens sicher sein kann (Leviathan, englische
Erstausgabe 1651, lateinische Ausgabe 1670, Kap. 13). Hobbes verweist seine Leser insoweit
auf die schlichte Alltagserfahrung, ohne eine pessimistische Anthropologie begründen zu
wollen: „Manchem, der sich diese Dinge nicht gründlich überlegt hat, mag es seltsam vorkommen, daß die Natur die Menschen so sehr entzweien und zu gegenseitigem Angriff und
gegenseitiger Vernichtung treiben sollte, und vielleicht wünscht er deshalb, da er dieser
Schlußfolgerung aus den Leidenschaften nicht traut, dies durch die Erfahrung bestätigt zu
haben. Er möge deshalb bedenken, daß er sich bei Antritt einer Reise bewaffnet und darauf
bedacht ist, in guter Begleitung zu reisen, daß er beim Schlafengehen seine Türen und sogar
in seinem Hause seine Kästen verschließt – und dies in Kenntnis dessen, daß es Gesetze und
bewaffnete Beamte gibt, um alles Unrecht zu verfolgen, das ihm angetan wird. Welche Meinung hat er also von seinen Mit-Untertanen, wenn er bewaffnet reist, welche von seinen
Mitbürgern, wenn er seine Türen verschließt, und welche von seinen Kindern und Bediensteten, wenn er seine Kästen verschließt? Klagt er da die Menschen durch seine Handlungen
nicht ebensosehr an wie ich durch meine Worte? Aber keiner von uns klagt damit die
menschliche Natur an“.
Wird der Gesellschaftsvertrag im Hobbesschen Gedankenexperiment geschlossen, um den
Staat als Friedensordnung zu legitimieren, liegt die Legitimationsleistung des Vertragsschlusses bei Jean-Jacques Rousseau in der Errichtung des Staates als Freiheitsordnung. Der
im „Contrat Social“ (1762) entwickelte, für Kant und Hegel wegweisende Freiheitsbegriff ist
allerdings mit der herkömmlichen, liberal-rechtsstaatlichen Vorstellung individueller Handlungsspielräume empirischer Subjekte nicht zu erfassen. In guter sokratischer Tradition sollte man ihn von der Fragestellung her zu verstehen versuchen. Sie besteht darin, eine Form
des Zusammenschlusses („association“) zu finden, die nicht nur die jeweiligen Eigeninteressen der Vertragsschließenden (durch deren bloße „aggregation“) schützt, sondern in der
„jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie
zuvor“ (Contrat Social, I 6). Der Bürger eines solchen (wiederum fingierten) Vertragsschlusses kann nicht der lediglich auf seine individuelle Freiheit fixierte „bourgeois“ sein, sondern
nur der am generellen Freiheitsinteresse orientierte „citoyen“, der im gemeinsamen Bestreben, eine allgemeine Freiheitsordnung zu etablieren (das ist die unübersetzbare „volonté
générale“), die legitimatorische Einheit des Volkes („peuple“) und mit ihr die cité – Rousseaus Begriff für Republik – hervorbringt: „Les citoyens font la cité“.
Zur Freiheit bei Kant und Hegel
Kant folgt Rousseau in der Grundkonzeption der Freiheit als Gehorsam gegenüber dem
selbstgegebenen Gesetz. An die Stelle des citoyen, der den staatskonstituierenden Vertrag
aus einem im klassischen Sinne politischen oder republikanischen Interesse an allgemeiner
Freiheit schließt, tritt nun aber die moralische Persönlichkeit. „Moralisch“ ist sie nicht als
empirischer, von sinnlichen Neigungen und Antrieben motivierter Mensch („homo phaenomenon“), sondern als apriorisches, aller Erfahrung vorausliegendes Subjekt der Moralität
(„homo noumenon“) unter der „regulativen Idee“ der Freiheit als einem „reinen Vernunftbegriff“. Die Unterscheidung zwischen der empirischen und der nicht-empirischen (metaphysischen oder – bei Kant synonym – transzendentalen) Dimension des Menschseins ist in
keinem anderen philosophischen System so kategorial wie im kantischen. Deshalb müssen
auch die beiden Freiheitsdimensionen strikt auseinandergehalten werden: „Innere“ Freiheit
ist das einzige „angeborne“, dem Vernunftmenschen „kraft seiner Menschheit“ zustehende
Recht (im Singular), während „die Rechte“ (im Plural) solche des Sinnenmenschen in den
„äußeren“ Freiheitsverhältnissen des Rechts sind. Als Idee der „reinen“ Vernunft wirkt die
Freiheit moralischer Persönlichkeiten unter selbstgegebenen Gesetzen für eine empirische
Rechtslehre regulativ – wie ein Leitstern: § 1 III 2 –, nicht aber konstitutiv.
Dieser dualistischen Konzeption einer inneren, der Vernunft verpflichteten Moralität einerseits und einer äußeren, unter empirischen Bedingungen stehenden Legalität andererseits
setzt Hegel eine dialektische Konzeption entgegen, in der die Sozialität des Menschen konstitutiv für die „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ im Staat wird (Hegel, Grundlinien der
Philosophie des Rechts, 1821, § 260). „Konkret“ wird die Freiheit, indem die bei Kant selbständigen Elemente der Legalität und der Moralität zu „Momenten“ des Freiheitsbegriffs –
das heißt hegelisch: zu nicht-isolierbaren Eigentümlichkeiten eines dialektischen Ganzen –
werden, der sowohl das äußere („abstrakte“) Recht als auch die innere („subjektive“) Moralität umfaßt, diese beiden Momente aber im Prinzip der objektiven, in den Institutionen des
(„sittlichen“) Staates verwirklichten und in ihrer Allgemeinheit gewollten Freiheit „aufhebt“
(in der bekannten Bedeutung des Höherhebens auf eine begriffliche Ebene, auf der die Gegensätze sowohl aufbewahrt als auch überwunden sind). Die dafür erforderliche „politische
Gesinnung“ und das „zur Gewohnheit gewordene Wollen“, die Idee der Freiheit als „Resultat der im Staate bestehenden Institutionen“ zu verwirklichen (§ 268), weisen Hegels Freiheitsphilosophie ebenso als Fortschreibung der Republiklehre Rousseaus aus wie die Rede
vom „politischen Staat“ als „Einheit der sich wollenden und wissenden Freiheit“ (§ 267, Zusatz).
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