„Die psychiatrische Institutsambulanz 2015“ Was ist eigentlich Dissoziation ? Vortrag am 20. Juli 2015 Dr.med. Helmut Rießbeck Häfnersgässchen 2, 91126 Schwabach www.psychotherapie-riessbeck.de Benutzername: Arzt Kennw.: Therapie Was ist Dissoziation? -Kunstprodukt fantasiebegabter Menschen? - Folge von Suggestion? - Kopfgeburt von Therapeuten? - ein Ablauf im”Trauma”? - ein Abwehrmechanismus? - ein Mythos? - eine Alltagserscheinung? - eine Ansammlung von Symptomen ? - nur bei der DID? Oder Ist es doch ganz anders? - Nach Nijenhuis,E. “All of us have our breakingpoint. To some it comes sooner than to others.” -T.A. Ross (1941, p. 66) Trauma und dissoziative Störungen in der Psychiatrie Traumabedingte Störungen finden ca 50% der Patienten in Allgemeinpsychiatrien Etwa 20% der PTBS Fälle werden als solche diagnostiziert Die Prävalenz von Dissoziativen Störungen ist mit 1% in der Allgemeinbevölkerung in der gleichen Größenordnung wie die Schizophrenie Patienten mit DID verursachen durch ihre Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen die höchsten stationären Krankheitskosten im psychiatrischen Vergleich ( v.d. Kolk 2008) 1/3 aller Patienten einer psychiatrischen Notaufnahmestation hatten die Diagnose einer dissoz. Störung (Sar et al. 2007) 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 4 Dissoziationsbegriff Der Streit ob Dissoziation ein grundsätzlich normales Reagieren ist oder ein pathologisches Erleben stammt grundsätzlich aus der Debatte des 19.Jhdts ob Trance ein Alltagsphänomen sei (Schule von Nancy) oder pathologisch (Schule der Salpetrière). In psychoanalytischen Schulen gibt es keinen klaren Begriff von Dissoziation, da sie keine expliziten Konzepte für Wahrnehmung und Bewusstsein vorlegten. Wir können wahrscheinlich zwei Typen unterscheiden (Seidler,H.G. et al, S29ff): Alltagstyp – Kontinuum mit graduellen Funktionsänderungen des Erlebens pathologischer Typ – diskontinuierlich mit Switchen in einen anderen Zustand P. Dell beschreibt Dissoziation als ein Cluster von Phänomenen E. Nijenhuis et al. Konzipierten ein strukturelles Modell mit zwei bis drei Formen von Subselbsten, als veränderte innere Organisation der Persönlichkeit 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 5 Schneider´s Symptome der Schizophrenie Erstrangsymptome bei DID häufiger als bei Schizophrenie Wg. Fehlender Spezifität nicht mehr im DSM V Erstrangsymptome •Gedanken-Lautwerden •Dialogische Stimmen •Kommentierende Stimmen •Leibliche Beeinflussungserlebnisse •Gedankenentzug •Gedankenausbreitung •Wahnwahrnehmungen •Gefühl des „Gemachten“ Zweitrangsymptome •Alle übrigen Sinnestäuschungen •Wahneinfälle •Ratlosigkeit •Depressive und frohe Verstimmung •Erlebte Gefühlsverarmung Rot gekennzeichnet = bei dissoziativen Störungen beobachtbar 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 6 Zwei verschiedene Auffassungen von Dissoziation • P. Dell beschreibt Dissoziation als ein Cluster von Phänomenen • E. Nijenhuis et al. Konzipierten ein strukturelles Modell mit zwei bis drei Formen von Subselbsten, als veränderte innere Organisation der Persönlichkeit (d.h. des gesamten biopsychosozialen Systems des Individuums) 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 7 DSM-V: …. Disruption and/ or discontinuity in the normal integration of consciousness, memory, identity, emotion, perception, body representation, motor control, and behavior. Dissociative symptoms can potentially disrupt every area of psychological functioning. ICD 10: Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörung besteht in teilweisem oder völligem Verlust der noprmalen Integration der Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen. • Dissoziative Amnesie F44.0 /Dissoziative Fugue F44.1 • Dissoziativer Stupor F44.2 • Dissoziative Störung der Bewegung und der Sinnesempfindung F44.4-7 • Dissoziative Identitätsstörung F 44.81 Auffällig – sie sind getrennt von den Traumafolge-bzw stressassoziierten Störungen 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 8 Dissoziation bei P. Dell(2001) Dissoziation nach (nach Holmes et al.) Verändertes Bewusstsein (detachment) Und/oder Desintegrierte Mentale Systeme (compartimentalization) P.Dell • • • • • • • • – Gedächtnisprobleme Depersonalisation Derealisation Dissoziative oder somatoforme Flash Backs Trancezustände Somatoforme Dissoziation – – – – Hören von: Muskuläre Ausfälle Neurologiesche Ausfälle Wahrnehmungsveränderungen Schmerzen • • • • • • 15.07.2015 Teildissoziierte– – – – • inneren Kinderstimmen, Dialogen oder drohenden Stimmen Gedanken Verhaltensmuster Emotionen Sprache Plötzlicher Wechsel von Fähigkeiten und Kenntnissen Identitätsunsicherheit Verunsicherende Erfahrungen von Identitätsveränderungen Teildissoziierte Selbstzustände (Co-Bewusst) lückenhaftes Zeiterleben, unklares Zeitraster Amnesien, Fugues Nicht erinnerbares Verhalten ©Dr.H. Rießbeck 9 Diagnose dissoziative Störung Der ICD ist rein beschreibend, gibt kein Modell über Zusammenhänge aber implizit wird ein BelastungsstressDiathese Modell angenommen. Auch bei anderen psych. Störungen treten dissoz. Phänomene auf und weisen auf traumatische Erfahrungen hin .(Fiedler S.3, s.a. S.54 ff) Schutz durch Dissoziation Desintegration durch Dissoziation Automatisierung von Handlungen Blackout – Unterbrechung der autobiograph. Erfahrung Isolierung/ Abspaltung katastrophaler Erfahrungen Beeinträchtigung von Selbststeuerungserleben Zeitweilige Flucht aus unerträglichen Sachzwängen der Realität/ soziale Anpassung Verminderung kohärenten Körpererlebens Lösung vermeintlich unlösbarer Konflikte/ Coping Verminderung konsistenter Welterfahrung , zielgerichteter Bedürfnisbefriedigung, soz. Austausch Kathartische Entlastung unerträglicher Gefühle Demoralisierung → DesintegraQon des IdenQtätsbewusstseins 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 10 Pierre Janet 1859-1947: Dissoziation als Scheitern der Integration “Alle psychologischen Phänomene, gleich welchen Ursprungs, sind in ein und der selben Wahrnehmung vereint. Daraus folgt, dass eine zweite Persönlichkeit nicht existiert. Falls diese vollkommene Gesundheit nicht existiert, ist die Kraft der psychischen Synthese geschwächt und ermöglicht, außerhalb der persönlichen Wahrnehmung, das Auftreten von einer mehr oder minder beträchtlichen Anzahl psychischer Phänomene: Dies ist der Zustand von Disaggregation [d.h. Dissoziation].” Pierre Janet (1889, pp. 336/7) Somnambulismus bei P.Janet • Motorische Prozesse laufen weiter, während sich das Bewusstsein davon abgelöst hat. • „Things happen as if an idea, a partial system of thoughts, emancipated itself, became independent and developed itself on ist own account.“ (Janet 1907/S42) • Beeinträchtigung der „fonction du réel“ • Bindung an innere „idées fixes“ Bindung an das Trauma “Diese Patienten ... setzen eine Handlung fort, vielmehr den Versuch einer Handlung, die damals begann, als sich die Situation ereignete, und sie erschöpfen sich selbst in diesem beständigen Wiederbeginn.” Pierre Janet, (1919/25, p. 663) Dissoziation in PTBS Mentale Vermeidung Alltagsleben; Betäubung Wiedererleben Intrusion Modell der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit – Die drei essentiellen Typen =EP-fragil 15.07.2015 Nijenhuis,E.:Journal of Cosmology, 2011, Vol. 14. © Dr. med. Helmut Rießbeck 15 Konzept der Strukturellen Dissoziation – E.Nijenhuis s. Van der Hart et al 2008 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 16 Somatoforme Dissoziation (n.E.Nijenhuis):Traumatische Erinnerungen schließen sensomotorische Reaktionen ein. Beziehung zum Bereich Konversion/Hysterie, wahrscheinlich synonym dafür. • Negative Symptome Anästhesie, Analgesie Verlust der motorischen Kontrolle Einengung der Wahrnehmung (5Sinne) ©Dr.H. Rießbeck 15.07.2015 • Positive Symptome Dysästhesie, Schmerz Motorische Automatismen „Hysterische Anfälle“ Ernährung auffällig 17 Traumatische und Narrative Erinnerungen (Janet, 1904, 1928) “Reproduktiv” Keine soziale Funktion Nicht unter willentlicher Kontrolle Nicht in die Lebensgeschichte integriert Zeitverdrehung Somatosensorisch Rekonstruktiv Soziale Funktion Unter willentlicher Kontrolle Integriert in die Lebensgeschichte Zeitlich orientiert Narrativ Nichtrealisierung und Dissoziation bei einer Auschwitz-Überlebenden (1) • “Ich hatte das Gefühl, dass das “Selbst”, dass im Lager gewesen ist, nicht ich ist, nicht die Person ist, die hier ist, Ihnen gegenüber. Nein, es ist zu unglaubwürdig. Und alles, was diesem anderen “Selbst”, dem von Auschwitz, passierte, berührt mich heute nicht, mich, betrifft mich nicht, so verschieden sind die tiefen Erinnerungen und die allgemeinen Erinnerungen.” • Charlotte Delbo (1985, p. 13) Miss America by Day Without realizing it, I fought to keep my two worlds separated. Without ever knowing why, I made sure, whenever possible, that nothing passed between the compartmentalization I had created between the day child and the night child. Marilyn Van Derbur (2003, p. 26) Therapeutisches Ziel bei Dissoziativen StörungenIntegrative Kapazität stärken Die Handlungsweisen der Integration: Realisation – Es ist in der Welt, eine Wirklichkeit, die Andere auch teilen können. Meine Sinne erfassen das. Das “Ich” und “mir” von damals ist Teil des “Ich”s und “mir”s der Gegenwart. Personifikation – Meinhaftigkeit, Autorenschaft von Handlung Präsentifikation – Korrektur der Verzerrung der Zeithierarchie Synthese Kohäsion und Kohärenz im BASK System Nijenhuis,E. Ten reasons for conceiving andclassifiying posttraumatic stress disorders as a dissociative disorder, Psichiatrica e Psichotherapeutica (2014) 33, 1 74-106 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 21 Literatur • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Boon,S.;Van der Hart,O.,E.,Steele,K.: Traumabedingte Dissoziation bewältigen, Junfermann 2013 Bühler,H., Heim,G.: Psychopathological Approches in Pierre Janet´s Conception of the Subconsious, psychopathology 2009;42:190-200 Dell,P.,O´Neil, J.A, Hrsg..: Dissociation and the Dissociative Disorders, New York, Routledge, 2009, Ellenberger, Henri,F.: Die Entdeckung des Unbewussten, Zürich Diogenes, 2005 Fiedler,Peter (Hrsg.): Trauma, Dissoziation, Persönlichkeit. Pabst Verl., Lengerich, 2006 Fliß,C,Igney,C.: Handbuch Trauma und dissoziation, Pabst, Lengerich 2008 Haule, J.R.: Pierre Janet and Dissociation, The first Transference theory and its origin in hypnosis. Am J Clin Hypn 29(2)1986 Huber,M. Viele sein – ein Handbuch, junfermann, Paderborn, 2011 Janet, P: Die Psychologie des Glaubens und die Mystik, Berlin 2013, Matthes und Seitz Verlag Moscowitz,A., Schäfer,I., Dorahy, M.J.: Psychosis, Trauma and Dissociation, Wiley-Blackwell, Oxford 2009 Nijenhuis,E. : The Trinity of Trauma, Ignorance, Fragility and Control ,Vandenhoeck&Rupprecht, Göttingen 2015 Putnam,F.: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung – Diagnose und psychotherapeutische Behandlung (Lichtenau 2013) REDDEMANN,L. HOFMANN,A., GAST,U. (Hrsg.): Psychotherapie der dissoziativen Störungen (Stuttgart 2004) ( 3. Auflage 2011) Rießbeck, H.: Einführung in die hypnodynamische Teiletherapie, Heidelberg 2013 Schwartz, L.: Die Neurosen und die dynamische Psychologie von Pierre Janet, Benno Schwabe Verl., Basel, 1951 Trickett,P.K., Noll,J.G., Putnam,F.: The impact of sexual abuse on female development: Lessons from a multigenerational, longitudinal research study, Development and Psychopathology, 23(2011) 453-476 Van der Hart,O.,Nijenhuis,E.,Steele,K. Das verfolgte Selbst ( Orig.: The haunted Self), Junfermann, Paderborn 2006 Van der Hart,O.,Brown, P., van der Kolk,B.: Pierre Janet´s Treatment of Posttraumatic Stress J of Traumatic Stress 1989, Vol.2; No4 van der Hart,O., Friedman,B.: A reader´s Guide to Pierre Janet: a neglected intellectual heritage, Dissociation, 1989, 2(1),3-16 15.07.2015 ©Dr.H. Rießbeck 22