Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 223 Thema V Thema V Was gibt es Neues in der Therapie und Prävention von Infektionskrankheiten? Impfungen – neue Trends Burkhard Schneeweiß Impfstrategie als Voraussetzung für die Umsetzung neuer Trends Welche neuen Impfstoffe sind in den nächsten Jahren zu erwarten? Impfungen sind die effektivsten Präventionsmethoden in der Medizin. Eine Impfung bedeutet nicht nur Schutz für den Impfling, sondern auch Schutz für die Gemeinschaft. Impfungen haben weltweit zu einer Reduktion impfpräventabler Erkrankungen beigetragen. Alle Impferfolge müssen durch Überwachung gesichert werden. Deshalb gehört eine epidemiologische Surveillance mit Erfassung der Impfraten, der Impfkomplikationen, der Morbidität und Mortalität der jeweiligen Erkrankung zu jeder vollständigen und Erfolg versprechenden Impfstrategie. Fallende Impfraten mit steigenden Erkrankungszahlen machen unverzüglich Anstrengungen nötig, um die Impfraten zu erhöhen. Selbstverständlich ist die Sicherheit der Impfstoffe oberstes Gebot, d.h. kein Impfling darf durch eine Impfung zu Schaden kommen. Die Einführung neuer Impfstoffe muss deshalb stets mit einer Surveillance begleitet werden. Nur so ist eine Beurteilung der epidemiologischen Auswirkung einer Impfung möglich. Zurzeit wird weltweit an zahlreichen neuen Impfstoffen gearbeitet. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über Impfstoff-Projekte, die in der nächsten Zeit voraussichtlich zu neuen Produkten auf dem Markt führen werden. Für die Entwicklung eines neuen Impfstoffs – von der Identifizierung des Antigens bis zur Zulassung für die Anwendung in der Praxis – vergehen erfahrungsgemäß 8 bis 12 Jahre. Der größte Zeit-, Materialund Personalaufwand dient dabei der Sicherheit des Impfstoffs. An den folgenden vier Beispielen soll der aktuelle Trend der Impfungen verdeutlicht werden. Impfung gegen Zoster Ein Zoster entsteht durch endogene Reaktivierung eines latenten Varicella-Zoster-Virus. Das Krankheitsrisiko hängt vom Alter und Immunstatus ab. Ab dem 6. Lebensjahr- 223 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 224 Thema V 224 Tabelle 1: Laufende oder geplante Impfstoff-Projekte weltweit kurzfristig < 5 Jahre mittelfristig < 10 Jahre langfristig >10 Jahre MMRV-Kombinationsimpfstoff Hepatitis C HSV Zoster HIV N. gonorrhoeae Rotavirus RSV Streptococcus mutans Humanes Papillomvirus Tbk Streptokokken A Meningokokken-Impfstoff, konjugiert (A, C, Y, W 135) H. pylori Moraxella catarrhalis Influenza-Pandemie-Virus CMV Chlamydien EBV Toxoplasmen Meningokokken B Malaria-Plasmodien Leishmanien Trypanosomen zehnt nimmt die Zosterinzidenz dramatisch zu. Eine hohe Zosterinzidenz haben auch Patienten mit AIDS, malignen Lymphomen sowie nach Knochenmark- und Organtransplantationen. Beispielsweise ist die Zosterinzidenz bei Kindern, die an einer Leukämie erkrankt sind, 50- bis 100fach höher als bei gleichaltrigen, gesunden Kindern [Kreth]. Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch das Risiko, an einer postzosterischen Neuralgie zu erkranken. Etwa 50 % der über 60-jährigen und etwa 70 % der über 70-jährigen Zosterpatienten leiden unter einer postzosterischen Neuralgie. Bekanntlich beruhen diese hartnäckigen und therapieresistenten Schmerzen auf irreversiblen Ganglienzellnekrosen. Sie können zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität der Patienten über Monate bis Jahre führen, obwohl die Zostereffloreszenzen längst abgeheilt sind. Seit über drei Jahren läuft in den USA eine umfangreiche klinische Studie mit dem Ziel, den Schutzeffekt einer Impfung gegen Zoster zu prüfen. Erste Ergebnisse wurden 2005 von Oxman und Mitarbeitern publiziert. Sie sind der folgenden Tabelle 2 zu entnehmen. Diese Ergebnisse zeigen eine Reduktion der Zosterinzidenz und der postzosterischen Neuralgie bei älteren Probanden. Der hier beschriebene Impfstoff – mit dem mindestens zehnfachen Antigengehalt des bekannten Varizellenimpfstoffs – befindet Tabelle 2: Ergebnisse einer Zosterimpfung [nach Oxman et al. 2005] Primärer Endpunkt: Sekundärer Endpunkt: Ereignis Erkrankungen an Zoster Postzosterische Neuralgie (PZN) Placebo (n = 19.270) % Vakzine (n = 19.276) % ARR NNT NTN RRR % n n % Zoster 3,3 1,6 1,7 59 58 51,5 PZN 0,42 0,14 0,28 357 356 66,6 ARR NNT NTN RRR absolute Risikoreduktion (= Ereignisreduktion); errechnet: % Placebo minus % Vakzine number needed to treat; errechnet: 100 dividiert durch ARR number treated needlessly; errechnet: NNT minus 1 relative Risikoreduktion; errechnet: ARR multipliziert mit 100 und dividiert durch % Placebo Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 225 Impfungen – neue Trends sich im Zulassungsverfahren für Europa. Voraussichtlich wird eine Zosterimpfung nach der Zulassung des Impfstoffs in Deutschland älteren Personen als individuelle Gesundheitsleistung (IGEL) angeboten werden. Eine Stellungnahme der Ständigen Impfkommission des Robert-KochInstituts (STIKO) steht noch aus. Impfung gegen Rotavirusinfektion Die Mehrzahl aller Durchfallerkrankungen im Kleinkindesalter wird durch Rotaviren verursacht. Sie sind vor allem in Kindereinrichtungen und Kinderkliniken ein nosokomiales Problem. In Entwicklungsländern spielen Durchfallerkrankungen infolge Rotaviren eine dramatischere Rolle. Hunger, schlechte hygienische Bedingungen und Mangel an sauberem Trinkwasser begünstigen Rotavirusinfektionen und die durch sie verursachten schweren, oft tödlichen Durchfallerkrankungen. Anfängliche Impfungen gegen Rotaviren wurden wegen gehäuften Auftretens von Invaginationen abgebrochen [Schuster et al.]. Jetzt (April 2005) wurde ein neu entwickelter, verträglicher oraler Lebendimpfstoff nach erfolgreicher klinischer Phase III Prüfung zur Zulassung in Europa eingereicht. Der Impfstoff schützt bei ca. 75 % vor Infektion und bei ca. 95 % vor schwerem Durchfall [Forster]. Thema V 6 und 11 als Low-Risk-Typen bezeichnet; sie verursachen Genitalwarzen und Kondylome. Andere Serotypen, wie 16 und 18, werden als High-Risk-Typen bezeichnet, weil sie Infektionen verursachen, die zum Zervix-Karzinom führen können. Das Zervix-Karzinom zählt weltweit zu den häufigsten Krebsarten der Frau. Eine Impfung wäre ein sensationeller Fortschritt, vergleichbar mit der Hepatitis B-Impfung, die bekanntlich vor einem hepatozellulären Karzinom schützt. Der HPV-Impfstoff ist ein Totimpfstoff, der gentechnologisch gewonnen und mit Adjuvans verbunden wird. Die umfangreichen klinischen Studien haben eine gute Verträglichkeit, eine hohe Immunogenität und eine Protektivität vor Infektionen mit Genitalwarzen und Kondylomen gezeigt. Zwei Impfstoffe befinden sich in der Zulassung, ein bivalenter (gegen die Serotypen 16 + 18) und ein tetravalenter (gegen die Serotypen 6, 11, 16, 18) [Hillemanns et al.]. Allerdings geht es bei der bisherigen Beurteilung des Impfstoffs zunächst „nur“ um seine Verträglichkeit, Immunogenität und Protektivität vor einer HPV-Infektion mit ihren Frühfolgen. Da das Zervix-Karzinom in aller Regel erst Jahre bis Jahrzehnte nach einer HPV-Infektion zu erwarten ist, wird man auf einen impfbedingten Morbiditäts- und Mortalitätsrückgang des ZervixKarzinoms länger warten und Geduld mitbringen müssen. Impfung gegen einen InfluenzaPandemie-Stamm Impfung gegen Humanes Papillomvirus Das humane Papillomvirus (HPV) ist ein DNS-Virus mit > 100 Serotypen. Einige Serotypen sind pathogen, wenige von ihnen sind onkogen. So werden die Serotypen Fachkreise und Öffentlichkeit stehen unter dem Eindruck einer baldigen InfluenzaPandemie. Seit längerer Zeit wird die Ausbreitung einer neuen Antigenvariante des Influenza A-Virus (H5N1) unter Vögeln verfolgt. Die Vogelgrippe ist bisher nur spora- 225 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 226 Thema V 226 disch auf Menschen übertragen worden, wies dann aber eine hohe Letalität auf. Welche Bedingungen können zu einer Influenza-Pandemie des Menschen führen? Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Die Influenza A-Viren haben ihre Oberfläche strukturell durch ein AntigenShift verändert sowie ihre Virulenz und Kontagiosität zum Menschen gesteigert. In diesem Fall verfügt die Menschheit über keine hinreichende Immunität gegen diese Viren und jedermann kann sich leicht infizieren und schwer erkranken. Derzeit zeichnen sich die strukturell veränderten Influenza A-Viren vorrangig durch ihre Pathogenität bei Vögeln und eine geringe Affinität zum Menschen aus. Trotzdem wird von Experten dringend empfohlen, die Situation ernst zu nehmen und sich auf eine Influenza-Pandemie vorzubereiten. Zu den Nahzielen eines nationalen Influenza-Pandemie-Plans gehören beispielsweise konsequente Impfungen mit dem aktuellen Influenzaimpfstoff, damit die Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung reduziert und besonders auch Doppelinfektionen vermieden werden. Eine Doppelinfektion mit dem neuen Influenza AVirus H5N1 kann nämlich zum Ausgangspunkt für ein Reassortment, d. h. für die Entstehung eines virulenten und kontagiösen Pandemievirus, werden. Das Fernziel einer Influenza-PandemieBekämpfung ist die Entwicklung und ausreichende Produktion eines Impfstoffs mit dem Pandemie-Stamm. Bemühungen mit dieser Zielsetzung sind im Gange, ohne dass allerdings in den nächsten Monaten mit einem solchen Impfstoff schon zu rechnen sein dürfte. Schlussfolgerungen 1. Impferfolge sind durch Überwachung fortlaufender Impfprogramme zu sichern. 2. Neue Impfstoffe werden in den nächsten Jahren zugelassen. 3. Eine Zosterimpfung wird die Zosterinzidenz und die postzosterische Neuralgie reduzieren. 4. Eine Rotavirusimpfung wird die in den Tropen oft tödlich verlaufende und in den Industrieländern verbreitete Durchfallerkrankung im Kleinkindalter verhüten helfen. 5. Eine HPV-Impfung wird die Infektion durch HPV verhindern und damit das Risiko eines Zervix-Karzinoms minimieren. 6. An der Entwicklung eines Impfstoffs gegen den vermuteten Influenza-Pandemie-Stamm wird gearbeitet. Bis zu seinem Einsatz sind nationale PandemiePläne zu befolgen. Literatur Forster J. Aktuelle Rotavirusimpfstoffe – Kriterien zur Beurteilung des Nutzens. Monatsschrift Kinderheilkd 2005; 153: 831-837 Hillemanns P, Dürst M. Impfungen gegen humanes Papillomvirus bei Jugendlichen. Monatsschrift Kinderheilkd 2005; 153: 824-830 Kreth HW. Zoster. In: Varicella-Zoster-Virus-Infektionen: Aktuelle Prophylaxe und Therapie (Hrsg A Sauerbrei, P Wutzler). UNI-MED Verlag, Bremen-London-Boston 2004 Oxman MN, Levin MJ, Johnson GR et al. A vaccine to prevent herpes zoster and postherpetic neuralgia in older adults. N Engl J Med 2005; 352: 2271-2284 Schuster V, Bürk G, Hügle B. Neue Hoffnung auf Impfstoffe gegen Rotaviren. Kinder- und Jugendmedizin 2005; 5: 227-230 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 227 Thema V Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten Georg Maschmeyer Vorbemerkung Infektionen zählen zu den häufigsten Komplikationen bei Patienten mit malignen Erkrankungen. Das Spektrum reicht von einfachen lokalen Problemen an den Eintrittsstellen venöser Gefäßzugänge bis zu lebensbedrohlichen invasiven Pilzinfektionen bei Patienten mit schwerer und lang anhaltender Immunsuppression [Maschmeyer 2004]. Die Gefährdung der betroffenen Patienten ist in der Regel abhängig von der Ausprägung und Dauer der Neutropenie, definiert als Zahl neutrophiler Granulo- zyten unter 500 pro µl Blut. Patienten mit einer Neutropeniedauer über 10 Tagen gelten als Hochrisikogruppe bezüglich des Auftretens schwerer Infektionen. Daneben können aber auch Patienten mit einer (meist Chemotherapie- oder bestrahlungsbedingten) schweren und lang dauernden Verminderung CD4-positiver T-Lymphozyten von invasiven und vital bedrohlichen Infektionen betroffen sein. Prinzipien der Prävention infektiöser Komplikationen sind im Kontext mit bestimmten Typen von Immunsuppression bei Tumorpatienten formuliert worden. Die mit unterschiedli- Tabelle 1: Typische Infektionserreger bei verschiedenen Formen der Immunabwehrschwäche Granulozytopenie (Neutropenie): • Gram-negative Aerobier (Enterobacteriaceen und Glucose-Nonfermenter wie Pseudomonas aeruginosa oder Stenotrophomonas maltophilia) • Staphylococcus aureus • Koagulase-negative Staphylokokken (z. B. S. epidermidis) • Alpha-hämolysierende Streptokokken (z. B. S. viridans und S. mitis) • Pilze, v. a. Aspergillus- und Candida-Spezies T-Zell-Defekt: • • • • • Viren (Zytomegalie, Herpes simplex, Varicella Zoster, HHV-6, RSV, Adenoviren) Pilze (s. o., sowie Kryptokokken, Pneumocystis jiroveci) Mykobakterien, vor allem M. tuberculosis Parasiten (z. B. Toxoplasma gondii oder Kryptosporidien) Bakterien (s. o.), zudem Listeria monocytogenes und Nocardien Antikörpermangel: • Vorwiegend verkapselte Bakterien wie Pneumokokken, Haemophilus influenzae • Viren (s. o.) • Seltener: Pilze Splenektomie/Funktionelle Asplenie: • Streptococcus pneumoniae • Haemophilus influenzae • Neisseria meningitidis 227 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 228 Thema V 228 chen Formen der Immunsuppression typischerweise assoziierten Infektionserreger sind in Tabelle 1 dargestellt. Für die klinische Realität ist sowohl zu beachten, dass bestimmte Erreger bzw. Arten von Infektionen bei unterschiedlichen Formen von Immunsuppression auftreten können (Tabelle 1), als auch, dass Patienten mehrere Formen von Immunsuppression gleichzeitig aufweisen können. So kann ein (meist ambulant behandelter) Patient mit einer chronischen lymphatischen Leukämie (B-CLL), der in Folge seiner Erkrankung einen B-Zelldefekt (Antikörpermangel) mitbringt, durch Behandlung mit einem Nukleosidanalogon wie Fludarabin oder Cladribin oder nach Gabe des CD52-Antikörpers Alemtuzumab (Campath) zusätzlich einen protrahierten T-Zelldefekt erwerben und durch Verdrängung der Granulopoese im Knochenmark oder Chemotherapie gleichzeitig eine Neutropenie aufweisen. In vielen Fällen ist das Vorgehen nur in enger Abstimmung mit dem behandelnden Zentrum für Hämatologie und Onkologie festzulegen. besteht das Ziel der Infektionsprophylaxe typischerweise in der Vermeidung infektionsbedingter Morbidität, und damit auch von Hospitalisierung und Kosten. Ein drittes Ziel der Infektionsprophylaxe kann darin bestehen, durch Verhinderung von Infektionen eine planmäßige Durchführung der Tumortherapie zu gewährleisten, weil man als Folge einer Verzögerung eine Verschlechterung der Behandlungsergebnisse oder zumindest eine Erhöhung der Behandlungskosten befürchtet. Bei der Betrachtung von Ergebnissen klinischer Studien zum Wert von Maßnahmen zur Infektionsprävention bei Tumorpatienten sollte deshalb immer sorgfältig darauf geachtet werden, welche Zielkriterien verfolgt wurden, und wie relevant diese bei der jeweiligen Patientenpopulation sind. So ist die rein zahlenmäßige Verminderung von Fiebertagen oder Verkürzung der Neutropenie ohne gleichzeitige Reduktion antimikrobieller Therapie für die betroffenen Patienten wenig bedeutsam. Auf der anderen Seite erscheint es auch nicht sinnvoll, ein Verfahren zur Infektionsprophylaxe zu verwerfen, weil es nicht zu einer signifikanten Verbesserung des Gesamtüberlebens führt. Ziele der Infektionsprophylaxe Bei Patienten mit akuten Leukämien oder nach allogener Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantation lässt sich das Ziel der Infektionsprävention in der Regel klar definieren, denn hier steht die Vermeidung letaler systemischer Infektionen, etwa durch gram-negative Aerobier, Zytomegalieviren, Pneumocystis jiroveci oder Fadenpilze (Aspergillosen oder Zygomykosen) im Mittelpunkt. Bei Patienten mit Antikörpermangel, T-Zelldefekt oder temporärer Neutropenie sowie bei Patienten etwa mit obstruierenden Tumoren, schwerer Schleimhauttoxizität oder Venenverweilkathetern Methoden der Infektionsprophylaxe Obwohl antimikrobielle Substanzen (Antibiotika, Antimykotika, Virustatika) und rekombinante hämatopoetische Wachstumsfaktoren wie Filgrastim oder Lenograstim (G-CSF) in aller Regel im Mittelpunkt klinischer Studien zur Infektionsvermeidung bei Tumorpatienten stehen, sollten andere Prophylaxeverfahren nicht außer Acht gelassen werden. Tabelle 2 zeigt eine Zusammenstellung verschiedener Verfahren der Infektionsvermeidung. Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 229 Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten Thema V Tabelle 2: Ansätze zur Infektionsverhütung Hygienemaßnahmen • Vorsicht vor Biotonne, Kompost, Laub u. ä. (Schimmelpilze) • Vermeidung von Verletzungen (Schnittwunden, Rosendornen etc.) • Schutz der Hände, im Zweifelsfall auch alkoholische Desinfektion Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen im Alltag • Ernährung: – Normale Kost, keine einseitige Überbetonung – Vorsicht vor Rezepten „zur Stärkung des Immunsystems“ – Vorsicht vor „besonders gesunden“ Lebensmitteln: – Produkte aus unbehandeltem Getreide (Schimmelpilze) – Milchprodukte aus unpasteurisierter Milch (Listerien) – Vermeidung von unzureichend durchgebratenem Gefrierfleisch, insbesondere Geflügel • Haustiere: – Vermeidung von engem Kontakt in den ersten 3 Monaten nach Transplantation (Ausnahmen z.B. Aquarien oder Schildkröten) • Kontakte: – Vorsicht bei offenkundig „erkälteten“ Personen, – aber auch bei Windpocken, Gürtelrose, Mumps, Masern, Pfeiffer'schem Drüsenfieber oder sonstigen übertragbaren Erkrankungen – Meidung von öffentlichen Bädern, Saunen u.ä. – Enge (auch intime) Kontakte zu gesunden Lebenspartnern sind nicht gefährlich • Reisen/Beruf: – in „Reichweite“ bleiben: Nord/Westeuropa (aber Vorsicht vor Zeckenbissen!), Mallorca o.ä. – im Zweifelsfall Zurückhalten bei unbekannten Speisen – Schutz der Hände, im Zweifelsfall auch alkoholische Desinfektion Impfungen • • • • • • Pneumokokkenschutzimpfung Grippeschutzimpfung Tetanus, Diphtherie (Hepatitis B) Auf keinen Fall: Impfungen mit Lebendimpfstoffen Vorsicht auch bei solchen Impfungen bei Familienmitgliedern Medikamente • Gabe von Antibiotika, Antimykotika und Virustatika – z. B. nach Transplantation, nach bestimmten Chemotherapien wie Cladribin, Fludarabin, oder nach Gabe von Alemtuzumab (Campath) • Gabe von Antikörpern (Immunglobulinen) – z. B. bei B-CLL oder Plasmozytom (Myelom) und wiederholten Infektionen • Verkürzung der Neutropenie durch prophylaktische Gabe von G-CSF (Filgrastim, Pegfilgrastim oder Lenograstim) nach Chemotherapie 229 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 230 Thema V 230 Prophylaktische Gabe rekombinanter hämatopoetischer Wachstumsfaktoren Der primäre Einsatz von G-CSF (Filgrastim, Pegfilgrastim oder Lenograstim) gilt als gerechtfertigt, wenn bei einem Patienten die Wahrscheinlichkeit infektiöser Komplikationen nach einer Tumorbehandlung mehr als 40 % beträgt [Ozer et al. 2000]. In Einzelfällen kann jedoch mit dem Ziel der Vermeidung von infektionsbedingter Morbidität oder zur Vermeidung der Verzögerung einer antineoplastischen Behandlung der primäre Einsatz dieser Substanzen sinnvoll sein. Häufig ist die Gabe solcher hämatopoetischer Wachstumsfaktoren bereits durch das Therapieprotokoll zur Behandlung der Grunderkrankung vorgegeben, vor allem bei Patienten mit aggressiven hämatologischen Neoplasien. Bei Patienten mit indolenten Lymphomen, Myelomen oder soliden Tumoren ist die Gabe von GCSF im Allgemeinen nicht indiziert. Studien, die einen Vorteil durch die primäre Gabe hämatopoetischer Wachstumsfaktoren bei Patienten mit soliden Tumoren postulieren, beinhalten in der Regel entweder eine ungewöhnlich aggressive Chemotherapie [Papaldo et al. 2003] oder zeigen eine Reduktion febriler Komplikationen von sehr niedrigen auf noch niedrigere Inzidenzraten [Vogel et al. 2005]. Allerdings führt der letztgenannte Effekt bei der Behandlung von Patienten mit soliden Tumoren oder malignen Lymphomen zu einer Reduktion der Morbidität und zu einer weitgehend komplikationslosen und gut kalkulierbaren ambulanten Durchführbarkeit der meisten Chemotherapiemodalitäten, so dass gerade im ambulanten onkologischen Setting ein großer Teil der Tumorpatienten G-CSF zur Prophylaxe jenseits der zitierten ASCO-Kriterien [Ozer et al. 2000] erhält. Der Einsatz von G-CSF im Sinne einer sekundären Prophylaxe kommt vor allem dann in Frage, wenn bei individuellen Patienten trotz eines als niedrig eingeschätzten Risikos nach einer vorhergehenden Therapie ohne G-CSF-Prophylaxe eine neutropeniebedingte Infektion aufgetreten ist. Einsatz antimikrobieller Substanzen zur Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten Außerhalb der stationären Behandlung von Patienten mit malignen Erkrankungen im Rahmen intensiver Therapieprotokolle oder allogener Stammzelltransplantation ist die Gabe antimikrobieller Substanzen zur Infektionsprävention nur selten indiziert. Klassischerweise wird hier im Rahmen standardisierter Protokolle Aciclovir bei Patienten mit lang anhaltender T-Zellsuppression (etwa nach Ganzkörperbestrahlung) zur Vermeidung von Herpes-Virusinfektionen und intermittierend Cotrimoxazol zur Pneumocystis-Prophylaxe verabreicht [Krüger et al. 2005]. Fluorochinolone wie Ciprofloxacin, Ofloxacin oder Levofloxacin haben bei Patienten mit schwerer Neutropenie im Rahmen aggressiver Therapiemaßnahmen bei akuter Leukämie eine signifikante Verminderung von Fieberepisoden ermöglicht [Cruciani et al. 1996; Engels et al. 1998], eine Verbesserung der Gesamtergebnisse im Sinne einer Erhöhung der Therapieerfolgsraten oder einer Verlängerung der Überlebenszeiten haben sie jedoch nicht bewirkt. Da unter regelmäßiger Gabe dieser Chinolon-Antibiotika ein deutlicher Anstieg der Resistenzraten gegen Chinolone unter den gramnegativen Aerobiern beobachtet wurde, wurde der Vorteil der Chinolonprophylaxe vor der Hintergrund des Verlustes der Wirksamkeit dieser Antibiotikagruppe für die ungezielte antimikrobielle Therapie in Frage gestellt. Sequenzielle Analysen aus hämatologischonkologischen Zentren, die die Chinolon- Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 231 Thema V Infektionsprophylaxe bei Tumorpatienten prophylaxe nach langjährigem Einsatz beendet und zum Teil wieder aufgenommen haben, zeigen zum Teil einen signifikanten Anstieg schwerer und letaler Infektionen durch gramnegative Aerobier nach dem Aussetzen der Chinolonprophylaxe [Reuter et al. 2005], während andere onkologische Zentren dies nicht bestätigen konnten [Gomez et al. 2003]. Jüngere Publikation von Ergebnissen großer klinischer Studien weisen jedoch wiederum auf die signifikante Verminderung febriler Komplikationen bei Tumorpatienten durch den prophylaktischen Einsatz von Levofloxacin hin [Cullen et al. 2005; Bucaneve et al. 2005]. Auch hier wird eine Verminderung infektionsbedingter Morbidität, teils bereits von einem sehr niedrigen Niveau in der Placebo-Vergleichgruppe ausgehend, aber kein Einfluss auf die Gesamtprognose der untersuchten Patienten mit soliden Tumoren oder malignen Lymphomen berichtet. Die Nebenwirkungsraten waren hier nicht signifikant unterschiedlich, die Abbruchraten wegen unerwünschter Ereignisse vergleichbar. Schutzimpfungen Wie in Tabelle 2 aufgeführt, sind Schutzimpfungen ebenfalls als Möglichkeit der Reduktion infektiöser Komplikationen bei Tumorpatienten zu betrachten. Hierbei ist jedoch strikt darauf zu achten, dass keine Lebendvakzine zum Einsatz kommt. Bei den meisten Patienten kommt es trotz Chemotherapie und Immunsuppression zu einer klinisch effektiven Impfantwort. Zu empfehlen sind eine jährliche Grippeschutzimpfung, eine Pneumokokkenschutzimpfung und eine Aktualisierung der üblichen Schutzimpfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Polio (inaktivierter Impfstoff). Impfungen gegen Haemophilus influenzae B, Hepatitis B und Meningokokken sind bei den hier diskutierten Patienten nicht geprüft, könnten aber ebenfalls sinnvoll sein. Bei Patienten vor und nach allogener Stammzelltransplantation existiert in aller Regel ein Plan zur Impfprophylaxe, der vom Transplantationszentrum vorgegeben ist. Dieser enthält häufig auch die Empfehlung einer Varizellen-Schutzimpfung für Transplantationskandidaten, bei denen keine VZV-Antikörper (IgG) nachweisbar sind [Hata et al. 2002]. Fazit für die Praxis (Zusammenfassung) Bei Tumorpatienten, die nicht im Rahmen kontrollierter Studien eine vorgegebene Infektionsprophylaxe mit antimikrobiellen Substanzen oder hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (Filgrastim, Lenograstim oder Pegfilgrastim) erhalten, ist die individuelle Vorgehensweise unter Berücksichtigung der jeweils vorliegenden Art der Immunsuppression (Neutropenie, Antikörpermangel, T-Zellsuppression, Asplenie oder Kombination davon) mit dem behandelnden Zentrum abzustimmen. Eine Reduktion infektionsassoziierter Morbidität kann in vielen Fällen durch antimikrobielle Substanzen und G-CSF erreicht werden, allerdings ist die Indikation im Hinblick auf die damit verbundenen Kosten, das Risiko der Resistenzentwicklung gegen Antibiotika und die möglichen Nebenwirkungen in jedem Einzelfall kritisch zu prüfen. Prinzipiell gerechtfertigt erscheint der primäre prophylaktische Einsatz von G-CSF nur bei Patienten, bei denen als Folge der geplanten antineoplastischen Therapie Infektionen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 40 % zu erwarten sind. Tritt bei Patienten, bei denen zunächst keine primäre Infektionsprophylaxe durch- 231 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 232 Thema V 232 geführt wurde, wider Erwarten eine ernsthafte infektiöse Komplikation auf, sollte die Indikation für eine solche Prophylaxe im Sinne einer Sekundärprävention individuell entschieden werden. Auf Überlebensraten und -dauer haben diese Maßnahmen keinen signifikanten Einfluss. Dies gilt auch für Patienten, bei denen durch den Einsatz prophylaktischer Antibiotika oder hämatopoetischer Wachstumsfaktoren die Einhaltung des Chemotherapieprotokolls signifikant verbessert werden konnte [Ottmann et al. 1995; Fossa et al. 1998, Papaldo et al. 2003] Individuelle Verhaltensregeln oder hygienische Maßnahmen sind in ihrem Effekt auf Fieber- oder Infektionsraten bei Tumorpatienten leider kaum in kontrollierten Studien untersucht. Empfehlungen zur Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel oder Tätigkeiten sowie zu Hygienemaßnahmen entsprechen demnach weitgehend Expertenmeinungen oder stellen Schlussfolgerungen aus epidemiologischen Erkenntnissen und Einzelfallbeobachtungen dar. Soweit diese eine normale Lebensführung nicht in unvertretbarer Weise beeinträchtigen, haben sie auch Eingang in Leitlinien zur Infektionsprävention bei Tumorpatienten gefunden. Literatur Bucaneve G, Micozzi A, Menichetti F, Martino P, Dionisi MS, Martinelli G, Allione B, D'Antonio D, Buelli M, Nosari AM, Cilloni D, Zuffa E, Cantaffa R, Specchia G, Amadori S, Fabbiano F, Deliliers GL, Lauria F, Foa R, Del Favero A; Gruppo Italiano Malattie Ematologiche dell'Adulto (GIMEMA) Infection Program. Levofloxacin to prevent bacterial infection in patients with cancer and neutropenia. N Engl J Med. 2005; 353: 977-87 Cruciani M, Rampazzo R, Malena M, Lazzarini L, Todeschini G, Messori A, Concia E. Prophylaxis with fluoroquinolones for bacterial infections in neutropenic patients: a meta-analysis. Clin Infect Dis 1996; 23: 795-805 Cullen M, Steven N, Billingham L, Gaunt C, Hastings M, Simmonds P, Stuart N, Rea D, Bower M, Fernando I, Huddart R, Gollins S, Stanley A; Simple Investigation in Neutropenic Individuals of the Frequency of Infection after Chemoth. erapy +/- Antibiotic in a Number of Tumours (SIGNIFICANT) Trial Group. 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J Clin Oncol 2003; 21: 3462-8 Thema V Reuter S, Kern WV, Sigge A, Döhner H, Marre R, Kern P, von Baum H. Impact of fluoroquinolone prophylaxis on reduced infection-related mortality among patients with neutropenia and hematologic malignancies. Clin Infect Dis. 2005; 40: 1087-93 Vogel CL, Wojtukiewicz MZ, Carroll RR, Tjulandin SA, Barajas-Figueroa LJ, Wiens BL, Neumann TA, Schwartzberg LS. First and subsequent cycle use of pegfilgrastim prevents febrile neutropenia in patients with breast cancer: a multicenter, double-blind, placebo-controlled phase III study. J Clin Oncol. 2005; 23: 1178-84 233 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:38 Seite 234 Thema V 234 MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis Ulrich Höffler Einleitung Staphylococcus aureus ist oft der erfolgreichste und wendigste aller pathogenen Keime genannt worden. Er besitzt einerseits die Fähigkeit, sich als harmloser Kommensale auf Haut und Schleimhaut zu vermehren, wobei er andererseits das Potenzial behalten hat, invasive, lebensbedrohende Krankheiten hervorzurufen [1-3]. Seit zwei Jahrzehnten steigt die Prävalenz aller Staphylokokkeninfektionen insgesamt weltweit an. Schließlich sind Staphylokokken in der Lage, rasch multiple Antibiotika-Resistenzen zu entwickeln, und die Verbreitung von multiresistenten Staphylococcus-aureusStämmen (MRSA) nimmt dramatisch zu [2]. Die folgende Übersicht dient einer Bestandsaufnahme der MRSA-Problematik unter besonderer Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse zu epidemiologischen Charakteristika und infektionsprophylaktischen Strategien in Klinik und Praxis. Habitat und Keimträger-Problematik Antibiotikasensible wie -resistente S.-aureus-Stämme sind die wichtigsten Erreger pyo-gener Infektionen beim Menschen. Sie bilden eine große Zahl von extrazellulären und zellständigen Virulenzfaktoren, die die Bakterien befähigen, der Wirtsabwehr zu entgehen und Infektionen hervorzurufen: Exoenzyme und Toxine, eine PolysaccharidKapsel, das Protein A, Proteine, die extrazelluläre Matrixproteine binden können u. v. a. Man unterscheidet lokalisierte Infektionen wie Abszess, Furunkel, Panaritium, Tonsillitis oder Osteomyelitis, systemische/fortgeleitete Krankheiten wie Sepsis und Endokarditis sowie toxinvermittelte Krankheiten. Im Gegensatz zu den feuchtigkeitsliebenden gramnegativen Stäbchenbakterien sind Staphylokokken trocknungsresistent und überleben monatelang in der Umgebung des Menschen. Keimträger bei Patienten und Personal sind aber die bedeutsamste Infektionsquelle für S.-aureus-Infektionen [3-6]. Es handelt sich um eine Kolonisation bei klinisch gesunden Personen. Hauptvermehrungsort sind die beiden Nasenvorhöfe, die etwa 1-2 cm tiefen Vestibula nasi mit den Vibrissae und deren Follikeln und Talgdrüsen (Abbildung 1). Während einerseits hinter dem Limen nasi die Schleimhaut beginnt mit ihren vielfältigen, natürlichen, auch gegen Staphylokokken gerichteten Abwehrmechanismen, und andererseits durch Waschen die S.-aureus-Flora auf der übrigen Epidermis des menschlichen Körpers immer wieder reduziert wird, stellen die Nasenvorhöfe optimale mikroökologische Nischen dar: talgdrüsenreiche Epidermis voller Nährstoffe wie Hautoberflächenlipide, Zelldetritus, eiweißreiche Sekrete, geschützt, warm, feucht, gut belüftet und, vom Standpunkt des Keimes aus gesehen, „strategisch“ äußerst günstig für die Weiterverbreitung. Von hier kann S. aureus aerogen ebenso wie durch Kontakt über den ganzen Körper und in die Umgebung abgegeben werden. Er hält sich besonders häufig gleichzeitig in Oropharynx, Perineum, Mamillen und an der Stirn-Haar-Grenze auf. Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 235 Thema V MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis Abbildung 1: Staphylococcus aureus beim Menschen: Hauptstandort Vestibulum nasi Es gibt 3 Keimträgerklassen: Persistierende oder Dauerkeimträger, intermittierende oder transiente Keimträger und Nichtkeimträger. Für die Allgemeinbevölkerung fanden Kluytmans et al. [3] in einer Übersichtsarbeit über 40 Jahre bei 13 873 untersuchten Personen in verschiedenen Län- Tabelle 1: Staphylococcus-aureus-Keimträger dern eine mittlere Keimträgerrate von 37,2 % bei einer Variationsbreite von 19-55 % (Tabelle 1). Bei bestimmten Grundkrankheiten werden häufiger Keimträger gefunden: Bis 76 % aller Typ I-Diabetiker, bis 84 % aller Hämodialyse-Patienten und bis 61 % aller i. v.-Drogenabhängigen sind 235 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 236 Thema V 236 S.-aureus-Keimträger. Wir selbst fanden bei einem präoperativen Screening von 4 974 herzchirurgischen Patienten in den Jahren von 1999 bis 2004 eine mittlere Keimträgerrate von 24,7 % antibiotikasensiblen wie resistenten Stämmen. Es gibt Hinweise darauf, dass genetische Wirtsfaktoren, kurzkettige Fettsäuren im Sebum, das HLA-DR3 und Bakteriozine der residenten Schleimhautmikroflora für das Keimträgertum verantwortlich sind. MRSA-Problematik Methicillin war das erste penicillinasefeste Penicillin. Resistenzen von S. aureus gegen diese Penicilline traten rasch auf und führten im angloamerikanischen Sprachraum zur Bezeichnung MRSA. Zunehmend werden unter MRSA jedoch heute multiresistente S.-aureus-Stämme verstanden, denn Methicillinresistenz bedeutet gleichzeitig Resistenz gegen sämtliche Betalaktamantibiotika einschließlich aller Cephalosporine und Carbapeneme. Weiterhin ist diese Resistenz nahezu regelhaft vergesellschaftet mit wechselnden Resistenzen gegen Makrolide, Chinolone, Aminoglykoside, Tetrazykline und Cotrimoxazol (Tabelle 2). MRSA haben weltweit dramatisch an Häufigkeit zugenommen [2]. Wirksame Substanzen sind letztlich oft nur die Glykopeptid-Antibiotika Vancomycin und Teicoplanin, die nicht per os gegeben werden können. 1997 wurden erstmals in Japan und schließlich in fast 20 weiteren Ländern MRSA isoliert, die auch gegen Vancomycin nur noch eine intermediäre Sensibilität aufweisen (VISA) oder tatsächlich resistent sind (VRSA). Somit müssen heute vielfach Antibiotika mit weiteren Nachteilen benutzt werden wie Fosfomycin, Rifampicin, Fusidinsäure oder Daptomycin, die sich teilweise nur als Kombinationspartner eignen und/oder schnell zu Resistenzen führen oder in Deutschland nicht zugelassen sind. Das letzte, neu entwickelte Handelspräparat mit Wirksamkeit gegen MRSA auf dem deutschen Markt ist Linezolid (Zyvoxid®) mit Tagestherapiekosten von 364,24 € (!). Tabelle 2: Epidemische MRSA-Stämme in deutschen Krankenhäusern Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 237 Thema V MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis Abbildung 2: Ausbrüche von epidemischen MRSA in Deutschland, 2004 Auch gegen diese Substanz sind jedoch bereits Resistenzen beschrieben worden. Das nationale Referenzzentrum für Staphylokokken im Robert-Koch-Institut (RKI), Berlin, hat zuletzt im Epidemiologischen Bulletin vom 14.10.2005 (Tabelle/Abbildung 2) ausführlich über die MRSA-Situation in Deutschland berichtet [2]. Je nach Resistenzphänotyp der MRSA-Stämme wird unterschieden zwischen dem Norddeutschen, dem Süddeutschen, dem Hannoverschen, dem Rhein-Hessen-, dem Wiener, dem Berliner und dem Barnim-Epidemiestamm. MRSA-Keimträger Nach einer Untersuchung in Altenheimen in Nordrhein Westfalen aus dem Jahre 2003 liegt die MRSA-Träger-Prävalenz dort bei 3 %. Nach einer Studie in Heidelberg und Ulm aus dem Jahre 2004 sind 0,7 % aller Patienten bei Hausärzten MRSA-Keimträ- ger. Nach Ludwigshafener Daten gibt es präoperativ bei herzchirurgischen Patienten zwischen 1 % und 2,7 % MRSA-Keimträger. Eine deutlich steigende Tendenz konnten wir in den letzten Jahren nicht feststellen. Das Keimträger- bzw. DauerausscheiderProblem ist seit Jahrzehnten bei einer Vielzahl von Bakterien und Viren bekannt, so z. B. bei Salmonellen, Shigellen, C. diphtheriae, N. meningitidis, Streptococcus pyogenes, Pneumokokken, Picornaviren, Hepatits-B-Viren, Noroviren u. v. a. Eine allgemeine Sanierung aller Keimträger bzw. Ausscheider erscheint völlig illusorisch. Wichtiges Ziel in Klinik und Praxis muss es aber sein, lebensbedrohliche MRSA-Infektionen wie Sepsis und Pneumonie zu verhindern. Maßgeblich sind in Deutschland die Vorgaben und Maßnahmen nach der RKI-Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention [9]. Sie dienen letztlich zum Kontaminationsschutz potenzieller Eintrittspforten wie Verweilkanülen, Gefäßkatheter, Portsysteme, Trachealtuben etc. bei den besonders infektgefährdeten 237 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 238 Thema V 238 Patienten in Kliniken, Altenheimen und Praxen. Zu diesem Zweck werden verschiedene Strategien verfolgt. Präoperatives Patienten-Screening auf S.-aureus-Keimträger Um MRSA-Träger in besonders sensible Bereiche gar nicht erst aufzunehmen, führt unsere Klinikum z. B. präoperativ ein Screening auf Staphylokokken-Keimträger einschließlich MRSA bei allen herzchirurgischen Patienten durch. Soweit bei elektiven Operationen klinisch vertretbar, werden die dabei entdeckten MRSA-Träger zunächst im häuslichen Bereich saniert und danach erst aufgenommen. Schutzmaßnahmen in Kliniken und Altenheimen Mit MRSA kolonisierte bzw. infizierte Patienten müssen räumlich von anderen Patienten isoliert werden. Eine Kohortenisolierung ist möglich. Bei Betreten des Zimmers ist ein Kittelwechsel vorzunehmen und der Mund-Nasenschutz anzulegen [diese und weitere Einzelheiten siehe bei 9]. Hände-Desinfektion Die Kontamination der Hände von Krankenhaus- und Praxispersonal ist von besonderer Wichtigkeit für die Weiterverbreiterung von Mikroben. In einem großen Review haben Kampf et al. [7] eine MRSAKontaminationsrate der Hände von Krankenhausmitarbeitern von bis zu 17 % in der Literatur gefunden. Die in Deutschland von der Fa. Bode entwickelte und seit ca. 1970 zunehmend etablierte Methode der hygienischen Hände-Desinfektion nach dem Einreibeverfahren mit Mischrezepturen von Alkoholen und Rückfettern gewährleistet eine Abtötung von 99,9 % aller Staphylokokken innerhalb von 30 Sekunden bei einer Remanenzwirkung von 99,0 % in den darauf folgenden 3 Stunden. Der präventive Wert dieser hygienischen Händedesinfektion kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sanierung von MRSA-Trägern Die Sanierung ist schwierig. In unserem Klinikum wird in einem 5-tägigen Zyklus folgendermaßen vorgegangen (Tabelle 3): Ganzkörperwaschung (einschließlich der Haare) täglich über 5 Tage mit dem Antiseptikum Octenisept® als 1:1 verdünnter Lösung, Einwirkzeit 2 Minuten, danach Abwaschen mit klarem Wasser, täglich frische Bettwäsche, Kleidung, Handtücher und Waschlappen, Wundbehandlung mit unverdünnter Octenisept®-Lösung oder Polyhexanid (Prontosan W®, Fa. Braun, Melsungen), gleichzeitig Sanierung der Nase mit dem Antibiotikum Mupirocin als Turixin®-Nasensalbe 3-mal täglich über 5 Tage und bei Besiedlung des Rachens 3-mal täglich Mundspülung mit unverdünnter Octenisept®-Lösung (bei Ablehnung alternativ Hexoral®). Erfolge sind abhängig vom Ort des Keimnachweises [5]: Nasenkeimträger beim Personal können allein mit Turixin®-Nasensalbe in 100 % der Fälle vollständig saniert werden, auch ohne Ganzkörperwaschung. Bei allen Patienten zusammengenommen liegen die Sanierungserfolge nach dem ersten Waschzyklus bei 62 %. Haben die Patienten jedoch Wundinfektionen mit MRSA, so liegen die Sanierungserfolge nach der ersten Waschung bei unserem Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 239 Thema V MRSA: Eine Problematik in Klinik und Praxis Tabelle 3: Sanierung von MRSA-Trägern im Klinikum LU Vorgehen nur bei 26 %. Auch bei Einsatz anderer Antiseptika zur Waschung wurden keine signifikant höheren Sanierungserfolge erzielt. Klotz et al. [6] diskutieren, ob MRSA im Stuhl zu den schlechten Sanierungserfolgen beitragen. Dokumentationspflicht nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) Nach § 23 IfSG vom 01.01.2001 [8] sind Leiter von Krankenhäusern und von Einrichtungen für ambulantes Operieren verpflichtet, das Auftreten von Krankheitserregern mit speziellen Resistenzen fortlaufend in einer gesonderten Niederschrift aufzuzeichnen und zu bewerten. Dies gilt insbesondere für MRSA und wird seitdem von den örtlichen Gesundheitsämtern bei allen routinemäßigen Begehungen in Kliniken und Praxen erfragt. Zusammenfassung MRSA (Multiresistente Staphylococcusaureus-Stämme) breiten sich weltweit dramatisch aus und verursachen in Klinik und Praxis zunehmend häufiger schwer therapierbare, invasive, lebensbedrohende Infektionen. Alle Strategien zur MRSA-Prävention haben ein Hauptziel: die Non-Infektion potenzieller Eintrittspforten für Staphylokokkeninfektionen! Zur Erkennung, Verhütung und Bekämpfung sind notwendig: eine mikrobiologische Diagnostik mit Spezies-Identifizierung und Antibiogramm, Hygienepläne in Klinik und Praxis nach der Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert-Koch-Instituts [RKI-Richtlinie; 9] sowie nach BGR 250/TRBA 250 Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen [10; auch gültig für Arzt-, Zahnarzt- und Tierarztpraxen!], die Beschäftigung von bzw. Beratung durch Hygienefachkräfte, Hygienebeauftragte (Ärztinnen/ Ärzte), Krankenhaushygieniker (Fachärzte 239 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 240 Thema V 240 für Hygiene) und eine Resistenzstatistik nach § 23 Infektionsschutzgesetz in allen Kliniken und Einrichtungen für ambulantes Operieren. Literatur [1] [2] [3] Bannerman TL. Staphylococcus, Micrococcus and other catalase-positive cocci that grow aerobically. In: Murray PR, et al. (eds.): Manual of Clinical Microbiology. ASM Press, Washington 2003 Anonymus: Zur MRSA-Situation in Deutschland im Jahr 2004: Bericht aus dem Nationalen Referenzzentrum für Staphylokokken. Epidemiol Bull Nr. 41; 14.10.2005 Kluytmans J et al. Nasal carriage of S. aureus: Epidemiology, unterlying mechanisms, and associated risks. Clin Microbiol Rev 1997; 10: 505-520 [4] von Eiff et al. Nasal carriage as a source of S. aureus bacteremia. N Engl J Med 2001; 344: 11-16 [5] Heitlinger 2004; http://diss.ub.uni-duesseldorf. de/ebib/diss/show?dissid=783 [6] Klotz M et al. Possible risk for re-colonization with methicillin-resistant S. aureus (MRSA) by faecal transmission. Int J Hyg Environ Health 2005; 208: 401-405 [7] Kampf G, Kramer A. Epidemiologic background of hand hygiene and evaluation of the most important agents for scrubs and rubs. Clin Microb Rev 2004; 17: 863-893 [8] Balis S et al. Infektionsschutzgesetz. Verlag W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 2001 [9] R.-Koch-Institut (Hrsg): Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Stand: Juni 2006. Urban und Fischer, München 2006 [10] BGR 250/TRBA 250 Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen. Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, Hamburg, 2003 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 241 Thema V Therapie und Prävention der Hepatitis B Therapie und Prävention der Hepatitis B Hermann E. Wasmuth, Frank Tacke, Christian Trautwein Zusammenfassung In den letzten Jahren konnten neue Therapiestrategien der chronischen Hepatitis B Virus (HBV) Infektion entwickelt und in die klinische Praxis eingeführt werden. Die unterschiedlichen Behandlungsoptionen haben zu einer deutlichen „Individualisierung“ der Therapie geführt. Die Indikationsstellung und Auswahl der geeigneten antiviralen Therapie richtet sich nach patientenspezifischen klinischen, biochemischen, virologischen und eventuell histologischen Befunden. Bei Nachweis definierter positiver Prognosefaktoren (z.B. niedrige Viruslast, hohe Transaminasen, kurze Infektionsdauer etc.) sollte eine Therapie mit Interferon-alpha eingeleitet werden, die heute meistens mit pegyliertem Interferonalpha durchgeführt wird. Unter diesem Therapieregime kommt es zu relativ hohen biochemischen und virologischen Ansprechraten. Alternativ können momentan die oralen Nukleos(t)idanaloga Lamivudin, Adefovir oder Entecavir eingesetzt werden. Unter Lamivudin besteht ein erhöhtes Risiko zur Selektion resistenter Virusstämme, die besonders nach mehrjähriger Therapie ein großes klinisches Problem darstellen. Adefovir und Entecavir zeigen insgesamt ein günstigeres Resistenzprofil, allerdings kommt es auch hier nach Resistenzentwicklung häufig zu einer Reaktivierung der Infektion. Weiterhin sind zum jetzigen Zeitpunkt die Kriterien zur Beendigung einer Therapie mit Nukleos(t)idanaloga noch nicht ausreichend definiert. Nicht zuletzt aufgrund der nicht optimierten Therapie- möglichkeiten, stellt die Prävention der HBV-Infektion somit ein wichtiges klinisches Ziel dar. Im Gegensatz zur Hepatitis C, steht bei der Hepatitis B eine effektive und sichere Vakzinierung zur Verfügung. Diese sollte nach den aktuellen STIKOEmpfehlungen bei allen Säuglingen und Kindern in Deutschland durchgeführt werden. Sie verleiht bei immunkompetenten Personen in über 95 % der Fälle einen sicheren Infektionsschutz über mindestens 10 Jahre. Einleitung Trotz einer allgemeinen Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche erkranken in Deutschland pro Jahr ca. 3 000-10 000 Patienten neu an einer Hepatitis B Virus (HBV) Infektion. Die überwiegende Anzahl aller Infektionen wird hierbei durch Sexualkontakte übertragen. Die Prävalenz der chronischen Infektion, definiert als eine Viruspersistenz mit begleitender Leberzellschädigung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten, beträgt in Deutschland aktuell ca. 500 000 Patienten [1]. Weiterhin können Risikogruppen identifiziert werden, in denen noch eine wesentlich höhere Rate an HBsAG Trägern nachweisbar ist [2]. Der natürliche Verlauf der HBV-Infektion wird durch das Wechselspiel zwischen Virusreplikation und resultierender Immunantwort bestimmt. Dieses führt im Erwachsenenalter spontan in über 90 % der Fälle zur Ausheilung der Infektion. Im 241 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 242 Thema V 242 Gegensatz hierzu nimmt die perinatal und im Kindesalter erworbene HBV-Infektion in den meisten Fällen einen chronischen Verlauf. Die Ursachen für diese Divergenz sind noch nicht gut verstanden. Die chronische Verlaufsform kann in etwa 30 % der Fälle zu Leberzirrhose mit Komplikationen der portalen Hypertension, sowie zur Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms (ca. 2 % der Patienten pro Jahr bei Vorliegen einer Leberzirrhose) führen. Therapie der akuten Hepatitis B Virus Infektion Die akute Hepatitis B, definiert als die erstmals aufgetretene Leberentzündung durch HBV, verläuft in den meisten Fällen unkompliziert und bedarf in der Regel keiner spezifischen Therapie. Bei wenigen (< 1 %) Patienten ist jedoch mit einem fulminanten Verlauf und progredientem Leberversagen zu rechnen [1]. In solchen Fällen hat sich die Therapie mit Lamivudin, einem antiviral wirkenden oralen Nukleosidanalogon, positiv auf die Rate an Komplikationen und die Notwendigkeit einer Lebertransplantation ausgewirkt [3]. Aktuell läuft zudem eine multizentrische Studie in Kooperation mit dem Kompetenznetz Hepatitis, welche die generelle Therapie der akuten Hepatitis B mit Lamivudin testet (GAHB-Studie). Die primäre Fragestellung der Studie bezieht sich auf eine schnellere klinische Besserung der Infektion durch die Gabe des Nukleosidanalogons und eine hierdurch bedingte Senkung der direkten und indirekten Kosten. Natürlicher Verlauf der chronischen Hepatitis B Virus Infektion Zur Indikationsstellung einer antiviralen Therapie bei chronischer HBV-Infektion ist das Verständnis des natürlichen Verlaufs der Infektion wichtig. Dieser wird schematisch in drei Phasen unterteilt [4]: die immuntolerante, die immunaktive und die niedrig- bzw. nicht-replikative Phase. Typisch für die Phase immunologischer Toleranz ist eine hohe Virusreplikation (nachweisbar durch hohe HBV-DNA Spiegel im Serum) mit Nachweis von HBeAg bei nur gering erhöhten oder normalen Transaminasen und nur geringer entzündlicher Aktivität in der Leber. Die Phase der Immunreaktion ist gekennzeichnet durch sinkende HBV-DNA Spiegel, aber deutlich erhöhte Transaminasen bei histologisch nachweisbarer Entzündungsreaktion in der Leber. Dies führt bei einigen Patienten zur Serokonversion von HBeAg zu anti-HBe und zum Übergang in die niedrig- bzw. nicht-replikative Phase mit HBV-DNA < 105 Kopien/ml. Diese ist durch normale Transaminasen und eine gute Prognose in Bezug auf die Entwicklung einer Leberzirrhose oder eines hepatozellulären Karzinoms gekennzeichnet [4]. Bei 30 % der Patienten mit chronischer HBV-Infektion findet sich dennoch eine hohe Virusreplikation, deutlich erhöhte Transaminasen und entzündliche Veränderungen im Lebergewebe. Diese Patienten werden in HBeAg positive und HBeAg negative Verläufe unterschieden. HBeAg negative Patienten mit hoher Replikationsrate tragen üblicherweise Mutationen im Precore-Gen oder im basalen Core-Promoter des Virus, so dass sie kein HBeAg synthetisieren können [5]. Diese HBeAg negativen Patienten zeigen nur sehr selten eine Spontanremission und machen heutzutage die Mehrzahl der behandlungsbedürftigen Patienten in Deutschland aus. Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 243 Thema V Therapie und Prävention der Hepatitis B Indikation zur Therapie bei chronischer Hepatitis B Virus Infektion Eine chronische Hepatitis B sollte antiviral behandelt werden, wenn die Transaminasen erhöht sind, histologisch zumindest mäßiggradige entzündliche Veränderungen im Lebergewebe vorliegen und eine relevante HBV-Replikation (≥ 105 Kopien/ml) besteht. Zudem ist eine Therapie bei Komplikationen der Infektion wie einer deutlichen Leberfibrose oder -zirrhose indiziert. Da der klinische Verlauf einer chronischen HBV Infektion sehr variabel ist, muss die Indikation zur Therapie aber für jeden Patienten individuell gestellt werden. Therapeutische Optionen bei chronischer Hepatitis B Für die Therapie der chronischen Hepatitis B sind in Deutschland derzeit Interferonalpha (IFN), Polyethylenglykol-modifiziertes („pegyliertes“) Interferon-alpha (PEG-IFN), Lamivudin (3'-Thiacytidin, ein orales Nukleosidanalogon), Adefovir (orales Nukleotidanalogon von Adenosin-Monophosphat) Tabelle 1: Zugelassene Medikamente zur Behandlung der chronischen Hepatitis B und Substanzen in der Prüfphase Medikament Status Interferon-alpha (Roferon A®, Intron A®) zugelassen Pegyliertes Interferon-alpha (Pegasys®, Pegintron®) zugelassen Lamivudin (Zeffix®) zugelassen Adefovir (Hepsera®) zugelassen Entecavir zugelassen Tenofovir (L-dT) Phase II/III Emtricitabine (FTC) Phase III Telbuvidine Phase III Clevudine (L-FMAU) Phase II L-dC, L-dA Phase II und ab Mitte 2006 Entecavir (GuanosinAnalogon) zugelassen. Weitere orale Nukleos(t)idanaloga (Emtricitabine oder Tenofovir) befinden sich in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Prüfung [4] (Tabelle 1). Prinzipielles Ziel aller aktuellen Therapiekonzepte ist es, die HBV-Replikation so weit wie möglich zu reduzieren, um die Entzündungsreaktion und die Fibroseprogression in der Leber zu hemmen. Tabelle 2: Prognosekriterien für ein Ansprechen auf eine IFN-Therapie bei chronischer Hepatitis B Gutes Ansprechen (positive IFN-Prognosefaktoren) Vermindertes Ansprechen (negative IFN-Prognosefaktoren) • hohe Transaminasen (ALT/GPT > 5X der Norm) • niedrige Transaminasen • Niedrige HBV DNA • hohe HBV-DNA • Infektion im Erwachsenenalter • perinatal erworbene Infektion • kurzer Verlauf seit Infektion • langer Verlauf • weibliches Geschlecht • männliches Geschlecht • HBV Genotyp A • HBV Genotyp D • asiatische Abstammung • Immunsuppression / HIV • Koinfektion mit HDV oder HCV • HBeAg negative Hepatitis B 243 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 244 Thema V 244 Interferone Die Abschätzung der Effektivität einer Interferontherapie erfolgt anhand definierter Prognosefaktoren (Tabelle 2). Zu den positiven Prognosefaktoren gehören ein kurzer Infektionsverlauf, hohe Transaminasen (> 5fach der Norm) und eine niedrige HBV-Replikation. In diesen Fällen ist, falls keine Kontraindikationen vorliegen, eine Interferontherapie indiziert [6]. In diesem Fall kann in über 40 % der Fälle eine Remission der Erkrankung erreicht werden. Ähnlich der Hepatitis C Infektion zeigen neuere Studien auch einen Einfluss des HBV-Genotyps auf den Therapieerfolg. Zur abschließenden Beurteilung sind aber noch weitere Untersuchungen notwendig, so dass die HBV Genotyp-Bestimmung noch nicht zur klinischen Routine gehört. Liegen keine positiven Prognosefaktoren vor, sollte primär der Einsatz eines oralen Nukleos(t)idanalogon erwogen werden. Das Fehlen von HBeAg ist ebenfalls mit einem reduzierten Ansprechen auf Interferon assoziiert [7]. Vor der Behandlung mit IFN muss unbedingt eine Vielzahl von relativen und absoluten Kontraindikationen beachtet werden [1]. Absolute Kontraindikationen sind beispielsweise die Diagnose einer Autoimmunerkrankung (z.B. Autoimmunhepatitis, Thyreoiditis), Depressionen, schwere bakterielle Infektionen oder aber auch eine bereits dekompensierte Leberzirrhose (Stadium Child B oder C). Neben den Standardinterferonen sind zuletzt auch Polyethylen-Glykol-modifizierte Interferone (PEG-IFN) bei Patienten mit chronischer Hepatitis B evaluiert worden. In großen Studien konnte die Effektivität der pegylierten Interferone bei Patienten mit HBeAg positiver und negativer chronischer Hepatitis B nachgewiesen werden [8-10]. Die Ansprechraten, die für PEG-IFN in diesen Zulassungsstudien erzielt worden sind, liegen in einer retrospektiven Auswer- tung etwas höher als für Standardinterferone [4]. Die Überlegenheit der PEG-IFN gegenüber Standardinterferon ist bislang aber nicht prospektiv nachgewiesen [11]. Auch konnte der potenzielle Nutzen einer Kombinationstherapie aus PEG-IFN und Nukleos(t)idanaloga noch nicht abschließend geklärt werden. Zwar ist die gleichzeitige Gabe von PEG-IFN und Lamivudin der PEG-IFN-Monotherapie sechs Monate nach Absetzen nicht überlegen, die Kombinationstherapie zeigte nach 48 Wochen Therapie aber eine bessere Hemmung der Virusreplikation [10]. Zudem existieren Hinweise, dass die Kombination aus IFN und Lamivudin das Auftreten Lamivudin-resistenter Virusstämme verzögert [12]. Außerdem ist möglicherweise im Langzeitverlauf das dauerhafte Ansprechen auf eine Kombinationstherapie von PEG-IFN und Lamivudin gegenüber Monotherapie(n) erhöht [13]. Lamivudin Oral applizierbare Nukleos(t)idanaloga blockieren das Umschreiben der viralen prägenomischen RNA in DNA und damit die HBV-Replikation. Bereits seit 1999 ist Lamivudin in Deutschland zugelassen. Das Präparat ist sehr gut verträglich und hemmt effektiv die HBV-Replikation, auch bei fortgeschrittenem Leberumbau (Stadium Child B oder C). Dies führt in den meisten Fällen auch zu einer wirksamen Reduzierung der entzündlichen Aktivität (biochemisch und histologisch) [14; 15]. Bei HBeAg-positiven Patienten kommt es unter der Therapie mit Nukleos(t)idanaloga nach einem Jahr Therapie bei 15-20 % zu einer HBeAg/antiHBeSerokonversion [4]. Patienten mit einer hochreplikativen HBeAg negativen chronischen HBV-Infektion sprechen ebenfalls in den meisten Fällen sehr gut auf Nukleos(t)idanaloga an, die dauerhaften virolo- Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 245 Thema V Therapie und Prävention der Hepatitis B gischen Ansprechraten nach Absetzen der Therapie sind allerdings niedrig (≤ 10 %). Daher ist aktuell davon auszugehen, dass Patienten mit HBeAg negativer Hepatitis B langfristig behandelt werden müssen [1; 16]. Ein wesentlicher Nachteil der Lamivudin-Therapie ist die Resistenzentwicklung des Virus unter Therapie. Hierfür ist eine Mutation im sogenannten YMDD-Motiv des Polymerase-Gens verantwortlich [5]. Lamivudin-resistente Stämme treten in 10-20 % nach einem Jahr und in 50 % der Patienten nach drei Jahren Therapie auf. Die Resistenzentwicklung ist mit einem Anstieg der entzündlichen Aktivität verbunden [17]. Problematisch ist das Auftreten Lamivudinresistenter Mutationen besonders in Patienten mit HBeAg negativer chronischer Hepatitis B, da HBV-Stämme mit Kombinationen aus den Precore- oder Basalen-Core-Promoter-Mutationen und Lamivudin-Resistenz in vitro eine erhöhte Replikation verglichen mit HBeAg-sezernierenden Lamivudinresistenten Viren zeigen [18]. [1]. Dies ist jedoch mit deutlich höheren Kosten (monatliche Therapiekosten ca. 120 Euro für Lamivudin, ca. 630 Euro für Adefovir) verbunden. Zu beachten ist, dass unter Adefovir (reversible) Nierenfunktionsstörungen auftreten können. Die Nierenfunktion ist daher unter der Therapie regelmäßig zu kontrollieren. Ähnlich wie für Lamivudin ist noch nicht abschließend geklärt, wie lange Patienten mit Adefovir behandelt werden sollten. In einer großen randomisierten Studie an HBeAg negativen Patienten zeigte sich, dass nach Absetzen von Adefovir regelhaft eine Virusreaktivierung erfolgt und die Therapieerfolge (wie z. B. eine Transaminasennormalisierung) verloren gehen [22]. Dies zeigt, dass zumindest HBeAg negative Patienten jahrelang (evtl. lebenslang) behandelt werden müssen und dementsprechend einer engmaschigen fachärztlichen Kontrolle bedürfen [1; 23]. Entecavir Adefovir Adefovir ist seit 2003 zur Behandlung der chronischen HBV-Infektion zugelassen. Adefovir hemmt sehr effektiv die Virusreplikation bei Patienten mit chronischer HBeAg positiver und negativer Hepatitis B und reduziert effektiv die entzündliche Aktivität in der Leber [19; 20]. Ein Vorteil von Adefovir ist das im Vergleich zu Lamivudin deutlich geringere Risiko der Selektion resistenter HBVMutanten. Das Risiko beträgt nach zwei Jahren 5 %, nach vier Jahren 20 % [5; 21]. Von besonderem Interesse ist, dass Adefovir auch gegenüber den Lamivudin-resistenten YMDD-Mutanten gut wirksam ist und daher das Mittel der Wahl beim Auftreten Lamivudin-resistenter Mutanten darstellt Entecavir ist in den USA und einigen europäischen Ländern bereits zur Therapie der chronischen Hepatitis B zugelassen. Für Deutschland ist die Zulassung für Mitte 2006 geplant. Die bisherigen klinischen Studien zeigen, dass Entecavir im Vergleich zu Lamivudin effektiver die HBV-Replikation hemmt und dass es unter der Therapie mit Entecavir seltener zur Selektion von resistenten Stämmen kommt. Weiterhin weisen erste Daten darauf hin, dass Lamivudinresistente Stämme gut auf eine Therapie mit Entecavir ansprechen. Über die Dauer der Therapie mit Entecavir gibt es naturgemäß noch keine ausreichenden Erfahrungen. 245 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 246 Thema V 246 Tabelle 3: Zusammenfassung der aktuellen Empfehlungen zur Behandlung der chronischen Hepatitis B Virologie Lebererkrankung Behandlungsoption(en) HBeAg +/– ALT normal Keine Behandlung indiziert. Regelmäßige Kontrollen erforderlich! HBeAg + ALT erhöht IFN/PEG-IFN ist 1. Wahl; bei Nichtansprechen oder Kontraindikationen: LMV, ETV oder ADV (bei LMV-Resistenz: ADV) HBeAg HBV DNA + ALT erhöht Möglich sind IFN / PEG-IFN über 1 Jahr, LMV, ETV oder ADV. Langzeittherapie erforderlich. Kontrolle von HBV DNA (bei LMV-Resistenz: ADV) HBeAg +/– Leberzirrhose Child A: IFN möglich (engmaschige Kontrollen!), LMV, ETV oder ADV (sicher) Child B, C: LMV, ETV oder ADV, Evaluation für Lebertransplantation! (bei LMV-Resistenz: ADV) Neue antivirale Substanzen und Kombinationstherapien Weitere Nukleos(t)idanaloga befinden sich in verschiedenen Phasen der klinischen Prüfung, so dass für die Zukunft mit weiteren Therapieoptionen zu rechnen ist (Tabelle 1). Manche Substanzen wie z. B. Telbivudine, Tenofovir oder Clevudine zeigten in ersten Studien eine exzellente Wirksamkeit gegen HBV [4, 24]. Allerdings bestehen bei einem Teil der untersuchten Wirkstoffe Kreuzresistenzen untereinander und gegenüber Lamivudin- oder Adefovirresistenzen [5]. Weiterhin häufen sich in der aktuellen Literatur die Hinweise, dass eine WirkstoffKombination zur Therapie der chronischen Hepatitis B Infektion – analog der HIVInfektion – wahrscheinlich in Zukunft von größerer Bedeutung sein wird [25]. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber noch unklar welche Kombinationen sich langfristig durchsetzen werden. Dies gilt sowohl für die Kombination von PEG-IFN mit Nukleos(t)idanaloga, als auch für die Kombination verschiedener Nukleos(t)idanaloga untereinander. Prävention der Hepatitis B In Anbetracht der verbesserten, aber weiterhin nicht optimalen Erfolge der antiviralen Therapie, hat die Prävention der chronischen Hepatitis B Infektion einen weiterhin hohen medizinischen Stellenwert. Daher wird seit 1996 auch in Deutschland die Impfung gegen Hepatitis B als Standardimpfung für alle Kinder und Jugendliche empfohlen. Dieses Vorgehen hat neben der Eindämmung der Neuinfektionen in Risikopopulationen auch die völlige Eliminierung des Hepatitis B Virus zum Ziel. Die Empfehlung einer Impfung im Säuglingsalter geht hierbei auf die gute Erreichbarkeit im Rahmen der regulären Vorsorgeuntersuchungen zurück und hat keine spezifischen medizinischen Gründe. Die Impfung erfolgt in diesem Alter meist als 6-fach-Kombinationsimpfstoff zusammen mit den Impfungen gegen Tetanus, Diphterie, Pertussis, Hämophilus-Influenza Typ B und Poliomyelitis. Dieser Kombinationsimpfstoff muss insgesamt viermal appliziert werden (mit 2, 3, 4 und 12 Monaten), während bei der monovalenten Hepatitis-B-Vakzine eine dreimalige Injektion in der Regel für den Impferfolg ausreicht [26]. Der Schutz vor einer Infektion ist nach der Impfung an das Vorhandensein von anti-HBs, den gegen das im Impfstoff ent- Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 247 Thema V Therapie und Prävention der Hepatitis B haltene HBsAg gerichteten Antikörpern, gebunden. Anti-HBs Werte in einer Größenordnung von größer 10 IU/l gelten allgemein als protektiv hinsichtlich einer Infektion mit HBV. Nachdem die Antikörperkonzentration kurz nach der Impfung ihr Maximum erreicht, fällt sie im Verlauf der nächsten Jahre bei allen geimpften Personen kontinuierlich ab. Bei 20-40 % der Geimpften fällt der Antikörperspiegel hierbei unter die Grenze von 10 IU/l, was bei diesem Personen eine erneute Impfung zum Schutz vor einer Infektion notwendig macht. Interessanterweise schützt die Impfung aber auch nach Unterschreiten der kritischen anti-HBs Konzentration vor einer manifesten Hepatitis B Erkrankung. Dies ist vermutlich auf das immunologische Gedächtnis und die rasche Immunantwort nach der Inokulation des Virus zurückzuführen. Bei Personen mit hohem Infektionsrisiko (z. B. Personen aus dem medizinischen Berufsfeld) sieht die STIKO dennoch aus Sicherheitsgründen eine Wiederimpfung nach 10 Jahren vor. Bei diesem Personenkreis ist auch eine Kontrolle des Impferfolgs durch quantitative Bestimmung der anti-HBs Titer empfohlen, was ansonsten nicht routinemäßig durchgeführt wird [27]. Menschen mit Immunsuppression durch Pharmaka oder im Rahmen einer HIV-Infektion sprechen schlechter auf die Standardimpfung gegen Hepatitis B an. Aber auch ca. 5 % von formal nicht immunsupprimierten Personen entwickeln nach einer dreimaligen Impfung keine anti-HBs Titer von mehr als 10 IU/l. Als Ursachen hierfür werden genetische Faktoren, Übergewicht und ein starker Nikotinkonsum gesehen. Auch das Alter der Impflinge spielt vermutlich eine wichtige Rolle. Bei diesen Personen sollten weitere Impfungen im Abstand von etwa 3 Monaten erfolgen, auf die bis zu 75 % der initialen Nonresponder im Verlauf ansprechen. Menschen mit bekannten Immundefekten sollten hingegen primär mit erhöhter Dosis des Antigens geimpft werden. Auch die zusätzliche Gabe der Standarddosis nach 2 Monaten, zu den Injektionen zu den Zeitpunkten 0, 1 und 6 Monate, ist erfolgreich getestet worden. Allerdings sind noch weitere Untersuchungen notwendig, um optimale Impfstrategien für diesem „Problemkreis“ zu entwickeln [28]. Literatur [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen. 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Der Kinderwunsch HIV-infizierter Frauen ist angesichts der deutlich verbesserten Prognose und der Reduktion des Transmissionsrisikos auf < 1 % durch Prophylaxemaßnahmen zur Normalität geworden. Die bisher übliche Zurückhaltung gegenüber Behandlungsoptionen aufgrund einer HIV-Infektion ist nicht mehr generell gerechtfertigt. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Prognose HIV-Infizierter nach Leber- und Nierentransplantationen nicht schlechter ist als bei HIV-negativen Patienten [7]. Die Behandlung von Tumorerkrankungen (Chemotherapie, Radiatio) sollte nach den gleichen Richtlinien wie bei HIVnegativen Patienten erfolgen, falls keine ausgeprägte Immunschwäche vorliegt. Eine weit fortgeschrittene Immunschwäche allein rechtfertigt keine Einschränkung intensivmedizinischer Maßnahmen, da mit einer HAART potentiell eine Immunrekonstitution möglich ist. Dominierende Todesursachen HIV-Infizierter in der HAART-Ära sind nicht mehr die klassischen AIDS-definierenden Erkrankungen. Durch die deutliche Verlängerung der Lebenserwartung erleben HIV-Infizierte nunmehr Endstadien HIV-unabhängiger chronischer Erkrankungen (z.B. chronische Hepatitis B- oder C-Infektion). Zunehmend häufiger treten Erkrankungen mit steigendem Risiko bei höherem Lebensalters auf, z.B. AIDS-unabhängige Tumorerkrankungen (u. a. Bronchialkarzinome) oder Herzkreislauferkrankungen. In Deutschland werden klassische AIDSdefinierende Erkrankungen nur noch bei folgenden Risikosituationen gesehen: 1. Unbekannte HIV-Infektion, so dass die AIDS-definierende Erkrankung der erste Hinweis auf eine HIV-Infektion ist, 2. HAART-Versagen durch Resistenzen gegen antiretrovirale Medikamente oder Mangel an Compliance, 3. Herkunft aus HIV-Endemiegebieten mit bisher unbekannter oder nicht behandelter HIV-Infektion. Der Fortschritt in der HIV-Medizin hat ein enormes Tempo. Da Therapierichtlinien ständigen Aktualisierungen unterworfen sind und häufig komplexe Behandlungssituationen vorliegen, bleibt die Behandlung der HIV-Infektion letztlich Spezialisten vorbehalten. Aktuelle Daten zur Behandlung und Epidemiologie sind auf etablierten Internetadressen abrufbar (Tabelle 1). 249 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 250 Thema V 250 Tabelle 1: Wichtige Internetadressen • Aegis: http://www.aegis.ch/neu/index.htm Tabelle 2: Epidemiologie der HIV-Infektion in Deutschland (Stand: Ende 2005), Quelle: Epidemiologisches Bulletin Nr. 47, Robert Koch-Institut, Berlin • AIDSinfo: http://www.aidsinfo.nih.gov/ HIV-Infizierte (lebend) • Bulletin of Experimental Treatments for AIDS: http://www.sfaf.org/beta/ • Männer ~ 39.000 • HIV InSite: http://hivinsite.ucsf.edu/ • Frauen ~ 9.500 • Kinder ~ 300 • International Association of Physicians in AIDS Care: http://www.iapac.org/ • Johns Hopkins AIDS Service: http://www.hopkins-aids.edu/ • The Body: http://www.thebody.com/ • AIDS.ORG: http://www.aids.org/index.html • HIV Clinical Resource, New York State Department of Health AIDS Institute: http://www.hivguidelines.org • HIV.net: http://www.hiv.net (deutschsprachige Internetadresse) • Clinical Care Options: http://clinicaloptions.com Epidemiologie Weltweit ist die Anzahl lebender HIV-Infizierter auf inzwischen 45 Millionen Menschen angestiegen, wobei anders als in Deutschland Männer wie Frauen bei überwiegend heterosexueller Übertragung gleichermaßen betroffen sind. In Deutschland ist die Anzahl lebender HIV-infizierter Menschen leicht auf 49 000 angestiegen (Tabelle 2). Im internationalen Vergleich ist die Zahl der Infizierten aber weiterhin sehr klein. Ein Grund für den leichten Anstieg in Deutschland ist der Zuwachs an lebenden HIV-infizierten Menschen durch die ~ 49.000 Geschlecht AIDS-Diagnose ~ 8.000 Infektionsrisiko • homosexuelle Kontakte ~ 31.000 • heterosexuelle Kontakte ~ 5.500 • Herkunft aus Hochprävalenzregionen ~ 5.500 • i.v. Drogengebraucher ~ 6.000 • Hämphilie und Bluttransfusion ~ 600 • Mutter-Kind-Transmissionen ~ 300 Epidemiologische Daten für 2005 Neuinfektionen ~ 2.600 • Männer ~ 2.250 • Frauen ~ 350 • Kinder ~ 20 Infektionswege • homosexuelle Kontakte ~ 1820 (ca. 70 %) • heterosexuelle Kontakte ~ 520 (ca. 20 %) • i.v. Drogengebrauch ~ 234 (ca. 9 %) • Mutter-Kind-Transmission ~ 20 (ca. 1 %) Neue AIDS-Erkrankungen ~ 850 Todesfälle ~ 750 Gesamtzahlen seit Beginn der Epidemie HIV Infizierte ~ 75.000 AIDS-Erkrankungen ~ 31.500 • Männer ~ 2.7000 • Frauen ~ 4.300 • Kinder ~ 200 Todesfälle ~ 26.000 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 251 Therapie der HIV-Infektion HAART-bedingte Verlängerung der Lebenszeit. Möglichweise spielt in Zukunft auch eine höhere Neuinfektionsrate eine Rolle. Während die Zahl der Neuinfektionen in den letzten Jahren mit ca. 2000 pro Jahr stabil war, ist es im Jahr 2005 erstmals zu einem Anstieg auf 2600 Neuinfektionen pro Jahr (30 % höhere Rate) gekommen. Neuinfektionen in Deutschland betreffen weiterhin überwiegend die bekannten Risikogruppen. Bei 70 % aller Neuinfektionen handelt es sich um homo- und bisexuelle Männer. Bei der heterosexuellen Ansteckung findet sich häufig ein Partner mit Risikogruppenzugehörigkeit. Etwa 20 % der Neuinfektionen werden bei Migranten mit Herkunft aus HIV-Hochprävalenzländern diagnostiziert. Diagnose der HIV-Infektion Noch immer wird die HIV-Infektion in vielen Fällen zu spät diagnostiziert. Bei frühzeitiger Diagnose kann durch die HAART eine fortgeschrittene Immunschwäche mit dem Auftreten von lebensbedrohlichen Immunschwäche-assoziierten Erkrankungen verhindert werden. Weiterhin kann bei Kenntnis der HIV-Infektion die Übertragung durch verantwortungsvolle sexuelle Aktivität vermieden werden (safer sex). Die akute Infektion unmittelbar nach Ansteckung führt in 30 bis 70 % aller Fälle zur selbstlimitierenden unspezifischen akuten HIV-Krankheit, die häufig unerkannt bleibt. Meistens entwickelt sich ein grippeartiges Mononukleose-ähnliches Syndrom (häufig Pharyngitis, Lymphknotenschwellung, Fieber, Hautausschlag) [5, 7, 9]. Der konventionelle HIV-Antikörper-Test fällt initial wegen des „diagnostischen Fensters“ (Zeitspanne bis zur Antikörperbildung) negativ aus und muss bei Verdacht nach 6 Wochen – auch nach Rückbildung aller Be- Thema V schwerden – wiederholt werden. Die PCR (Polymerasekettenreaktion) zum Genomnachweis erlaubt den Infektionsnachweis bereits nach wenigen Tagen, ist aber in der Regel nicht erforderlich, da eine akute HIVInfektion zur Zeit (Mitte 2006) keine gesicherte Therapieindikation darstellt. Grundsätzlich muss bei allen Erkrankungen, insbesondere bei Infektionskrankheiten, die in Zusammenhang mit einer eingeschränkten Immunität stehen könnten (ungewöhnliche Manifestationen, verzögerter Heilungsprozess, Rezidivneigung) die Möglichkeit einer chronischen HIVInfektion bedacht werden. Meistens bestehen im Verlauf unspezifische Symptome und Befunde wie Abgeschlagenheit und Gewichtsverlust oder suspekte Krankheitsmanifestationen, z.B. atypischer Herpes zoster (plurisegmentale Manifestationen), Mundpilz oder Thrombopenie. Die klassischen HIV-assoziierten ImmunschwächeErkrankungen sind in der weltweit verwendeten Klassifikation der Centers for Disease Control zusammengefasst [1, 5, 7, 9]. Ein HIV-Test sollte auch Angehörigen von Risikopopulationen angeboten werden. Hierzu zählen insbesondere Drogenabhängigkeit, Homo- und Bisexualität, Herkunft aus HIV-Hochprävalenzgebieten (z.B. Länder Afrikas südlich der Sahara) und sexuelle Kontakte mit Angehörigen von Risikopopulationen. Immer wieder werden Patienten mit der Diagnose einer HIV-Infektion aufgrund eines falsch-positiven HIV-Antikörper-Testes konfrontiert. Ein positiver Antikörper-Test muss durch einen positiven Bestätigungstest (z.B. Western Blot) bestätigt werden, bevor die Diagnose mitgeteilt werden darf. Die Übermittlung der HIV-Diagnose sollte im persönlichen Gespräch und unter Hinweis auf die relativ guten Behandlungsmöglichkeiten und die deutlich verbesserte Prognose erfolgen. Ohne aufklärendes Gespräch wird die HIV-Diagnose immer noch 251 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 252 Thema V 252 mit der Vorstellung von drohendem Siechtum und Tod und den AIDS-Krankheitsbildern der Vor-HAART-Ära verbunden. Sinnvoll ist auch die Kontaktherstellung zu Selbsthilfegruppen. Pneumokokken, Influenza). Wegen des erhöhten Risikos HPV-assoziierter Tumore (Analkarzinome, Zervixkarzinome) sollten regelmäßige Kontrolluntersuchungen erfolgen. Antiretrovirale Therapie (HAART) Management der HIV-Infektion Das Management der HIV-Infektion umfasst neben der antiretroviralen Therapie (HAART) und ihren Komplikationen (Nebenwirkungen, Langzeittoxizität) auch die Diagnose und Behandlung weiterer Erkrankungen [5, 7, 9]. Dies sind 1. häufige Ko-Infektionen (chronische Hepatitis B und C, Geschlechtskrankheiten wie Lues, Gonorrhoe und Chlamydien-Infektion), 2. Erkrankungen, die als Folge der verlängerten Lebenszeit auftreten (u.a. Endstadien der chronischen Hepatitis B und C, HIV-unabhängige Erkrankungen (z.B. Bronchialkarzinome) und 3. Immunschwäche-Erkrankungen [1], falls es bereits zur fortgeschrittenen chronischen HIV-Infektion gekommen ist. Bei fortgeschrittener Immunschwäche muss weiterhin eine Prophylaxe opportunistischer Infektionen erfolgen (Primär- und Rezidiv-Prophylaxe). Mehr als 95 % aller AIDS-definierenden Erkrankungen treten bei < 200 CD4-Helferzellen/µl auf. Etabliert sind die Prophylaxe der Pneumocystis jiroveci-Pneumonie bei < 200 CD4-Zellen/µl und die Prophylaxe der zerebralen Toxoplasmose bei < 100 CD4-Zellen/µl und gleichzeitigem Nachweis von Serum-IgG-Antikörpern gegen Toxoplasmen. Nach einer stabilen HAART-assoziierten Immunrekonstitution auf > 200 CD4-Zellen/µl kann die Prophylaxe beendet werden. Eine wichtige Säule des Managements ist der Impfschutz (u. a. Hepatitis A und B, Die folgenden Ausführungen zur HAART beziehen sich auf HIV-infizierte Erwachsene [5, 6, 7]. Bei Schwangerschaft müssen zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden [4, 7]. Bei Kindern gibt es aufgrund von physiologischen Unterschieden (u.a. altersabhängige Labornormwerte und unterschiedlicher Metabolismus) eigene Empfehlungen [7]. Therapieziele Primäres Ziel der HAART ist die vollständige und dauerhafte Suppression der Viruslast (nachweisbare Virusmenge im Blut) unter die Nachweisgrenze (zur Zeit 50 RNAKopien/ml), so dass Resistenzentwicklung dauerhaft vermieden wird [2, 5, 6, 7]. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass eine komplette Suppression der Viruslast und damit eine Verhinderung von Resistenzbildung für eine noch nicht absehbare Dauer von Jahren erreicht werden kann (Voraussetzung: Auswahl einer geeigneten Therapiekombination, Compliance). Durch die Virussuppression erfolgt in der Regel ein Anstieg der CD4-Zahl, auch bei bereits bestehender schwerer Immunschwäche. Bei einer CD4-Zellzahl von > 200/µl werden die meisten AIDS-definierenden Erkrankungen verhindert, und es kommt zu einer deutlichen Verbesserung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit [5, 6, 7]. Beginn der antiretroviralen Therapie Die HAART wird in der Regel immer bei Patienten mit einer symptomatischen chro- Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 253 Thema V Therapie der HIV-Infektion Tabelle 3: Indikationen für eine antiretrovirale Therapie (HAART) bei chronischer HIV-Infektion Klinik CD4-Zellzahl pro µl Plasma HIV RNA Empfehlung alle CD4-Werte alle Werte Behandlung Asymptomatisch < 200 alle Werte Behandlung Asymptomatisch > 200, aber < 350 alle Werte Behandlung anbieten (Diskussion der „pros and cons“) Asymptomatisch > 350 > 100 000 in der Regel abwarten Asymptomatisch > 350 < 100 000 abwarten Symptomatisch (AIDS oder AIDS-assoziierte Symptome) Quelle: Empfohlene Therapiekombinationen bei therapienaiven HIV-infizierten (Department of Health and Human Services; DHHS, Oktober 2005; http://www.aidsinfo.nih.gov) nischen HIV-Infektion begonnen (Tabelle 3). Bei asymptomatischen Patienten wird die HAART immer bei einer CD4-Zahl < 200/µl begonnen (kritische Risikoschwelle für das Auftreten der meisten schweren Erkrankungen). Bei Werten zwischen 200 und 350/µl wird die Therapie angeboten, wobei den Patienten aber noch Zeit bleibt, sich mit der HAART und dem Therapiebeginn auseinanzusetzen (größere Therapieeinsicht → größere Compliance und Akzeptanz von Nebenwirkungen → Reduktion von Resistenzentwicklung durch suboptimale Therapie). Bei CD4-Zellen > 350/µl wird in der Regel nicht behandelt (mögliche Ausnahme: hohe Viruslast im Blut), Es hat sich gezeigt, dass ein HAARTBeginn bei einer CD4-Zahl > 350/µl gegenüber einem Beginn zwischen 200-350/µl keinen Vorteil hinsichtlich der Abwendung von Morbidität und Mortalität hat. Andererseits können bei späterem Therapiebeginn unter Umständen jahrelang Nebenwirkungen und Toxizität sowie auch Kosten vermieden werden. Die akute HIV-Infektion stellt zur Zeit keine gesicherte Therapie-Indikation dar, da der Vorteil einer initialen, zeitlich begrenzten Behandlung hinsichtlich der Verlangsamung der Immunschwächeprogression nicht erwiesen ist [6, 7]. Die Frage des Vorteils der Behandlung einer akuten HIVInfektion hat sich durch die Möglichkeit der Immunrekonstitution auch bei fortgeschrittener Immunschwäche relativiert. Medikamente und Therapieregime Mit den zur Zeit wichtigsten Substanzen, die drei Substanzklassen angehören, werden zwei Virusreplikationschritte gehemmt [5, 6, 7]. Die virale Reverse-Transkriptase kann durch nukleosidale und nicht-nukleosidale Reverse-Transkriptase-Hemmer (NRTI und NNRTI) gehemmt werden. ProteaseHemmer (PI) hemmen die virale Protease (Tabelle 4). Mit dem Vertreter der vierten Substanzklasse, der zur Zeit nur bei vorbehandelten Patienten mit resistenten Viren eingesetzt wird (Salvage-Therapie), kann der Eintritt des Virus in die Zelle gehemmt werden (Tabelle 4). Die klassischen Dreifach-Kombinationsregime bei therapienaiven HIV-Infizierten bestehen aus einem „backbone“ mit zwei nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmern (NRTI) plus entweder einem nichtnukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmer (NNRTI) oder einem geboosteten Protease-Hemmer (Tabelle 5). Kombinationen aus drei NRTI sind den beiden anderen Dreifach-Kombinationen unterlegen [6, 7]. Protease-Hemmer werden fast nur noch „geboostet“ eingesetzt (therapeutischer PI in Kombination mit einem zweiten, pharmakologisch wirksamen PI in „baby-dose“ 253 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 254 Thema V 254 Tabelle 4: Zugelassene antiretrovirale Medikamente in Deutschland (Stand Dezember 2005) Handelsname Abkürzung Substanzname NRTI = Nukleosidische/nukleotidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren Combivir® CBV AZT + 3TC Emtriva® FTC Emtricitabin Epivir® 3TC 3TC, Lamivudin HIVID® DDC DDC, Zalzitabin Kivexa® 3TC + ABC Retrovir® AZT AZT, Zidovudin Trizivir® TZV AZT + 3TC + ABC Truvada® FTC + TDF Videx® DDI DDI, Didanosin Viread® TDF Tenofovir Zerit® D4T D4T, Stavudin Ziagen® ABC Abacavir NNRTI = Nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren Rescriptor® DLV Delavirdin Sustiva® EFV Efavirenz Viramune® NVP Nevirapin Aptivus® TPV Tipranavir Agenerase® APV Amprenavir Crixivan® IDV Indinavir Fortovase® SQV-FTV Saquinavir-Softgel Invirase® SQV-INV Saquinavir-Hardgel Kaletra® LPV/r Lopinavir (Ritonavir-geboostet) Telzir® FPV Fosamprenavir Norvir® RTV Ritonavir Reyataz® ATV Atazanvir Viracept® NFV Nelfinavir T-20 Enfuvirtid PI = Protease-Inhibitoren Fusionsinhibitoren Fuzeon® Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 255 Thema V Therapie der HIV-Infektion zur Erhöhung des Wirkspiegels). Für einige PI (Lopinavir, Fosamprenavir) wurde inzwischen nachgewiesen, dass der geboostete Einsatz das Risiko der Resistenzentwicklung minimiert (hohe pharmakologische und genetische Resistenzbarriere), sofern nicht bereits vorbestehende Resistenzmutationen eine Akkumulation weiterer Resistenzmutationen ermöglichen. Das Resistenzrisiko der NRTI und der NNRTI ist deutlich höher (bei einigen Substanzen Resistenz durch nur eine Mutation). Ein erhebliches Problem der PI und NNRTI sind ihre Arzneimittelinteraktionen. PI und NRTI werden durch das hepatische P450-Enzymsystem metabolisiert und agieren als Inhibitoren oder Induktoren. Bei KoMorbidität kann es zu Interaktionen mit einer Vielzahl von Medikamenten kommen (Notwendigkeit eines therapeutischen Drug-Monitoring). Seit wenigen Jahren gibt es hinsichtlich von Medikamentenkombinationen der ersten Wahl und der Präferenz einzelner Substanzen Therapieempfehlungen [6, 7]. Diese beruhen auf Auswertungen verfügbarer Daten aus Therapiestudien und dem Risiko von Nebenwirkungen. Kombinationen der ersten Wahl sind 2 NRTI plus entweder dem NNRTI Efavirenz oder dem mit Ritonavir geboosteten PI Lopinavir (Tabelle 5). Daten zu einer guten Wirksamkeit auch bei weit fortgeschrittener Immunschwäche (sehr niedrige CD4-Zahl, hohe Viruslast) sind bisher jedoch nur für PI-haltige Regime verfügbar. Bei der Wahl der Regime spielen auch Faktoren wie Anzahl der Pillen und Häufigkeit der Medikamenteneinnahme (Einnahme einmal oder zweimal täglich) eine Rolle [6, 7]. NRTI-sparende Regime (z. B. NNRTI plus geboosteter PI, geboostete Doppel-PI- Tabelle 5: Empfohlene Therapiekombinationen bei therapienaiven HIV-Infizierten (Department of Health and Human Services; DHHS, Oktober 2005; http://www.aidsinfo.nih.gov) Erste Wahl NNRTI + 2 NRTI Efavirenz + (3TC oder FTC) + (AZT oder TDF) PI + 2 NRTI Lopinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder TDF) Alternativen NNRTI + 2 NRTI Efavirenz + (3TC oder FTC) + (ABC oder ddI oder d4T) Nevirapine + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ddI oder ABC oder TDF) PI + 2 NRTI Atazanvir + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder ddI) + (TDF + ritonavir 100mg/d) Fosamprenavir + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI) Fosamprenavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI) Indinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI) Lopinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (d4T oder ABC oder TDF oder ddI) Nelfinavir + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI) Saquinavir (Ritonavir-geboostet) + (3TC oder FTC) + (AZT oder d4T oder ABC oder TDF oder ddI) 3 NRTI ABC + 3TC + AZT Abkürzungen: siehe Tabelle 4 255 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 256 Thema V 256 Kombination, geboosteter PI-Mono) könnten sich in Zukunft wegen der Vermeidung von Nebenwirkungen (NRTI-assoziierte mitochondriale Toxizität) als attraktive Alternativen erweisen. Voraussetzung ist aber der Nachweis, dass kein erhöhtes Risiko eines Therapieversagens und einer Resistenzbildung vorliegt. Immunrekonstitutionssyndrom/ Nebenwirkungen/Toxizität Durch die HAART kann es nicht nur zu der erwünschten Immunrekonstitution kommen, sondern initial auch zu einem Immunrekonstitutionssyndrom (hyperinflammatorisches Syndrom durch Wiedergewinnung immunologischer Kompetenz) [5, 7, 9]. Nach Ausschluss aktiver Erkrankungen kann eine anti-inflammatorische Therapie mit Steroiden und nicht-steroidalen Antiphlogistika notwendig werden. Neben kurzfristigen und häufig limitierten Nebenwirkungen (u. a. Übelkeit/Erbrechen und Durchfall) besteht ein hohes Risiko für Langzeit-Toxizität, die Klasse-spezifisch ist und vor allem die NRTI und PI betrifft [6, 7]. Bei den NRTI kann es zur mitochondrialen Toxizität (Störung des aeroben Energiestoffwechsels) mit einem breiten Spektrum von betroffenen Organsystemen kommen (u.a. Pankreatitis, Hepatitis, Laktatazidose, Myelosuppression, periphere Polyneuropathie). Durch die PI kann es zum Lipodystrophie-Syndrom kommen. Dieses ist gekennzeichnet durch ein metabolisches Syndrom mit Insulin-Resistenz und Hyperlipidämie sowie Fettverteilungsstörungen (u.a. Akkumulation von viszeralem Fett und dorsozervikalem Fett). Der subkutane Fettverlust im Gesicht und an den Extremitäten (Lipoatrophie), der zunächst ebenfalls als PI-Nebenwirkung angesehen wurde, ist im Wesentlichen NRTI-assoziiert. Die Langzeitfolgen des PI-assoziierten metabolischen Syndroms lassen sich zur Zeit noch nicht entgültig abschätzen (erhöhtes Risiko von kardiovaskulären Komplikationen? Herzinfarkte?). Grundsätzlich scheint das HAART-assoziierte metabolische Syndrom aber nicht annähernd das Risiko eines genetisch-familiär bedingten metabolischen Syndroms zu haben. Bei der Entscheidung der Behandlung einer Lipidämie bei HAART spielt die Frage, ob zusätzlich ein genetisch-familiäres Risiko vorhanden ist, eine entscheidende Rolle. Das kardiovaskuläre Risiko von HIV-Patienten kann insgesamt eher durch Diät und vor allem Nikotinabstinenz gesenkt werden als durch eine medikamentöse Behandlung des HAART-assoziierten metabolischen Syndroms. Die Therapie des Lipodystrophie/Lipoatrohie-Syndroms ist unbefriedigend [7]. Teilweise können Fettverteilungsstörungen durch Veränderungen des HAART-Regimes rückgängig gemacht werden. Durch die Einführung neuer Medikamente in den einzelnen Substanzklassen konnte das Risiko der Nebenwirkungen und Langzeit-Toxizität insgesamt gesenkt werden. Dauer der Therapie/Therapiepausen Eine ununterbrochene lebenslange antiretrovirale Behandlung schien bisher erforderlich, um eine Resistenzentwicklung möglichst lange verhindern zu können. Bei Therapie mit neueren Kombinationsregimen sind Therapiepausen nach bisher verfügbaren Erfahrungen jedoch bei nur geringem Risiko einer Resistenzentwicklung möglich [6, 7]. In der Regel kommt es nach einer Therapiepause wieder zur Virussupression unter die Nachweisgrenze und zum konsekutiven Wiederanstieg der Helferzellzahl. Nach dem Konzept von CD4-Zellzahl-gesteuerten Therapiepausen wird die HAART bei hoher CD4-Zahl unterbrochen und bei Abfall der CD4-Zell in den Risikobereich Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 257 Therapie der HIV-Infektion erhöhter Morbidität wiederaufgenommen. Die Dauer von CD4-Zellzahl-gesteuerten Therapiepausen wird somit durch die Geschwindigkeit des CD4-Zellzahl-Abfalls als Folge des Wiederbeginns der HI-Virusreplikation (nachweisbare Viruslast im Blut) bestimmt. Ziel von CD4-Zellzahl-gesteuerten Therapiepausen ist die Einsparung von Nebenwirkungen/Toxizität und Kosten, ohne dass das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko ansteigt. Inzwischen hat sich allerdings gezeigt, dass ein CD4-Zellzahlabfall auf < 250/µl in einer HAART-Pause im Vergleich zu einer ununterbrochenen Therapiefortführung zu einem signifikant erhöhten Morbiditätsrisiko führt (SMART-Studie). Ob dieses erhöhte Morbiditätsrisiko umgangen werden kann, wenn Pausen nur bei sehr hohen CD4-Zellzahlen begonnen werden, z.B. bei > 550/µl, und der Wiederbeginn bereits bei geringerem CD4-Zellzahlabfall als < 250/µl erfolgt, z. B. bereits bei < 350/µl, ist zur Zeit unklar. Therapiepausen dürfen in jedem Falle nur mit Resistenz-robusten Medikamentenkombinationen durchgeführt werden (besonders geeignet: geboostete Protease-Inhibitoren). Kombination mit resistenzanfälligen Medikamenten mit unterschiedlicher Halbwertszeit (bei Absetzen funktionelle Monotherapie) prädisponieren zur Resistenzbildung. Therapieerfahrene Patienten mit resistenten HI-Viren Bei Viren mit Resistenzen sind die Therapieoptionen limitiert [5, 6, 7]. Die Anzahl noch vorhandener Optionen ist abhängig von der Präsenz von Resistenzen in den drei Basis-Medikamentenklassen. NRTI und NNRTI sind erheblich resistenzanfälliger als Protease-Inhibitoren (PI). Solange noch keine Resistenzen gegen geboostete PI vorliegen, kann das primäre Therapieziel (Suppression der Viruslast im Blut unter die Thema V Nachweisgrenze) meistens noch erreicht werden. Bei „Drei-Klassen-Versagen“ ist das primäre Therapieziel der HAART der Erhalt einer möglichst hohen CD4-Zahl. Eine vollständige Suppression der Viruslast unter die Nachweisgrenze ist meistens nicht mehr möglich. Trotz nachweisbarer Viruslast (Virusreplikation) kann der CD4-Zellzahl-Abfall häufig deutlich verzögert oder die CD4-Zellzahl sogar lange stabil gehalten werden, da 1. meistens noch eine partielle Wirksamkeit bleibt, 2. Resistenzmutationen häufig die VirusReplikationsfähigkeit vermindern und 3. Resistenzmutationen durch Interaktionen zu einer Re-Sensibilisierung gegen einzelne Medikamte führen können. Durch eine neue PI-Generation mit deutlich weniger Kreuzresistenzen (nicht-peptidische PI, erster Vertreter: Tipranvir) und Einführung einer neuen Medikamenten-Klasse (Entry-Inhibitoren = Verhinderung des HIVEintritts in die Zelle, erster Vertreter: Enfuvirtid) haben sich die Behandlungsoptionen massiv vorbehandelter Patienten verbessert. Therapiepausen bei therapieerfahrenen Patienten (Intention: bessere Behandelbarkeit durch Wiederkehr des replikationsfreudigen empfindlichen Wild-Typ-Virus) müssen, auch wenn ein „Drei-Klassen-Versagen“ mit breitem Resistenzmutationsspektrum besteht, vermieden werden. Der durch eine Pause bedingte CD4-Zahl-Verlust kann durch den Anstieg bei HAART-Wiederaufnahme nicht kompensiert werden (höhere Morbidität und Mortalität als bei ununterbrochener Fortführung der HAART). Ein Therapieregime sollte nur umgestellt werden, wenn mindestens zwei neue wirksame Substanzen verfügbar sind, da es bei Zugabe nur einer Substanz schneller zur Resistenzbildung kommt. Diese zwei neuen Substanzen sollten in einer Kombi- 257 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 258 Thema V 258 nationstherapie zusammen mit einem optimierten Basisregime nach Maßgabe eines Resistenstestes gegeben werden, um jede nur mögliche antiretrovirale Aktivität auszuschöpfen [6, 7]. Vakzination gegen HIV und immunmodulatorische Therapie Eine wirksame therapeutische oder präventive Impfung gegen HIV ist in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Das Ziel immunmodulatorischer Ansätze ist die Verbesserung der Immunität zusätzlich zu der durch die HAART erreichte Immunrekonstitution. Etablierte und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gesicherte Behandlungssätze sind noch nicht verfügbar. HIV-Prophylaxe Prophylaxe der Mutter-Kind-Transmission Bei jeder Schwangeren sollte ein HIV-Test erfolgen, da sich bei Kenntnis einer HIV-Infektion durch Prophylaxe-Maßnahmen das natürliche Mutter-Kind-Transmissionsrisiko während Schwangerschaft und Geburt von ca. 25 % auf < 1 % reduzieren lässt [4, 7]. Die Mutter-Kind-Transmission erfolgt zu 80-90 % erst in den letzten Schwangerschaftswochen oder während der Geburt. Falls während der Schwangerschaft keine HAART erfolgt ist, sollte bei unkompliziertem Verlauf eine Transmissionsprophylaxe mit Gabe von antiretroviralen Substanzen, einschließlich Zidovudin, ab SSW 32 bis zur Entwicklung des Kindes (elektive Sectio vor Wehenbeginn ab SSW 37) durchgeführt werden. Das Neugeborene erhält post partum eine Prophylaxe für ca. 2-4 Wochen. Bei der Wahl der antiretroviralen Substanzen müssen mögliche Resistenzen berücksichtigt werden (Resistenztest des müt- terlichen Virus). Da auch die Brusternährung ein Transmissionsrisiko hat, dürfen HIV-infizierte Mütter nicht stillen. Postexpositionsprophylaxe Der Begriff Postexpositionsprophylaxe (PEP) bezieht sich zunächst auf den Schutz medizinischen Personals nach Exposition gegenüber HIV-kontaminiertem Material [3, 7]. Nach Stichverletzungen mit Kanülen, die mit HIV-haltigem Blut kontaminiert sind, beträgt das Infektionsrisiko ca. 0,3 %. Diese Risikokalkulation stammt aus der VorHAART-Ära. Bei HIV-Patienten unter einer HAART mit Suppression der HI-Virusmenge im Blut unter die Nachweisgrenze ist das Transmissionsrisiko wahrscheinlich kleiner. In der Vor-HAART-Ära konnte eine PEP mit nur einer antiretroviralen Substanz (Zidovudin) das Infektionsrisiko um ca. 80 % senken. Nach aktuellem Stand wird die PEP mit eine Kombination antiretroviraler Medikamente über eine Dauer von 4 Wochen durchgeführt (Beginn innerhalb der ersten 24 Stunden, am besten aber innerhalb der ersten 8 Stunden). Bei der Wahl der PEPMedikamente müssen vorhandene Resistenzen des möglicherweise übertragenen Virus berücksichtigt werden (HAARTAnamnese). Eine PEP wird generell bei Stichverletzungen empfohlen. Auch bei Schleimhautkontaminationen wird die PEP in der Regel empfohlen beziehungsweise angeboten. Bei Kontamination intakter Haut wird keine PEP empfohlen [3, 7]. Zunehmend häufiger scheint es zu Anfragen bezüglich einer PEP nach ungeschütztem oder wegen eines „geplatzten Kondoms“ unzureichend geschütztem Geschlechtsverkehr mit Sexualpartnern mit bekanntem oder unbekanntem HIV-Serostatus zu kommen. Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 259 Thema V Therapie der HIV-Infektion Prävention der HIV-Infektion Die Zahl der HIV-Neuinfektionen pro Jahr ist in Deutschland auf 2600 Fälle im Jahr 2005 angestiegen (30 % höhere Neuinfektionsrate als in den Vorjahren). Dieser Anstieg ist die Folge einer nachlassenden Aufklärung und einer nachlassenden Präventionsbereitschaft (safer sex). Das Risiko und die Konsequenzen einer HIV-Infektion werden angesichts der Behandlungserfolge in den letzten Jahren unterschätzt: 1. Trotz der deutlich verbesserten Prognose ist unklar, ob durch die HAART eine zeitlich unbegrenzte Kontrolle der Virusreplikation erfolgen kann. 2. Die HAART hat erhebliche Nebenwirkungen und eine erhebliche Toxizität mit teilweise noch nicht abzusehenden Langzeitfolgen. 3. Es besteht das Risiko der Ansteckung mit HI-Viren, die durch suboptimale Behandlung der HIV-Infektion beim Sexualpartner bereits Resistenzen gegen antiretrovirale Medikamente erworben haben. Damit ist die Behandelbarkeit der Infektion bereits primär eingeschränkt. In Deutschland finden sich bei ca. 10 % aller Neuinfektionen HI-Viren mit Resistenzen gegen Substanzen aus mindestens einer der drei überwiegend verwendeten Substanzklassen [7]. Die Transmission der HIV-Infektion lässt sich durch Präventionsmaßnahmen weitgehend vermeiden (safer sex, Kondomgebrauch). Das Risiko der Ansteckung durch einen infizierten Partner liegt bei ungeschütztem rezeptiven und insertiven analen Geschlechtsverkehr bei 0,5 und 0,07 %, bei ungeschütztem rezeptiven und insertiven vaginalen Geschlechtsverkehr bei 0,1 und 0,05 % [8]. Trotz des deutlich geringeren Risikos kann es auch beim Oralverkehr zur Ansteckung kommen. Das Risiko der Übertragung steigt mit der HI-Virusmenge im Blut. Die Suppression der Viruslast unter die Nachweisgrenze schließt eine Übertragung jedoch nicht aus. Bei intravenöser Drogenabhängigkeit lässt sich durch Vermeidung des Gebrauches von bereits benutzen Nadeln und Spritzen (kein „needle sharing“) eine Infektionsübertragung vollständig ausschließen (Risiko des „needle sharing“ bei HIV-Infektion 0,7 %) [8]. Zusammenfassung Die HIV-Infektion ist seit Mitte der 90iger Jahre durch die Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) zu einer behandelbaren chronischen Infektionskrankheit geworden. Die Morbidität und Mortalität sind drastisch gesunken. Unter günstigen Voraussetzungen dürfte die Lebenserwartung HIV-Infizierter die von Menschen ohne HIV-Infektion erreichen. Eine HIV-Infektion wird inzwischen zunehmend weniger als Ausschlusskriterium medizinischer Behandlungsoptionen betrachtet. So zeigen erste Erfahrungen, dass Nieren- und Lebertransplantationen bei HIV-Infizierten in der HAART-Ära nicht weniger erfolgreich verlaufen als bei Menschen ohne HIV-Infektion. Ziel der HAART ist die Unterdrückung der Virusreplikation (Virusmenge oder „Viruslast“ im Blut unter der Nachweisgrenze) und der damit verbundene Anstieg der CD4-Helferzellzahl im Blut (Immunrekonstitution). Der HAART-Beginn sollte nach aktuellen Empfehlungen erst bei fortgeschrittener HIV-Infektion erfolgen, d.h. bei einem Helferzellzahlabfall auf < 350/µl Blut. Die Risikoschwelle der meisten schweren Immunschwäche-abhängigen Erkrankungen liegt bei < 200/µl. Ein frühzeitigerer Beginn bietet derzeit keinen Vorteil. Die akute HIV-Infektion unmittelbar nach Ansteckung ist in der Regel keine Behand- 259 Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 260 Thema V 260 lungsindikation. Therapieempfehlungen bleiben aufgrund des raschen Fortschrittes ständigen Modifikationen unterworfen. Die Standardtherapie besteht derzeit aus einer Kombination aus Substanzen aus drei Medikamentenklassen, die zwei Schlüsselschritte im Virusreplikationszyklus hemmen. Inzwischen gibt es Kombinationen, die sich nach Wirksamkeits- und Verträglichkeitskriterien als überlegen erwiesen haben. In der Regel werden bei therapienaiven Patienten (keine Vortherapie, keine Resistenzen) Kombinationen aus zwei nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmern plus entweder einem nicht-nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Hemmer oder einem Protease-Hemmer verwendet. Die Einführung der „geboosterten“ ProteaseHemmer, die das Resistenzrisiko minimiert haben, ist ein wichtiger Fortschritt. Einfache Therapieregime sind inzwischen verfügbar (u. a. Einnahme einmal pro Tag). Das Therapieziel bei bisher nicht behandelten Patienten ist die vollständige und dauerhafte Suppression der Virusreplikation mit Vermeidung von Resistenzentwicklung. Dies kann mit den jetzt verfügbaren Therapiekombination über eine noch nicht absehbare Dauer von Jahren erreicht werden. Bei hoher Helferzellzahl scheinen geplante Therapiepausen bei sehr geringem Risiko von Resistenzentwicklung und hoher Wahrscheinlichkeit des erneuten Helferzellanstiegs bei Wiederaufnahme der HAART über Monate bis Jahre möglich. Ein Abfall der CD4-Zellzahl auf zu niedrige Werte (inzwischen bewiesen für einen Abfall auf < 250/µl) vor Wiederbeginn der HAART ist jedoch im Vergleich zu einer ununterbrochenen Fortführung der Therapie mit einem höheren Morbitätsrisiko verbunden. Bei Patienten mit bereits vorhandenen Resistenzen (therapieerfahrene Patienten), v.a. als Folge suboptimaler Vorbehandlung, sind die Therapieoptionen häufig limitiert. Das Therapieziel ist der Erhalt einer ausrei- chenden Helferzellzahl solange wie möglich, auch wenn keine vollständige Suppression der Virusreplikation erreicht werden kann. Resistenzteste sind zur Voraussetzung einer optimalen HAART, insbesondere bei therapieerfahrenen Patienten, geworden. Limitiert wird die HAART durch teilweise erhebliche Nebenwirkungen. Diese umfassen das Lipodystrophie-/LipoatrophieSyndrom mit Fettstoffwechselstörungen und Körperfettumverteilung (Risiko vermehrter Herzinfarkte?) sowie Störungen an diversen Organen durch Blockierung des natürlichen Ernergiestoffwechsels der Zellen (mitochondriale Toxizität). Nebenwirkungen sind immer noch der häufigste Grund für eine unregelmäßige Medikamenteneinnahme mit der Folge eines Therapieversagens (Virusreplikation mit Resistenzbildung und Helferzellabfall mit Auftreten von Erkrankungen). Immer noch wird die HIV-Infektion häufig zu spät diagnostiziert. Nur bei Kenntnis der HIV-Diagnose können durch rechtzeitigen Beginn einer HAART und Prophylaxe opportunistischer Infektionen Immunschwäche-Erkrankungen verhindert werden. Durch verantwortungsvolles Sexualverhalten (safer sex) können Sexualpartner geschützt werden. Die selbstlimitierende unspezifische akute HIV-Krankheit unmittelbar nach Ansteckung wird häufig als grippeartige Erkrankung (Pharyngitis, Fieber, Hautausschlag, Lymphknotenschwellung) verkannt. Der initiale HIV-Antikörper-Test fällt in den ersten Wochen nach Ansteckung oft noch negativ aus („diagnostisches Fenster“). Bei fortgeschrittener Immunschwäche erfolgt die Diagnose häufig erst bei Auftreten schwerer Erkrankungen, obwohl meistens zuvor verdächtige Krankheitszeichen der Immunschwäche bestehen oder epidemiologische Hinweise vorliegen (z.B. Risikogruppenzugehörigkeit). Thema05komplett.qxd 10.08.2006 07:39 Seite 261 Thema V Therapie der HIV-Infektion Bei Kenntnis der HIV-Infektion in der Schwangerschaft kann das natürliche Transmissionsrisiko durch Prophylaxemaßnamen (Behandlung der Schwangeren und des Neugeborenen, Kaiserschnitt) von ca. 25 % auf < 1 %. gesenkt werden. Der Kinderwunsch HIV-Infizierter Frauen ist in der HAART-Ära zur Normalität geworden. Die Postexpositionsprophylaxe (PEP), v.a. nach Nadelstichverletzungen im Zusammenhang mit der Behandlung HIV-infizierten Patienten, hat für medizinisches Personal unvermindert große Bedeutung. Durch die PEP kann das Transmissionsrisiko von 0,3 % um ca. 80 % gesenkt werden. Bei der Wahl des Prophylaxeregimes muss die Möglichkeit der Übertragung eines bereits resistenten Virus bedacht werden. Bei Kontamination intakter Haut mit HIVinfiziertem Blut ist in der Regel keine PEP erforderlich. Zunehmend gewinnt die PEP nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit Sexualpartnern mit HIV-positivem oder unbekanntem Serostatus an Bedeutung. Die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen (safer sex), durch die Transmissionen weitgehend vermieden werden können, müssen konsequent propagiert werden. In Deutschland ist es 2005 erstmals zu einem Anstieg von Neuinfektionen gekommen (2600 im Vergleich zu ca. 2000 Fällen pro Jahr in den Vorjahren). Die Hauptursache hierfür dürfte eine größere Sorglosigkeit beim „safer sex“ sein. Unterschätzt wird jedoch, dass 1. eine Immunschwäche zwar partiell behandelbar, eine Viruseradikation aber nicht möglich ist, 2. die HAART Nebenwirkungen noch nicht absehbare Folgen haben und 3. Viren mit Resistenzen und damit eingeschränkter Behandelbarkeit übertragen werden können (ca. 10 % aller Neuinfektionen in Deutschland). 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