Musliminnen in unserem Spital

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MARHAMA Sozial­ und Gesundheitsdienst für Migrantinnen und Musliminnen
1 Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................................................................ 2 Einleitung..................................................................................................................................................... 5 1. Transkulturelle Pflege und kulturelle Kompetenz ...................................................................................... 6 1.1 Was bedeutet für uns transkulturelle Pflege und kulturelle Kompetenz? .............................................. 7 1.2 Wie erlange ich transkulturelle Kompetenzen?.................................................................................... 8 2. Lebenssituation von MuslimInnen ............................................................................................................ 9 3. Das islamische Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung .......................................................12 4. Die Aufnahme ins Krankenhaus und Kommunikation...............................................................................14 4.1 Das ärztliche Aufklärungsgespräch ....................................................................................................16 5. Aktivitäten des täglichen Lebens .............................................................................................................18 5.1 Ethik und Moral, Schamgefühl, Geschlechterverhältnis ......................................................................18 5.2 Intimsphäre und Körperpflege............................................................................................................19 5.3 Das Gebet .........................................................................................................................................21 5.4 Ernährung und Speisevorschriften .....................................................................................................22 5.5 Das Fasten........................................................................................................................................23 6. Krankenbesuch und Bedeutung der Familie ............................................................................................25 7. Geburt, Kreißsaal und Wochenbett..........................................................................................................28 7.1 Exkurs: Schmerzempfinden ...............................................................................................................29 8. Sterben und Tod .....................................................................................................................................31 9. Medizinalethik .........................................................................................................................................32 9.1 Blutspende und Transfusion ..............................................................................................................32 9.2 Organtransplantation, Obduktion und Euthanasie ..............................................................................32 9.3 Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und künstliche Befruchtung....................................................32 9.4 Alkoholhältige Medikamente ..............................................................................................................33 9.5 Beschneidung....................................................................................................................................33 Anhang .......................................................................................................................................................34 1. Transkulturelle Pflegeanamnese .............................................................................................................34 2. Rückmeldungen von Pflegenden nach Fortbildungen in transkultureller Pflege im LKH Graz ...................35 3. Literaturverzeichnis.................................................................................................................................36 4. Kontakte .................................................................................................................................................37
2 Vorwort Die Bevölkerungsstruktur hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Steiermark und vor allem in der Landeshauptstadt Graz erheblich verändert. Menschen aus verschiedensten Ländern der Welt haben hier ihre zweite Heimat gefunden. Viele von ihnen bekennen sich zum Islam und möchten als MuslimInnen 1 Teil der Gesellschaft sein. gibt. Auch MuslimInnen wollen als eigenständige Individuen mit ihren Bedürfnissen in allen gesell­ schaftlichen Bereichen wahrgenommen werden. Sie brauchen Chancengleichheit in den Ausbild­ ungsmöglichkeiten und der Berufswahl ebenso wie als ErhalterInnen und KonsumentInnen des öster­ reichischen Sozial­ und Gesundheitssystems. In Österreich leben rund 400.000 MuslimInnen, das sind 4,9% der Bevölkerung 2 . Die Islamische Religionsgemeinschaft stellt nach der katholi­ schen Kirche die zweitgrößte Glaubensgemein­ schaft in Österreich dar. Die veränderte Bevölkerungsstruktur stellt eine Herausforderung für alle gesellschaftlichen Be­ reiche dar, auch für den Gesundheitsbereich. Um dem ethischen Grundsatz des patientenorientier­ ten Handelns gerecht werden zu können, ist kultu­ relle Kompetenz gefragt! In der Steiermark leben heute etwa 25 000 Men­ schen mit islamischem Glaubensbekenntnis. Für die meisten ist Österreich ihr Lebensmittelpunkt geworden: Sie haben hier nicht nur Arbeit ge­ funden, sondern auch Familien gegründet. Somit gibt es mit der zweiten Generation auch schon „einheimische“ MuslimInnen in der Steiermark. Zu erwähnen ist ebenfalls eine wachsende Anzahl von konvertierten österreichischen MuslimInnen. Daraus lässt sich bereits erkennen wie heterogen MuslimInnen sind. Verschiedene Kulturkreise prä­ gen ein jeweils eigenes Weltbild, eigene Wertvor­ stellungen und Lebensstile. So sollte klar sein, dass es den Muslim oder die Muslimin nicht 1 In dieser Broschüre wird die genderkonforme Schreibweise verwendet. 2 http://diepresse.com/or/bilder/2006_05/grafik­ moslems.jpg [19.06.2006] ÄrztInnen und Pflegepersonal begegnen fast täg­ lich PatientInnen aus dem islamischen Kulturkreis. Unterschiedliche Denkstrukturen und Verhaltens­ muster treffen bei diesen Begegnungen aufein­ ander. Um das „Fremde“ und „Andere“ als positive Bereicherung und nicht als Belastung oder per­ manenten Störfaktor zu begreifen, muss ein Um­ denkprozess stattfinden. Dafür ist es hilfreich, sich über verschiedene Religionen und Kulturen zu informieren, um einerseits die Sensibilisierung be­ züglich der eigenen Sichtweisen zu mobilisieren, und andererseits die unterschiedlichen Möglich­ keiten in der Gestaltung eines sinnvollen Lebens anzuerkennen. So wichtig Fortbildung und Selbstschulung in transkultureller Pflege ist: Letztendlich muss sich die veränderte Zusammensetzung der PatientIn­ nenstruktur auch in der Personalzusammensetz­ ung widerspiegeln. MigrantInnen bringen Kompe­
3 tenzen mit, die sie für die neuen Herausfor­ derungen im Gesundheitsbereich geradezu prä­ destinieren. Oftmals leisten sie bereits jetzt Arbeit, die zu wenig sichtbar gemacht wird und zu wenig Würdigung findet. So im konkreten Krankenhaus­ alltag, wo MigrantInnen gerne mit in einer dringen­ den Übersetzung hier, einem verständnisvollen Wort in der Muttersprache dort, aushelfen. MigrantInnen sollten in der Funktion als ÄrztInnen, Pflegepersonal und PatientInnen als Bereicherung wahrgenommen werden! Wir plädieren daher mit Nachdruck für eine verstärkte Ausbildung und Aufnahme von Perso­ nal mit Migrationshintergrund am LKH Graz. Dies wird für die Kommunikation und die Pflege der PatientInnen eine Verbesserung und für das Per­ sonal eine Erleichterung darstellen. Ein unüber­ sehbares Zeichen der interkulturellen Akzeptanz wäre die Aufnahme muslimischer, kopftuchtragen­ der Frauen in die Ausbildung und als Personal. Dies setzt gesamtgesellschaftlich betrachtet ein dringend notwendiges Zeichen. Aus allen Bevöl­ kerungsschichten, aus Stadt und Land, aus ver­ schiedenen Kulturen kommend, treffen sich Men­ schen im Krankenhaus. Das LKH präsentiert sich der Bevölkerung im Land als Innovationsträger und kulturell kommunikative Plattform. In dieser Vorzeigerolle würde es sich weit über die Landes­ grenzen hinaus profilieren! Neben all den ethischen Argumenten für eine interkulturelle Öffnung des LKH gilt es auch zu beachten, dass bereits 10% der Versicherten MigrantInnen sind. Sie sind wichtige KlientInnen des Krankenhauses und tragen somit zur Standortsicherung und zur Arbeitsplatzsicherheit bei. Eine mangelhafte Betreuung führt nicht nur zu Unzufriedenheit, sondern auch zu Mehrkosten. Veränderungen müssen strukturell und seitens der Krankenhausleitung durchgeführt werden. Aber „großteils fehlt in den Führungsebenen der Krankenanstalts­träger und in der Verwaltung von Krankenanstalten die Akzeptanz der Notwendigkeit einer Inter­kulturellen Integration“ 3 . Erstrebenswert wäre für die Zukunft, dass die Bezeichnung „MigrantInnenfreundliches Kranken­ haus“ eine Auszeichnung für das LKH Graz darstellt und alle MitarbeiterInnen darauf stolz sind. Dieser Ratgeber wurde im Rahmen des 2­jährigen EU­Projektes „Marhama­ Sozial­ und Gesund­ heitsdienst für Migrantinnen und Musliminnen“ er­ stellt und vom Interkulturellen Frauenverein Dscha­ nuub veröffentlicht. Er richtet sich in erster Linie an ÄrztInnen und Pflegepersonal, aber auch an das übrige Krankenhauspersonal, also an alle, die mit muslimischen PatientInnen kommunizieren und in Kontakt kommen. Er ist ein Versuch, eine Orien­ tierung im Umgang mit muslimischen PatientInnen ­ angepasst an die Verhältnisse am Grazer Landes­ krankenhaus ­ zu geben, die aber durchaus all­ gemeingültige Ratschläge und Hinweise für alle Krankenhäuser enthält. Vor allem soll auf die speziellen Bedürfnisse der weiblichen muslimi­ schen Migrantinnen aufmerksam gemacht wer­ den. Als Ziel unserer Bemühungen haben wir uns gesetzt, einen Beitrag zur Integration von Muslim­ Innen und MigrantInnen zu leisten. Einige der 3 Bundesministerium für Gesundheit und Frauen: „Projektbericht“, (September 2005), Online im: http://www.bmgf.gv.at/cms/site/attachments/6/5/0/CH00 83/CMS1126253889077/migratinnenplan.pdf [Stand: 19.06.2006].
4 vorgeschlagenen Maßnahmen werden bereits von einien Angestellten bzw. auf einzelnen Abtei­ lungen umgesetzt. Wir lernen in unserer Arbeit, in unseren Begegnungen viele Menschen kennen, denen dieses Thema ein wichtiges Anliegen ist. Für sie spielen Herkunft, Religion, Zugehörigkei­ ten letztendlich eine untergeordnete Rolle. Es ist die Menschlichkeit, der sie folgen. Ihnen beson­ ders gebührt unsere Anerkennung; ebenso wie dem leitenden Personal, das zu einer Kooperation bereit ist. Wir hoffen, dass unsere gewonnenen Erfahrun­ gen und die Auswertungen der Arbeit, die in diesem Ratgeber zusammengefasst sind, in künftige Pro­ jekte und Überlegungen einfließen werden. Lob und Preis gebührt Allah, der uns Musliminnen bei dieser Arbeit unterstützt und hilft. Interkultureller Frauenverein Dschanuub Graz, 2006
5 Einleitung In der Pflege gibt es verschiedene Modelle, die man grob in zwei große Richtungen einteilen kann: die medizinisch­orientierte und die patien­ tenorientierte Pflege. In der medizinisch­orientier­ ten Pflege wird die soziale, kulturelle und religiöse Zugehörigkeit des Menschen kaum eine Rolle spielen. Die patientenorientierte Pflege stellt den Menschen und damit auch ihre bzw. seine Bedürf­ nisse in den Mittelpunkt. Nur dieser Ansatz ermö­ glicht eine kompetente transkulturelle Pflege. Wir MigrantInnen und/oder MuslimInnen sind Menschen wie alle anderen auch. Auch wir wollen nicht kollektiv über einen Kamm geschert werden, sondern als Menschen und Individuen mit unse­ ren Bedürfnissen wahrgenommen werden. Wir bringen aber bestimmte Bedürfnisse mit, die von unserer Kultur, Tradition und Religion geprägt sind, wobei wir Kultur nicht als Statisches verstehen, sondern als etwas, das in Bewegung, im Fluss, in ständiger Veränderung begriffen ist. Der Mensch verändert sich durch seine Lebenserfahrungen, deren Teil auch Migration sein kann. Letztendlich konstruiert sich jedes Individuum seine/ihre eige­ ne Lebenswelt. Bestimmte kulturelle Merkmale müssen nicht auf alle zutreffen, die „von dort unten“ kommen. So­ wie es nicht „den Österreicher“ gibt, gibt es auch nicht „den Ausländer“, oder „den Muslim“. Solche meist negativ besetzte Zuschreibungen an eine vermeintliche oder wirkliche Gemeinschaft bedie­ nen in Wahrheit fremdenfeindliche oder gar ras­ sistische Vorurteile. Eine monokulturell ausgerichtete Pflege wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Professionelle Pflege, die patientenorientiert handeln will, muss die Le­ bensrealitäten und Bedürfnisse der Menschen be­ rücksichtigen. Sie sind integraler Bestandteil des Heilungsprozesses. Beim genaueren Betrachten können wir bereits innerhalb der Mehrheitsange­ hörigen Kulturunterschiede feststellen: Schicht­ zugehörigkeit, Bildungsgrad, Werte in der Herkunfts­ familie, Stadt/Land – all diese Faktoren spielen eine größere Rolle als manche wahrhaben wollen. Diese Faktoren prägen auch das individuelle Ver­ ständnis von Gesundheit und Krankheit und den Zugang zur medizinischen Versorgung. Nur nach außen hin – gegenüber Minderheiten, MigrantInnen, MuslimInnen – erscheinen sie als einheitliche Kul­ tur beziehungsweise wollen gerne als solche be­ trachtet werden. Wir MigrantInnen und MuslimInnen sind nicht kom­ pliziert und problematisch – sowie manche uns sehen wollen. Wir brauchen keine „Sonderbehandlung“, sondern wir wollen einfach eine patienten­orien­ tierte Pflege, die die Bedürfnisse ALLER berück­ sichtigt! Somit ist die Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der MigrantInnen und MuslimInnen für ALLE gut! Nun sind wir an dem Punkt angelangt, dass es nicht nur am Personal liegt, sich transkulturelle Kompetenzen anzueignen, sondern auch daran, Strukturen zu ändern. Sparmaßnahmen im Ge­ sundheitswesen lassen wenig Spielraum. Paradox ist aber, dass einerseits sehr viel Geld in die so genannte High­Tech­Medizin gesteckt, anderer­
6 seits beim Personal gespart wird. Dabei trägt Ver­ ständnis – was selbstverständlich Zeit vom Pfle­ gepersonal verlangt – einen gewichtigen Teil zur Heilung bei! In den Fortbildungen für LKH­Angestellte kommt immer der Wunsch nach mehr Anpassung seitens der migrantischen PatientInnen zur Sprache. Nach unseren Beobachtungen und Erfahrungen sind MigrantInnen sehr wohl bemüht, sich situations­ konform zu verhalten. Was aber situationskon­ form bedeutet, ist für Menschen aus anderen Kul­ turen mit ihren eigenen, erlernten Normen und Verhaltensmustern verbunden. Die verschiedenen Reibungspunkte werden hier besonders in den Kapiteln „Krankenbesuch“ und „Geburt, Kreißsaal und Wochenbett“ beschrieben. Ein Einblick in die „Lebenssituation von MigrantInnen“ kann auch zum Thema „Anpassung“ einige Erklärungen liefern. Wir plädieren für eine patientenorientierte Pflege, die wieder den Menschen mit seinen Bedürf­ nissen, seinem Wissen und seinen Erfahrungen, vor allem seiner Mündigkeit in den Mittelpunkt stellt. Nur darin eingebettet hat die transkulturelle Pflege ihren Platz.
7 1. Transkulturelle Pflege und kulturelle Kompetenz 1.1 Was bedeutet für uns transkulturelle Pflege und kulturelle Kompetenz? In der transkulturellen Pflege geht es darum, die Andere zu akzeptieren, so wie sie sind. Die frem­ de Kultur ist weder besser noch schlechter als die eigene Kultur. Wir verstehen möglicherweise nicht alles, was in dieser Kultur üblich ist, aber akzep­ tieren sie und fühlen uns nicht überlegener. Die Angehörigen einer Kultur betrachten wir nicht als Angehörige einer geschlossenen Gemeinschaft, welcher man statische Bedürfnisse und Gewohn­ heiten zuschreiben kann. Migrantinnen sind eben­ falls Individuen mit eigenen Bedürfnissen, Proble­ men und Fähigkeiten. Deswegen können auch nicht fixe Rezepte für den Umgang mit migranti­ schen und/oder muslimischen PatientInnen her­ ausgearbeitet und etwa in Fortbildungen weiter­ gegeben werden. In der transkulturellen Pflege geht es darum, Lebenswelten zu erfassen und sie im Pflegeprozess einzubinden. Die Interaktion, und eben nicht die Kultur werden zwischen Patient­ Innen und Pflegepersonal in den Mittelpunkt gestellt. Migrantische PatientInnen werden oft in erster Linie als Angehörige einer bestimmten Kultur wahrgenommen und nicht als PatientInnen, die mit ganz üblichen Problemen kämpfen müssen oder bestimmte Wünsche haben, die mit Religion oder Kultur gar nichts zu tun haben: Beispiel Eine Muslimin wird in einer psychiatrischen Anstalt stationär aufgenommen. Die Patientin äußert den Wunsch alleine in einem Zimmer zu liegen. Die Pflegepersonal denken sofort, dass sie das aufgrund des vielen Besuches bei muslimischen PatientInnen so haben möchte. Es stellt sich aber heraus, dass sich die Patientin so sehr für ihre Krankheit schämt und daher keine Mitpatientinnen wünscht. Beispiel In einem neu eröffneten Seniorenheim wurden alle MitarbeiterInnen transkulturell geschult und auf den Umgang mit BewohnerInnen aus ander­ en Kulturen vorbereitet. Nach einer gewissen Zeit wurde mit großer Freude und Neugier der MitarbeiterInnen ein muslimischer Mann türki­ scher Herkunft aufgenommen. Der Mann wün­ schte sich einen Teppich in seinem Zimmer. Alle Beteiligten bemühten sich aufs Äußerste, einen Teppich zu besorgen, damit der Mann sein Gebet verrichten kann; glaubten sie zumindest. Der Mann hatte aber bezüglich religiöser Praxis wenig im Sinn. Er pflegte auf dem Boden zu sitzen, so wie er das von zu Hause gewohnt war.
8 1.2 Wie erlange ich transkulturelle Kompetenzen? Um transkulturelle Kompetenzen zu haben muss ich: § mich mit meiner eigenen Kultur ausein­ andersetzen und sie reflektieren. Wir alle wurden in eine bestimmte Lebenswelt hineingeboren. Diese Lebenswelt beinhaltet vieles Nicht­Hinterfragtes und vieles, was uns selbst­ verständlich erscheint. Genau so bringen Migrant­ Innen ihre Lebenswelten mit. Wenn ich meine eigene Kultur hinterfrage, bin ich auch offener für die Lebenswelten anderer. Ich kann meine Fähigkeiten trainieren, aus der eigenen Le­ benswelt „auszusteigen“, um mich der fremden Le­ benswelt anzunähern und sie so zumindest wert­ neutral auffassen. § mir Hintergrundwissen und Erfahrungen aneignen. Dazu gehören Kenntnisse über migrationsspezi­ fische Lebensbedingungen (z.B. schlechte Wohn­ und Arbeitssituation der MigrantInnen), Zugangs­ barrieren zum Gesundheitsbereich (z.B. fehlende Informationen), unterschiedliche Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit (z.B. Erklärungen für Krankheitsursachen) und kulturelle bzw. religiöse Bedürfnisse (z.B. das Bedürfnis, das Gebet zu verrichten). Dieses Hintergrundwissen fördert das Verständnis und die Akzeptanz. Dieses Wissen kann ich mir nicht nur über Literatur und in Se­ minaren aneignen, sondern ich sollte auch die Chancen zum direkten Gespräch mit PatientInnen nützen. § Empathie im Umgang mit MigrantInnen zeigen. Empathie bedeutet Einfühlungsvermögen, die Fähig­ keit, mich in die andere Person hineinversetzen zu können. Ich zeige nicht nur professionelle Dis­ tanz, sondern versuche „Nähe“ herzustellen. Ich nähere mich den Gedanken und den Sorgen der MigrantIn an. Dies kann ich durch mein Interesse an der PatientIn ausdrücken, indem ich ihr Fragen zu ihrem persönlichen Befinden stelle und mich bemühe eine angemessene Gesprächsbasis für die jeweilige Situation zu finden. Siehe dazu die Transkulturelle Pflegeanamnese im Anhang. Es ist ganz wichtig, dass wir Gemeinsamkeiten su­ chen, und nicht immer von den Unterschieden re­ den und sie hervorheben.
9 2. Lebenssituation von MuslimInnen Entscheidend für Gesundheit und Wohlbefinden ist die Teilhabe an Wissen, Bildung, Arbeit, Wohnung und Geld. Wer schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren muss und in schlechten Wohnverhält­ nissen lebt, ist öfters krank und hat ein höheres Sterberisiko. Das Arbeitsunfallrisiko ist bei den unteren Einkommensschichten um ein Vielfaches höher: Wer um seinen Arbeitsplatz fürchten muss, geht auch noch als Kranker arbeiten. Wenn auch noch Visum und Aufenthaltstitel mit dem auf­ rechten Beschäftigungsverhältnis verbunden sind, wird der Druck noch größer. Kinder aus armen Familien sind öfters krank. Schlech­ tere Ernährung, weniger Bewegungsmöglichkei­ ten, feuchte Wohnungen, fehlendes Geld für immer öfter zu bezahlende ärztliche Leistungen und andere Nachteile, machen auf Dauer mehr krank. Die Mehrheit der MigrantInnen lebt in Österreich unter schlechten Arbeits­ und Wohnbedingungen. Mehr als die Hälfte der MigrantInnen arbeitet zu­ dem unter ihren in der Heimat erworbenen Qualifi­ kationen. In Graz leben rund 10.000 MuslimInnen. Nach wie vor wohnen die meisten in den Bezirken Lend und Gries – nicht weil sie freiwillig in einem dieser Viertel wohnen wollen, sondern weil der Zugang zu den besseren Wohnungen am linken Murufer erstens finanziell schwierig, und zweitens von vielen Ver­ mietern nicht erwünscht ist. Die Hälfte der migrantischen Haushalte leben von Einkommen im unteren Viertel. Viele haben eine körperlich anstrengende und schlecht bezahlte Arbeit. MigrantInnen sind von Erkrankungen des Stütz­ und Bewegungsapparates mehr als Österreicher­ Innen betroffen. Sie leiden unter Stress; ob auf­ grund der Diskriminierungen, der sozialen Isola­ tion, der mangelnden Gastfreundschaft, des Ver­ lustes der Heimat, der Entwurzelung oder der puren Sehnsucht nach der zurückgelassenen Fa­ milie. Diese psychischen Belastungen können krank machen! So sind MigrantInnen mehr als ÖsterreicherInnen von Magen­Darm­Krankheiten, wie Magengeschwüre oder Krebs, betroffen. Auch Kinder von Migrantenfamilien leiden: Sie ha­ ben öfters Asthma, Atemwegs­ und Durchfallerkran­ kungen. Grund dafür sind nicht nur die schlechten Wohnverhältnisse, sondern auch psychische Grün­ de, wie mangelnde Anerkennung in Schule und Kindergarten. Im Krankenhaus und beim Arzt werden Migrant­ Innen oft mangels Infrastruktur schlechter behan­ delt. Diagnose und Therapie werden nicht immer genau erklärt und/oder verstanden. Über viele Gesundheitseinrichtungen fehlt das Wissen. Oft fehlt einfach die Information über die möglichen Inanspruchnahme von PsychologInnen, Frühför­ derung, Eltern­Kind­Beratungsstellen, Gesunden­ untersuchung und andere Sozialleistungen. Auf­ grund der kulturellen und sprachlichen Barrieren können MigrantInnen zu PsychologInnen, Psycho­ therapeutInnen und ÄrztInnen auch nicht immer das notwendige Vertrauen entwickeln. Und wenn man vielleicht gar keine Krankenversicherung hat, sind viele Wege überhaupt versperrt. Selbst eine Mutter­Kind­Pass­Untersuchung ist dann nicht möglich. Die Mehrheit der MuslimInnen in der Steiermark sind MigrantInnen, deshalb reiht sich ihre Lebens­ situation in die allgemeine von MigrantInnen ein. Dies trifft auch dann noch zu, wenn schon viele
10 die österreichische Staatsbürgerschaft angenom­ men haben. Für die zweite Generation ist die ein­ zige Chance für einen gewissen sozialen Aufstieg über die Bildung gegeben. Sie erfordert von den Kin­ dern und Jugendlichen aufgrund der schlechten Ausgangslage sehr viel Anstrengung und Auf­ opferung! Die meisten MuslimInnen wurden vor Jahrzehnten als GastarbeiterInnen vorwiegend aus dem länd­ lichen Raum der Türkei/Kurdistan und Ex­Jugo­ slawiens, angeworben. Sie haben sich hier nieder­ gelassen, Familien gegründet oder ihre Familien nachgeholt. Ein weiterer Teil ist im Zuge des Krie­ ges am Balkan als Flüchtlinge nach Österreich gekommen, so aus Bosnien und dem Kosovo. Sie bilden mittlerweile die größte Gruppe der Muslim­ Innen im Land. In den letzten Jahren kamen vor allem Flüchtlinge aus den ehemaligen Sowjet­ republiken nach Österreich, viele aus Tschetsche­ nien. Darunter befinden sich auch mehrheitlich MuslimInnen. Manche MuslimInnen kamen zu Studienzwecken und sind dann auch geblieben. Wie alle Men­ schen wollen MuslimInnen nicht nur arbeiten, son­ dern auch ihre kulturellen, sozialen und religiösen Bedürfnisse leben. Ihre Religion praktizieren sie in unterschiedlichem Ausmaß. Abschließend soll noch auf das Sprachproblem eingegangen werden. Seitens des Krankenhaus­ personals wird es meistens als das Belastendste beschrieben. Von vielen hört man: „Wenn die Aus­ länder schon hier leben wollen, sollen sie auch Deutsch lernen.“ Prinzipiell sind wir der Meinung, dass man immer die Sprache des Landes lernen sollte, in welchem man lebt. Man kann sich dann sicherer und selbstbewusster in seiner Umge­ bung bewegen. Nun gibt es verschiedene Gründe, warum das Erlernen der Fremdsprache manchmal schwer fällt. Zum einen haben manche Muslim­ Innen und MigrantInnen, viele unter ihnen Frauen aus dem ländlichen Raum, keine Schulbildung. Ohne Schulbildung ist verständlicherweise das Er­ lernen einer Sprache schwierig. Für andere hingegen ist es bereits die dritte, vier­ te, fünfte Sprache, die sie lernen. Hier in Österreich als Flüchtling, Arbeitsmigrant­ Innen, im Zuge der Familienzusammenführung ange­ kommen, träumen viele auch nach Jahren noch von der Rückkehr in die Heimat. Manche sind viel­ leicht auch deshalb nicht sehr motiviert, Deutsch zu lernen. Stress durch Beruf, Versorgung der kleinen Kin­ der, mangelnde Kinderbetreuungsplätze und Kurs­ angebote gestalten den Spracherwerb schwierig. Letztendlich haben viele auch einen Deutsch­Kurs besucht – aber ohne weitere Praxis kann man keine Sprache lernen. Die Arbeitskolleginnen sind meist keine Österreicherinnen, die Nachbarin grüßt lediglich und will keinen Kontakt darüber hinaus, im Supermarkt ist durch Selbstbedienung ist die Kommunikation auf Minimum reduziert. Eine zu­ nehmende Isolierung macht die Kontaktaufnahme schwer, insbesondere Hausfrauen leiden darun­ ter. So kann Deutsch verlernt werden, auch wenn man in einem deutschsprachigen Land lebt! Alle paar Monate ein Arztbesuch reicht für den Spracherwerb sicher nicht aus. Natürlich kann das Krankenhauspersonal diese Defizite nicht aus­ gleichen, sondern sich nur mit Glossaren und fremd­ sprachigen Aufklärungsblättern behelfen. Eine wir­ kliche Lösung kann nur durch die verstärkte Auf­ nahme von fremdsprachigem Personal erreicht
11 werden. Auch in dem von Marhama erhobenen Fragebogen (Herbst 2005) wurde dies seitens der Migrantinnen als eines der wichtigsten Anliegen formuliert. Weiters möchten wir auf das Phänomen hinweisen, dass negative Erfahrungen viel stärker in der Wahrnehmung des Krankenhauspersonals prä­ sent sind. So wurde auch in der Studie vom Hanusch­Krankenhaus Wien 4 erhoben, dass mig­ rantische PatientInnen vom medizinischen Per­ sonal überdeutlich wahrgenommen werden. Ihr Anteil an der Abteilung wird im Durchschnitt zwei­ bis dreimal höher geschätzt als dies wirklich der Fall ist. MuslimInnen wollen sich – entgegen verlautbarter Studien – in diese Gesellschaft integrieren. Nur: Inte­ gration bedeutet nicht Assimilation. Jemand kann sich nur integrieren, wenn man mit der eigenen Identität anerkannt und respektiert wird. Muslim­ Innen – auch Frauen mit Kopftuch – wollen Zu­ gang zu guter Bildung und guter Arbeit. Sie wollen nicht im Abseits leben, sondern an dieser Gesell­ schaft teilhaben. 4 Vgl. Eichbauer, Hans / Heuermann, Andrea / Krausbar, Pia: Gelebte Integration im Krankenhaus. Pilotprojekt zur Verbesserung der interkulturellen Kommunikation und Betreuung im Krankenhaus am Beispiel der gynäkologisch­geburtshilflichen Abteilung des Hanusch­Krankenhauses, Wien (Jänner 2004), Online im http://vgarchiv.orf.at/austria/de/pool/dokumente/Gelebte %20Integration%20im%20Krankenhaus%20­ %20Pilotprojekt%20Hanusch%20Abschlussbericht.pdf [19.06.2006]. Ausdrücklich erwähnen möchten wir noch einmal, dass jeder Mensch ein Individuum mit seinem eigenen Lebenskonzept ist. Folgende allgemeine Informationen über muslimische PatientInnen müssen deshalb nicht für jeden einzelnen zutreffen. Sie sollen Ihnen als Grundlage zur Reflexion dienen.
12 3. Das islamische Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung „Für jede Krankheit gibt es eine Medizin und wenn die geeignete Medizin angewandt wird, wird man geheilt mit der Erlaubnis Allahs, des Erhabenen, des Majestätischen.“ (Spruch des Propheten Muhammad) Aus dieser und vielen anderen Überlieferungen des Propheten Muhammad (Allahs Segen und Frieden auf ihm) ist die Grundeinstellung des Islam zu Gesundheit und Krankheit ersichtlich: Muslim­ Innen sind neben der Verpflichtung zur Gesund­ heitserhaltung auch zur aktiven Beteiligung an thera­ peutischen und pflegerischen Maßnahmen aufge­ rufen. Dies geschieht jedoch mit dem Bewusst­ sein und Vertrauen, dass Gott allein die heilende Kraft ist. Krankheit wird nicht als Strafe oder gar Zorn Gottes empfunden, sondern als Prüfung und in weiterer Folge als Gnadenerweis und Sünden­ vergebung. Durch die Krankheit werden der Glau­ be und die Geduld des Kranken auf die Probe ge­ stellt. Neben medizinischen Ursachen kennen gläubige MuslimInnen auch andere Erklärungen für Krank­ heiten, wie z.B. Dschinne (Geistwesen), den „bö­ sen Blick“ (Neid und Eifersucht), Sihr (Schadens­ zauber), die durch Koran und Sunna 5 als krank­ machende Ursachen bestätigt werden. 5 Das vorbildhafte Leben des Propheten Muhammad und seine Überlieferungen, die für MuslimInnen als zweite Wissensquelle neben dem Koran gelten. Heilen kann man sich in diesen Fällen durch die Rezitation von Koran, oder durch eine theologisch gebildete Drittperson. Dadurch sollen der Glaube, die Seele und der Körper ­ die im Islam stets eine Ein­ heit bilden ­ gestärkt werden. Dies wird im folgenden Koranvers bestätigt: „Sprich: Er (der Koran) ist denjenigen, die glauben, eine Rechtleitung und eine Heilung.“ (Koran 41:44) Weiters glaubt man an die überlieferte Propheten­ medizin und verwendet gerne Olivenöl, Schwarz­ kümmel und Wasser von der Quelle Zamzam, aus der heiligen Stadt Mekka. Sowohl religiöse Heiler­ Innen, Hodschas, traditionelle Hebammen als auch traditionelle Medizin sollten nicht als Konkurrenz zur Allgemeinmedizin, sondern als Co­Therapie verstanden werden. MuslimInnen nehmen sie ger­ ne zusätzlich zur Behandlung im Krankenhaus in Anspruch. Neben diesen islamisch­theologisch begründeten Aspekten gibt es eine Reihe von Auffassungen über Ursache von Krankheit und Heilung, die der eigentlichen islamischen Theologie und deren Emp­ fehlungen für das Verhalten von MuslimInnen nicht entsprechen, sondern in Tradition und Kultur wurzeln. Dennoch werden sie von manchen Mus­ limInnen gelebt. Dazu zählt das Krankheitsverstän­ dnis als Ausdruck von Gottes Zorn und Strafe. Es kommt vor, dass über Trauer und Schmerz in lautem Klagen geäußert, ein schwerer Schicksals­ schlag verarbeitet wird. Es gibt auch traditionelle Interpretationen, welche die Ursache der Krank­
13 heit in einem „verrutschten“ Organ, wie dem Nabel, oder der Zunge, sehen oder sie mit mangelnder Sonne im Herzen, zuviel Hitze im Kopf und Ähnli­ chem erklären. Zum Schutz vor Krankheiten oder dem „bösen Blick“ trägt man dann Amulette und Talismane. Dies gilt in der Theologie jedoch als islamwidriges Verhalten, denn Schutz kann allein Allah ge­ währen. Für Menschen, die solche und ähnliche Praktiken bevorzugen, sind das unverzichtbare Lebensele­ mente, die ernst genommen werden sollten. Viele ExpertInnen sind einig darüber, dass sich die Be­ sinnung auf Religion und das Ausüben der religiö­ sen Praktiken positiv auf PatientInnen und ihr Be­ finden sowie den Heilungsprozess auswirken. MuslimInnen können in der Regel dem hier übli­ chen, sehr technokratischen Verständnis von Medizin nicht viel abgewinnen. Der kranke Mensch in seiner Komplexität, seelisch, psychisch, körper­ lich, geistig, steht für sie im Mittelpunkt: Eine Krank­ heit betrifft nie nur ein Organ alleine, sondern den ganzen Menschen. Sie wehren sich dagegen, Objekt einer Medizin zu sein, die meint, eine Krank­ heit unabhängig vom Individuum behandeln zu können. Heilung muss den Körper, die Seele, den Glauben, die Familie, die Lebensverhältnisse mit­ einbeziehen ­ sowie es bereits arabische Ärzt­ Innen vor 1000 Jahren erkannt haben.
14 4. Die Aufnahme ins Krankenhaus und Kommunikation Artikel 2 der Patientencharta besagt: „Die Persön­ lichkeitsrechte der Patienten und Patientinnen sind besonders zu schützen. Ihre Menschenwürde ist unter allen Umständen zu achten und zu wahren.“ Die Berücksichtigung der religiösen Bedürfnisse und die Ermöglichung der religiösen Betreuung wer­ den in Artikel 12 ausdrücklich erwähnt. Ambulante Behandlung oder stationärer Aufent­ halt im Krankenhaus stellen für die meisten Men­ schen eine große Belastung dar. Bei Menschen aus anderen Kulturen und Religionen kann man sogar von einer Mehrfachbelastung sprechen: Ver­ ständigungsschwierigkeiten, Befürchtungen, ob die eigenen religiösen Bedürfnisse auf Unverständnis stoßen werden, Ängste aufgrund der Nicht­Kenn­ tnis des hiesigen Gesundheitssystems, viele Unsicher­ heiten begleiten die PatientIn. Umso wichtiger er­ scheint uns der Erstkontakt des Pflegepersonals und der ÄrztInnen mit der PatientIn. Wir wissen, dass die Krankenhausroutine dafür wenig Zeit lässt. Und dennoch: Ob ein Teil der Befürchtun­ gen und Ängste gleich am Anfang beseitigt wer­ den kann, hängt in hohem Maße vom Aufnahme­ gespräch ab. Ein informatives und klärendes, kul­ turell kompetentes Gespräch ist die Basis für ein gutes Verhältnis zwischen PatientInnen und Per­ sonal. Erst unter diesen Voraussetzungen können Sie wichtige und wertvolle Informationen für die Pflege und Behandlung sammeln. Wir empfehlen, eine transkulturelle Pflegeanam­ nese zu erheben, weil Sie dadurch individuelle Er­ kenntnisse über die betreffende Patientin gewin­ nen können. Durch konkrete und offene Fragen zu religiösen und kulturellen Praktika können Sie von vornherein eine Vertrauensbasis schaffen und so mögliche spätere Konflikte vermeiden. Nicht alle Fragen müssen immer bzw. sogleich gestellt wer­ den, manches ergibt sich im Laufe des Aufent­ halts. Erleichterung für das Aufnahmegespräch würde ein Pflegeanamnesebogen in verschiede­ 6 nen Sprachen bringen , der aufgrund der Art der Fragen leicht auszuwerten ist (Fragen zum an­ kreuzen). Ein solcher sollte für ÄrztInnen/ Pflege­ personal auf Stationen für den Bedarf zur Ver­ fügung gestellt werden. Hier einige Ratschläge, deren Berücksichtigung vielleicht zeitaufwendiger ist, aber Ihnen in der Praxis den Umgang mit muslimi­ schen PatientInnen erleichtern kann: § § 6 Beginnen Sie das Gespräch mit alltägli­ chen Fragen. Fragen zum persönlichen Befinden, zur Familie und eventuell zum Herkunftsland wecken Sympathie. Ihr gezeig­ tes Interesse für die Bedürfnisse der Pa­ tientIn kann zum Aufbau einer vertrauens­ vollen Beziehung beitragen. Vermeiden Sie die leider oft praktizierte, aber unangemessene Sprachstrategie: laute, ganz langsame Sprache, Wiederholun­ gen, Infinitivsätze, (z.B. Mutter krank, Spi­ tal sofort, Arzt kommen schnell), Klein­ kind­Kommunikation und die Du­ Anrede Zum Abrufen unter http://www.healthylanguages.com/healthylanguages/.
15 § § § (z.B. heute Essen gut – Rindfleisch ­ viel essen ­ du gesund) Für den Aufbau einer Beziehung ist Kom­ munikation notwendig, aber nicht unbe­ dingt nur verbal: Mitgefühl und Offenheit können durch Blicke, Gesten und Gesichts­ ausdruck vermittelt werden. In vielen Fällen ist eine Kommunikation mit PatientInnen mit geringen Deutschkennt­ nissen möglich, wenn Sie nonverbale Techniken verwenden, wie das Zeigen und Demonstrieren, die Bildertafeln, Bild­ und Wörterbücher, Glossare für das Kranken­ haus und Dolometer (eine Skala von „keine Schmerzen“ bis „unerträgliche Schmerzen“). § § § Übung Wie würden Sie mit einer taubstummen Pa­ tientIn kommunizieren, wenn kein Gebärden­ dolmetscher anwesend ist? Übung „Versuchen Sie sich an einen Urlaub in einem fremden Land zu erinnern. Wie viel Kreativität setzten Sie ein, um mit einem anderssprachigen Menschen kommunizieren zu können? Haben Sie etwa nicht ihre Hände eingesetzt, Bilder gezeigt oder angefertigt, Wörter gesucht, von denen man annimmt, dass sie auch von An­ derssprachigen verstanden werden können… Diese Art von Verständigung hatten Sie be­ stimmt nicht als belastend empfunden, ganz im Gegenteil, Sie hatten Spaß daran. Vergleichen Sie diese Situation mit der Situation, in der Sie als ÄrztIn/Pflegender einer anderssprachigen PatientIn im KH gegenüberstehen. (Vgl. Domenig 2001:203). § 7 Sollte ein Dolmetscher benötigt werden, ziehen Sie professionelle DolmetscherInnen zu Rate. Im LKH liegen Listen von Dol­ metscherInnen auf, die zur Verfügung stehen! Das Beiziehen von anderen Patient­ Innen oder Putzpersonal zum Zweck des Übersetzens wird als unangenehm empfun­ den (Stichwort: Schweigepflicht­Verletzung). Fragen Sie die PatientIn selbst, ob sie Fa­ milienmitglieder beim gedolmetschten Ge­ spräch dabei haben möchte. Sollte Informationsmaterial in der Mutter­ sprache vorhanden sein, bieten Sie es 7 routinemäßig und unaufgefordert an . Wenn sich die Patientin als Muslimin iden­ tifiziert oder Sie das annehmen, erklären Sie ihr, dass sie die Möglichkeit hat, fleisch­ freies bzw. schweinefleischfreies Menü zu essen. Bieten Sie den Kontakt mit Marha­ ma oder der Islamischen Religionsge­ meinde an. Überreichen Sie zur Hilfe den mehrsprachigen Marhama­Folder und er­ klären Sie auch, dass man das Gebet im islamischen Gebetsraum im LKH verrich­ ten kann. Allein durch diese Angebote können Sie gleich am Anfang das Ver­ trauen der PatientIn gewinnen, welches Sie später in der Pflege und Therapie gut gebrauchen können. Bei einer Frau, die sich als religiös zu er­ kennen gibt, empfiehlt sich die Frage, ob die Betreuung und Pflege durch weibli­ ches Personal erwünscht ist. Im LKH­ Graz wird es in Zukunft mehrsprachige Formulare und Aufklärungsblätter in den Ambulanzen und Krankenstationen (Kinder, Gyn./Gebär) geben.
16 § Sie können auch gleich die Besuchszei­ ten mitteilen und ruhig darüber informie­ ren, sollten auf Ihrer Station eher Einzel­ besuche zu empfehlen sein. Zu berücksichtigen ist ebenfalls die Tatsache, dass immer wieder PatientInnen mit Migrations­ hintergrund Kommunikationsschwierigkeiten oder ein nicht­situationskonformes Verhalten haben. Dies lässt sich nicht nur auf mangelnde Sprachkennt­ nisse zurückführen. Bitte bedenken Sie, dass diese eventuell § § § § § § Ängste aufgrund der Nicht­Kenntnis des Spitalsablaufs oder des hiesigen Gesund­ heitssystems haben einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben oder in prekären, unzumutbaren Lebens­ bedingungen leben (Flüchtlingsheime, Sub­ standardwohnungen, …) oder keine Sozial­ versicherung haben von Abschiebung bedroht sind oder sich Sorgen um die Familie in der Heimat machen AnalphabetInnen sein können in ihrer Heimat Opfer oder ZeugInnen von Gewalttaten (Vergewaltigungen, Mord, Miss­ handlungen, Krieg) waren und deswegen unter schweren psychi­ schen Belastungen stehen, an einem Trau­ ma oder bereits an schweren psychi­ schen Erkrankungen leiden 4.1 Das ärztliche Aufklärungsgespräch Eine Kommunikation kommt nicht zu Stande, wenn es Verständigungsschwierigkeiten gibt. Solche basie­ ren aber nicht nur auf sprachlichen ­ wie viele den­ ken ­ sondern auch auf sozialen und kulturellen Unterschieden: Die PatientIn redet nicht nur in einer anderen Sprache, sondern sie redet über etwas anderes. PatientInnen können als Ursache für ihre Krankheit nicht nur organische Gründe, sondern die in Kapitel 3 erwähnten subjektiven Ursachen anführen, was bei den meisten Ärzt­ Innen hier auf Unverständnis stößt. Es kommt vor, dass eine Patientin ihre Krankheit anders als hier üblich beschreibt und die ÄrztInnen sie nicht mehr verstehen – auch wenn sie Deutsch spricht. Bei­ spielsweise redet die türkische Patientin von Be­ schwerden an der Leber und meint damit eigent­ lich die Lunge. Dazu muss man wissen, dass die Lunge auf Türkisch „weiße Leber“ genannt wird. Auch andere Erkrankungen im Bauchraum wer­ den dem zentralen Organ der Leber zugeordnet ebenso wie Trauer und Bitterkeit, die wiederum symbolisch mit der Erkrankung der Leber um­ schrieben werden. Weiters können nicht nur verschiedene Inhalte zu Missverständnissen führen, sondern auch die Aus­ drucksweise. In Österreich bevorzugen ÄrztInnen ein rein technisches Aufklärungsgespräch. Damit kön­ nen viele MuslimInnen nicht viel anfangen, weil eine Krankheit sie in ihrer Gesamtheit betrifft. Ihre emotionale Art zu sprechen, weit in die Vorge­ schichte auszuholen Assoziationen mit anderen Erfahrungen zu tätigen, viele verschiedene Be­ lange in den Kontext der Krankheit zu stellen, all das stößt wiederum bei den ÄrztInnen hier leicht auf Ablehnung und Ärger und das nicht zuletzt wegen der mangelnden Zeit. Auch die gern gestellte Frage am Ende des Ge­ sprächs „Alles verstanden?“ sagt nicht viel aus. In der arabischen und türkischen Kultur ist der Erklä­
17 rende für das Verständnis verantwortlich und so­ mit gilt es als unhöflich, diese Frage zu verneinen! In diesen Kulturen würde gefragt werden: „Habe ich verständlich erklärt?“ Menschen aus dem islamischen Kulturkreis wün­ schen sich eine persönliche Beziehung zum Arzt/ zur Ärztin. Eine anonyme Überweisung ans LKH stellt für sie bereits eine Barriere dar. Sie wollen gerne zu einer bestimmten Ärztin überwiesen wer­ den, sind dann auch enttäuscht, wenn gerade die­ se heute nicht da ist. So ist auch die Du­Form sei­ tens der PatientInnen nicht als unhöflich aufzu­ fassen: erstens existiert die Sie­Form nicht in allen Sprachen, zweitens ist die Du­Form Ausdruck einer Zufriedenheit mit der Arzt­Patienten­Bezie­ hung. PatientInnen aus dem islamischen Kultur­ kreis haben auch gerne den direkten Kontakt. Die Anonymität, schriftliche Informationen, kühle Dis­ tanz wirken auf sie eher abstoßend, weil sie ver­ unsichern. Sie wünschen das Gespräch, dass die Ärztin oder der Arzt sich für einen Moment neben das Bett hinsetzt, auch mit Gesten eine persön­ liche Beziehung herstellt – das hat großen sym­ bolischen Wert. So gäbe es noch viele andere Beispiele, die aber diesen Rahmen sprengen würden. Wie oft passie­ ren Missverständnisse zwischen ÖsterreicherInnen – obwohl sie die gleiche Sprache sprechen! Je unter­ schiedlicher die Denk­ und Wertsysteme sind, desto mehr Empathie verlangt die Kommunika­ tion. Fremdsprachige PatientInnen leben in unbe­ kannteren Welten, nehmen ihre Krankheit anders wahr und gehen mit ihr anders um. So ist es unbedingt notwendig, eine Brücke zur Patientin zu schlagen, mit ihr ausführlich zu reden, um zu er­ fahren, welche Bedeutung die Krankheit für sie hat. Um eine gute medizinische Behandlung zu errei­ chen, muss die Perspektive der Patientin verstan­ den werden! Kommunikationsschwierigkeiten können unter an­ derem auch zu falschen Diagnosen, zu kostenauf­ wendiger, weil überflüssiger Diagnostik und fal­ scher Anwendung der vorgeschlagenen Therapie führen. Verständnis hingegen fördert Heilung. Beispiel Eine 35­jährige türkische, kopftuchtragende Pa­ tientin mit guten Deutschkenntnissen war einige Wochen lang wegen eines schweren Knochen­ bruches auf einer chirurgischen Station. Da die Frau kurz vor ihrem Unfall ein Kind geboren hat, lag das Baby mit ihr im Krankenzimmer und wurde von der Mutter gestillt. Daher war die Medikamenteneinnahme eingeschränkt, worüber die Mutter ganz genau informiert wurde und Bescheid wusste. Es kam aber einige Male vor, dass der Arzt ihr eine Infusion verabreichen wollte: Die Patientin sagte, sie nehme dieses Medikament nicht. Der Arzt ignorierte ihre Be­ merkung und machte einfach weiter. Die Pa­ tientin fühlte sich vollkommen diskriminiert und schlecht behandelt.
18 5. Aktivitäten des täglichen Lebens 5.1 Ethik und Moral, Schamgefühl, Geschlechterverhältnis Die Gebote der islamischen Morallehre haben zum Ziel, die Institution der Ehe und Familie zu schüt­ zen. Sie werden als wichtige Grundlage einer ge­ sunden Gesellschaft angesehen. In diesem Sinne wird die Sexualität als wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens betrachtet, ihre Aus­ übung jedoch nur im Rahmen der Ehe erlaubt. Um dieses Gebot erhalten zu können, sind be­ stimmte Vorschriften als prophylaktische Maß­ nahmen vorgesehen: Kleidungsvorschriften für Männer und Frauen, gesundes Schamgefühl, zurückhaltendes Verhalten, Vermeidung von kör­ perlichen Kontakt zwischen nicht­verwandten Män­ nern und Frauen, die Geschlechtertrennung in bestimmten Lebensbereichen, wie bei sportlichen oder feierlichen Aktivitäten, keine intimen Be­ rührungen zwischen Eheleuten im öffentlichen Raum. Beispiel Eine muslimische Patientin ist nach ihrer Ope­ ration bettlägrig. Die junge Zimmernachbarin bekommt Besuch und tauscht mit diesem intensive Küsse aus. Die Muslimin fühlt sich sehr beschämt, kann aber das Zimmer nicht ver­ lassen und weiß nicht, wie sie reagieren soll. Was dem Krankenhauspersonal sicherlich am meis­ ten auffällt und die meisten Fragen aufwirft, ist die Art der Bekleidung von gläubigen Musliminnen. Sie bedeckt den ganzen Körper, mit Ausnahme von Händen und Gesicht. Für viele Musliminnen ist der „Gesichtsschleier“ Ausdruck der Religio­ sität und des Stolzes, und nicht ein Zeichen der Unterdrückung, wie es oft in den europäischen Ge­ sellschaften gesehen wird. Eher unbekannt sind die Bekleidungsgebote für muslimische Männer: Ihre Kleidung soll nicht eng und durchscheinend sein, und den Körper mindestens von Nabel bis Knie bedecken. Diese Vorschriften sind auf das islamische Glau­ benskonzept zurück zu führen, dass dem Körper einen hohen Wert verleiht. Die körperliche Unver­ sehrtheit bezieht sich sowohl auf die Vermeidung von Körperkontakten zwischen nicht­verwandten Männern und Frauen, als auch auf den Schutz vor fremden Blicken des anderen Geschlechts. Das daraus resultierende Gefühl der Scham ist ein bei allen Menschen vorzufindendes Gefühl, das oft bei gläubigen muslimischen Männern und Frauen stärker ausgeprägt und von größerer Be­ deutung ist. Die Missachtung dieses Gefühles und die damit verbundene Diskriminierung kann von Muslimen und insbesondere von Musliminnen als Respektlosigkeit und massiven Eingriff in die In­ timsphäre empfunden werden. Viele MuslimInnen verzichten aus diesem Grund auf das Händeschütteln mit dem andersgeschlecht­ lichen Personal, was auf keinen Fall als Be­ leidigung und Wertung aufgefasst werden darf. Sehr viele muslimische Patientinnen möchten auf ihr Kopftuch selbst im Kreißsaal nicht verzichten bzw. möchten es zu einem Zeitpunkt abnehmen, welchen sie selbst bestimmen. Dazu zwei Bei­ spiele aus der Praxis zur Verdeutlichung, wie mit diesem Phänomen umgegangen werden soll, um
19 die ohnehin schwere Geburtssituation für alle er­ träglicher zu machen: Erbe, auf Scheidung, Beibehaltung ihres Familien­ namens und mehr. Beispiel In der Ehe sollen Mann und Frau einander Partner sein, sich gegenseitig beraten und unterstützen und sich gegenseitig gehorchen. Oft wird dies im LKH missverstanden: wenn der Ehemann seine Frau zu einer gynäkologischen Untersuchung be­ gleitet oder für sie stellvertretend den Wunsch nach einer Frauenärztin äußert oder die Frau in der Verhütungsmittelwahl noch gerne die Meinung ihres Mannes einholen will. Dies müssen noch lange keine Anzeichen für Unterdrückung sein, sondern Ausdruck einer partnerschaftlichen Ehe. Im Islam ist es selbstverständlich, dass der Mann sich für seine Ehefrau einsetzt, sich um sie be­ müht und sie versorgt. Eine 28­jährige muslimische, kopftuchtragende Frau kommt zur Geburt ihres dritten Kindes in den Kreißsaal. Die Hebamme drängt zur Ab­ nahme des Kopftuches. Die Patientin lehnt das aber ab, da es ihr noch relativ gut geht und sie keine Schmerzen hat. Sie möchte das Kopftuch erst später abnehmen. Die Hebamme drängt aber weiter, worauf die Frau zu weinen beginnt, wütend wird und sagt, das Kopftuch jetzt erst recht nicht abnehmen zu wollen. Die Geburt ge­ staltet sich äußerst lang und kompliziert. Beispiel Eine 25­jährige muslimische, kopftuchtragende Frau kommt zur Geburt ihres ersten Kindes in den Kreißsaal. Die Hebamme merkt sofort, dass die Patientin aufgeregt und verängstigt ist. Im Umkleideraum informiert sie die Frau von sich aus, dass sie ihr Kopftuch selbstverständlich an­ behalten kann. In der fortgeschritten Geburts­ phase nimmt die Patientin das Kopftuch selbst ab. Hier in Österreich unterstellen viele dem Islam, eine frauenfeindliche Religion zu sein. Deshalb sollen an dieser Stelle einige Punkte dazu erwähnt wer­ den. Die Frau ist ein Geschöpf Gottes, mit der gleichen Würde wie der Mann ausgestattet. Im Islam gelten Mann und Frau als gleichwertig, ver­ fügen aber über unterschiedliche Rechte und Pflich­ ten. Die religiösen Pflichten sind dieselben. Die Frau genießt die volle Geschäftsfähigkeit, ist vor dem Gesetz dem Mann gleichgestellt und verfügt von ihrer Religion her über verschiedene Rechte, wie dem Recht auf Bildung, Unterhalt, auf Wahl ihres Ehepartners, auf Gütertrennung, das allei­ nige Verfügungsrecht über ihren Lohn, Eigentum, Unterdrückung der Frau, Arbeitsverbote, „Ehren­ mord“, „Zwangsehen“ und Ähnliches können isla­ misch nicht begründet werden, sondern wurzeln in patriarchalen Traditionen. Viele muslimische Frauen meinen hingegen, hier unterdrückt zu sein, weil sie beispielsweise mit Kopftuch nur schwierig Zu­ gang zu Bildung und guter Arbeit finden. 5.2 Intimsphäre und Körperpflege Der Islam legt großen Wert auf Sauberkeit. Aus Koran und Sunna sind Rituale überliefert, die MuslimInnen eine regelmäßige Körperpflege vor­ schreiben. Diese ist auch im Krankheitsfall nicht zu vernachlässigen. Dazu gehört nicht nur die rituelle Reinheit vor dem Gebet durch die Teil­ waschung, sondern auch die vorgeschriebene wöchent­ liche Ganzwaschung. Dies hat nichts mit der körper­ lichen Sauberkeit zu tun. So kann eine Patientin unmittelbar nach einer Dusche den Wunsch zur
20 rituellen Waschung äußern. Die rituelle Waschung muss nach Körperausscheidungen immer wieder erneuert werden und unter fließendem Wasser vorgenommen werden. Die Intimsphäre der PatientInnen leidet durch die Spitalsroutine. Vor allem für Menschen, für die Bekleidungsvorschriften eine wichtige Rolle spie­ len, ist das Entblößen besonders belastend. Die Anwesenheit von MitpatientInnen, die geöffnete Tür bei Untersuchung und Pflege oder die Visiten mit vielen Anwesenden stellen große Stress­ situationen dar, die sich eigentlich durch etwas mehr Taktgefühl und organisatorische Hilfsmittel wie der Verwendung von Paravans leicht ver­ meiden ließen. Die Intimpflege spielt für MuslimInnen eine große Rolle. Der Intimbereich wird nach der Toilette mit fließendem Wasser gereinigt, außerdem werden Schamhaare und Achselhaare regelmäßig ent­ fernt. Sollten bettlägrige PatientInnen den Wunsch nach einer solchen Intimpflege äußern, kann man mit der so genannten „Vaginalspülung“, die an Gyn­ /Gebärabteilungen praktiziert wird, den gleichen Effekt erzielen. Sie kann bei Männern ebenfalls leicht angewendet werden. Mit der Leibschüssel sollte nicht nur Papier, sondern auch Wasser zur Verfügung gestellt werden; auf die Toilette nehmen viele einen Krug oder eine Wasser­ flasche mit. Es wäre sehr hilfreich, wenn in den Krankenhaustoiletten Waschbecher zur Verfü­ gung stehen würden. Natürlich ist es ganz wichtig, dass die Intimpflege von einer gleichgeschlechtlichen Pflegeperson verrichtet wird (Waschen, Rasur der Schamhaare vor Operationen, u.a.) Dieser Wunsch besteht bei vielen muslimischen PatientInnen, der aber aus verschiedenen Grün­ den nicht geäußert wird. Schlechte Erfahrungen, Scheu, Autoritätsangst, krankheitsbedingte oder sprachliche Unfähigkeit, Angst vor feindseligen Re­ aktionen oder davor, schlechter behandelt zu wer­ den, Gewohnheiten aus der Heimat, wo man für Extra­Wünsche bezahlen muss, lassen diesen Wunsch verstummen. Die Patientin bleibt mit einem schlechten Gefühl zurück. Im schlechtesten Fall kommt sie nicht mehr zu Nachfolgeuntersuchun­ gen, versäumt Kontrolltermine. All das wirkt sich negativ auf die Therapie aus. Wenn aus organi­ satorischen Gründen eine Untersuchung durch eine gleichgeschlechtliche Ärztin nicht möglich ist, sollte dies der Patientin in Ruhe erklärt und nach einer Lösung gesucht werden. Vielleicht akzeptiert sie doch einen männlichen Arzt oder ein anderer Termin kann ausgemacht werden 8 . Alternativ wün­ schen sich manche Patientinnen dann oft die An­ wesenheit einer Vertrauensperson. Dies muss nicht unbedingt der Ehemann sein, außer die Pa­ tientin wünscht sich das. Viele MuslimInnen verstehen den Krankenhaus­ aufenthalt und die damit verbundenen körperli­ chen Kontakte eher als eine Ausnahmesituation und beziehen sich dabei auf ein islamisches Rechts­ prinzip, das besagt: „Die Notlage macht das Ver­ botene erlaubt“. Trotzdem empfiehlt sich für Ärzt­ Innen und Pflegepersonal abzuwägen, welche und wie viele körperliche Untersuchungen nötig sind und inwieweit ein Entblößen dabei notwen­ 8 Aus unserer Erhebung geht hervor, dass sich die Mehrzahl der Musliminnen die Untersuchung durch eine Ärztin wünscht.
21 dig ist. Diese Überlegung hilft, auf Integrität und Gefühle der PatientInnen Rücksicht zu nehmen. Beispiel Ein 18­jähriger muslimischer Patient österrei­ chischer Herkunft war eine Zeit lang nach einem Autounfall gelähmt und konnte sich gar nicht äußern. Er musste im Krankenhaus vom Per­ sonal gepflegt und gewaschen werden. Später erzählte er über seinen Krankenhausaufenthalt: „Das Gelähmt­Sein, nicht sprechen zu können und von einer jungen Krankenschwester gewa­ schen zu werden, war für mich unerträglich.“ 5.3 Das Gebet Das Gebet gehört zu den fundamentalen Pflichten der MuslimInnen und darf unter keinen Umstän­ den, auch nicht im Krankheitsfall vernachlässigt werden. Durch das Gebet wird eine Beziehung zu Gott hergestellt und der Mensch in seiner Religio­ sität gestärkt. Die Möglichkeit zur ungestörten Aus­ übung des Gebetes gibt MuslimInnen das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Eine muslimi­ sche PatientIn sucht im Gebet Stärke und Kraft, indem sie Gott verehrt und sich bei ihm bedankt. Dies spiegelt sich positiv im Heilungsprozess und der Einstellung zur Krankheit wider. Oft ist es so, dass Menschen gerade im Spital das Bedürfnis haben, ihre Gebete zu verrichten. In Krisensituationen, wie bei schwerer Krankheit, können Menschen wieder zu ihren religiösen Wur­ zeln zurück finden und suchen dafür menschli­ chen Beistand. Selbstverständlich stehen Marha­ ma oder die Islamische Religionsgemeinde zur Verfügung. Das islamische Gebet besteht aus verschiedenen Bewegungsabläufen, wobei mit Händen und Kopf der Boden berührt wird. Daher bedarf es eines sau­ beren Platzes, weswegen MuslimInnen oft einen Gebetsteppich verwenden. Weiters sollte die Ge­ betsrichtung in Richtung Mekka sein; in Graz ent­ spricht das der Himmelsrichtung Süd­Ost. Vor dem Gebet machen MuslimInnen eine rituelle Teilwaschung. Diese Reinigung dient der innerli­ chen Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Schöpfer. PatientInnen mit Verletzungen, die nicht mit Wasser in Berührung kommen dürfen, über­ streichen den Verband mit nasser Hand. Das Gebet wird fünf Mal am Tag verrichtet; für jedes Gebet ist eine bestimmte Zeitspanne im Tagesablauf vorgesehen. Es kommt immer wieder vor, dass PatientInnen beim Verrichten des Gebetes von anderen Mit­ patientInnen angestarrt und belächelt werden. Viele PatientInnen unterlassen deswegen das Gebet, was bei ihnen ein allgemeines Unwohlsein hervor­ ruft. Daher wäre ein Gebetsraum für MuslimInnen im Klinikbereich sehr wichtig und sinnvoll, vor allem für Schwerpunktspitäler in größeren Städten. Im LKH­Graz ist bereits zur allgemeinen Zufrie­ denheit der PatientInnen ein islamischer Gebets­ 9 raum eingerichtet worden. Andachtsräume, wie man sie in vielen Spitälern vorfindet, können prinzi­ piell auch für islamische Gebete dienen, wenn man einige bautechnische Details berücksichtigt. Es sollten keine Skulpturen, Bilder, Kreuze oder Ähnliches vorhanden und eine Raumtrennung für Männer und Frauen möglich sein. Dafür genügt auch schon ein beweglicher Vorhang. 9 Auenbruggerplatz 20, 1. Untergeschoss, gegenüber Gebärklinik.
22 Im islamischen Gebetsraum im LKH besteht auch die Möglichkeit, das gemeinsame Freitagsgebet zu verrichten. Auf Anfrage bei der Islamischen Religionsgemeinde wird diesem Wunsch gerne nachgekommen. Das Freitagsgebet wird von mu­ slimischen Männern sehr ernst genommen, es gilt als Pflichtgebet ­ vorausgesetzt, die medizinischen und pflegerischen Maßnahmen erlauben es. Im Islam sind aber auch bestimmte Erleichterun­ gen für das Gebet vorgesehen. So können bei Gehunfähigkeit PatientInnen auch im Sitzen beten oder, wenn es nicht anders geht im Liegen, letzt­ endlich auch nur mit den Augen. Dennoch werden sich MuslimInnen auch hier eine rituelle Teil­ waschung wünschen. Wenn das Pflegepersonal über diese Rituale Bescheid weiß und Verständnis zeigt, würde das sicher zum Wohlbefinden aller beitragen. Krankheit. Sie wenden sich damit in ihren Nöten und Wünschen allein an Gott. Es kann auch in der Muttersprache gesprochen werden 10 und wird nur geistig vollzogen. 5.4 Ernährung und Speisevorschriften Auf Reisen in fremde Länder kosten wir gerne Speisen, die uns in den Hotels und Gasthäusern angeboten werden. Anders schaut es aber aus, wenn wir krank sind und im Krankenhaus liegen. Im Zu­ stand der Schwäche, Sorge oder Trauer würden wir gerne das gewohnte Essen zu uns nehmen, das vertraut riecht und schmeckt. Beispiel Stellen Sie sich vor, Sie verbringen ihren Urlaub in der Türkei und müssen wegen einer Erkran­ kung ins Spital. Zum Frühstück werden Ihnen schwarze Oliven, Brot und Tee serviert. Wie re­ 11 agieren Sie, wie fühlen Sie sich ? Beispiel Die Enkelin einer 76­ jährigen muslimischen Patientin aus Bosnien, die eine Hüftoperation hinter sich hatte, sagte: „Zum Glück konnte meine Großmutter nach der Entlassung zu Hause von der Familie gepflegt werden. Wäre das nicht möglich gewesen, dann kann ich mir vorstellen, dass sich meine Großmutter über eine Pflegerin sehr freuen würde, die über ihre religiösen Bedürfnisse Bescheid weiß. Denn diese würde ihr beispielsweise auch das Wasser für die Gebetswaschung herrichten. Meine Groß­ mutter würde sich bestimmt nach einer gründ­ lichen Körperpflege sehr zufrieden und dankbar zeigen, aber hätte sich gescheut zu sagen, dass sie eigentlich auch gerne die rituelle Waschung gehabt hätte, um ihr Gebet zu verrichten.“ Ungefähr so geht es auch PatientInnen aus dem arabischen Kulturraum, aus südlichen Ländern oder aus der Türkei, wenn ihnen in den österreichi­ schen Spitälern zu Mittag Zwetschkenknödel oder ein süßer Auflauf serviert werden. Viele denken sich dabei, dass in Österreich offenbar zuerst das Dessert auf den Tisch kommt und erst dann das „richtige Essen“. MuslimInnen entscheiden sich im Spital aufgrund der Speisevorschriften oft für ein vegetarisches Essen, welches hier in Österreich dann zumeist aus einer Süßspeise besteht. Für 10 Neben dem vorgeschriebenen Pflichtgebet hat auch das Bittgebet (Du’a) eine wichtige Bedeutung für MuslimInnen, vor allem in Notsituationen und bei Das Pflichtgebet wird von allen MuslimInnen weltweit ausnahmslos auf Arabisch rezitiert. 11 Beispiel modifiziert entnommen aus: Domenig (2001:279).
23 migrantische Kinder ist die ohnehin belastende Situation noch viel schwieriger: Ein fremdes Essen, in einer fremden Umgebung macht keinen Appetit und stellt somit die Versorgung von zu Hause aus noch mehr in den Mittelpunkt. Viele praktizierende MuslimInnen lehnen nicht nur Schweinefleisch ab, sondern im Allgemeinen über­ haupt Fleisch, das nicht nach dem islamischen Ri­ tual geschlachtet worden ist. Nachdem Blut als unrein betrachtet wird, darf das Fleisch erst nach Ausblutung verzehrt werden. Es ist damit erst halal 12 , ähnlich wie für JüdInnen koscher. Für MuslimInnen im Westen gestaltet sich das oft schwierig, da viele Produkte deklariert oder nicht deklariert, Anteile von Alkohol und Schweinefleisch (so wie es bei handelsüblicher Gelatine der Fall ist) beinhalten. Daher entstehen auch immer mehr Lebensmittelgeschäfte von muslimischen Migrant­ Innen, die Produkte entsprechend den islami­ schen Vorschriften anbieten. In Graz etwa befin­ den sich solche Geschäfte in den Bezirken Gries und Lend. Auch islamische Gebetshäuser bieten Halal­Produkte an. Alkohol und alkoholhältige Speisen oder Süßigkei­ ten, wie Rum­Kugeln, Mon­Cherie und Ähnliches werden von MuslimInnen abgelehnt. Dabei fällt es MuslimInnen sehr schwer, gut gemeintes Ange­ botenes zurückzuweisen. Auch alkoholhältige Medika­ mente wie homöopathische Tropfen werden ab­ gelehnt. MuslimInnen beziehen sich hier auf eine Überlieferung des Propheten Muhammed: „Gott hat gegen jede Krankheit ein Heilmittel herabgesandt. Also behandelt diese, aber nicht mit etwas Verbotenem“. Somit ist die Behandlung einer Krankheit nur mit islamisch­erlaubten Mitteln gestattet. Allerdings gibt es im Islam den Grundsatz „Not­ lagen heben Verbotenes auf“, wodurch die religiö­ sen Regeln in Ausnahmesituationen außer Kraft gesetzt werden, wenn keine Alternativ­Therapie vor­ handen ist. In solchen Situationen müssen die Pa­ tientInnen selber eine Entscheidung treffen. Dafür sollten sie medizinisch und theologisch aufgeklärt werden. Beispiel Einem kinderlosen muslimischen Mann wird zu Therapiezwecken von einem deutschen Urolo­ gen ein Präparat verabreicht. Als er feststellt, dass dieses aus der Schweinepankreas gewon­ nen wird, bricht er die Therapie ab. „Was kann man von einem Menschen erwarten, der mit Hil­ fe eines Präparats, das Schweineanteile enthält, gezeugt wurde?“ sagt er später. Da sein Ver­ trauen verletzt wurde, geht er nicht mehr zu 13 diesem Urologen . 5.5 Das Fasten Das Fasten im Monat Ramadan gehört zu den islamischen Grundpflichten. Da sich die islamische Zeitrechnung nach dem Mondkalender richtet, fin­ det der Ramadan jedes Jahr in einem anderen Monat statt 14 . Während des Fastenmonats ver­ 13 12 Halal bedeutet „erlaubt“ nach islamischem Recht im Gegensatz zu haram (verboten). Beispiel modifiziert entnommen aus: Ilkilic (2005:94). Die jährlichen Zeiten der islamischen Feste und des Fastenmonats kann man z.B. auf der Homepage der
14 24 zichten MuslimInnen von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang auf Essen, Trinken und Ge­ schlechtsverkehr. Darüber hinaus achten sie sorg­ fältig darauf, ihr Verhalten zu läutern. Trotz der ­ auf viele Nicht­Muslime streng wirken­ den ­ Anstrengung und Schwierigkeit beim Fasten gehört der Ramadan zu den am häufigsten aus­ geübten Grundpflichten. Für MuslimInnen ist es eine besondere Erfahrung und ein schönes, gemeinschaft­ liches Erlebnis. Die Gläubigen lernen ihre Begier­ den und Leidenschaften zu beherrschen und zu kon­ trollieren. Das Fasten stärkt und reinigt das Innere der MuslimInnen. Das Gefühl des Hungers weckt Gedanken an die vielen hungernden Menschen auf der Welt; dadurch wird man zum Spenden und zur Hilfe aufgefordert. Im Ramadan finden oft Ge­ meinschaftsessen am Abend statt. Für alle Betei­ ligten ist jeder Ramadantag wie ein Fest. Zum Fasten verpflichtet sind erwachsene, gesun­ de und mündige MuslimInnen. Kranke, Stillende, Menstruierende und Reisende sind von der Fasten­ pflicht ausgenommen, wobei die versäumten Tage nach dem Ramadan nachgeholt werden müssen. Chronisch Kranke spenden anstelle des Fastens. Im Krankheitszustand ist das Fasten nicht zuge­ lassen. Im Koran wird ausdrücklich betont, dass Kran­ ke von der Fastenpflicht befreit sind, „… und wer von euch den Monat anwesend ist, so soll er ihn fasten, und wer krank ist, oder auf einer Reise, so eine Anzahl von anderen Tagen…“ (Koran: 2:184­185) Islamischen Glaubensgemeinschaft einsehen, Online im www.derislam.at [19.06.2006]. da es den Heilungsprozess negativ beeinflussen kann. Regelmäßige Medikamenteneinnahme und einige medizinische Untersuchungen wie Kontrast­ mitteleinnahme bei bestimmten Röntgenuntersu­ chungen dürften nicht erfolgen, weil sie das Fas­ ten zunichte machen. PatientInnen geraten aber oft in Konflikt, da sie nicht abschätzen können, ob eine Nicht­Einnahme von Medikamenten oder ein Abbrechen einer Therapie ihnen tatsächlich scha­ den würde. Das Vertrauen in einen nicht­muslimi­ schen Arzt ist nicht in der Art gegeben, wie das der Fall im Herkunftsland wäre. Hier spielt theolo­ gisches Wissen von Imamen oder anerkannten Fachpersonen eine wichtige Rolle. Sie können PatientInnen religiös aufklären, indem sie sie mit den islamischen Regelungen in Sondersituationen vertraut machen und sie mit der ärztlichen Auf­ klärung verbinden. Sie klären – natürlich in Ab­ sprache mit der zuständigen ÄrztIn – auch über die Folgen einer Nicht­Einnahme der Medikamente auf. In der Praxis besteht bestenfalls die Möglichkeit, eine Therapie, einen Eingriff oder eine Operation zu verschieben. Wenn PatientInnen im Ramadan zu fasten wünschen und ihr Gesundheitszustand dies erlaubt, dann sollte man diesen Wunsch an­ erkennen. Sie sind mündige PatientInnen, die ihre Entscheidungen treffen können. Schön ist es, wenn dieses Bedürfnis in der Pflege durch Aufbe­ wahren und Aufwärmen des Essens berücksich­ tigt werden kann. Die meisten MuslimInnen sind nach dem Fastenmonat psychisch stärker und be­ lastbarer, was für eine bevorstehende schwere Therapie oder Operation sehr günstig ist. Es gibt aber auch Medikamente, die während des Fastens eingenommen werden dürfen, wie etwa:
25 Nasentropfen, Augentropfen, Injektionen und Infusionen ohne Nährwert 15 . Beispiel Ein 39­jähriger türkischer Patient mit guten Deutschkenntnissen wurde für zwei Wochen auf einer Internen Station wegen Herzrhythmusstö­ rungen aufgenommen. Er hatte eine Reihe von Untersuchungen, nahm eine Tablette täglich ein und hatte sonst keine Therapie. Da zu der Zeit Ramadan war, entschied sich der Patient zu fasten und dem behandelnden Arzt nichts davon zu erzählen. Zwei Wochen lang aß der Patient tagsüber nichts; am Abend nahm er das Abend­ essen zu sich oder das von seiner Frau mitge­ brachte Essen. Das Merkwürdige daran ist in diesem Fall nicht, dass der Patient sein Fasten verheimlicht hat ­ aufgrund der Befürchtung, be­ lächelt zu werden. Merkwürdig ist aber, dass vom Pflegepersonal nicht bemerkt wurde, dass der Patient seine Mahlzeiten zwei Wochen lang tagsüber nicht angerührt hat. Auch hier gilt: ein offenes Ansprechen, eine ver­ ständnisvolle Frage werden ein Verheimlichen des Fastens und somit eventuelle Probleme in der Therapie und Pflege verhindern! 15 Das ist die Ansicht der meisten islamischen Rechtschulen.
26 6. Krankenbesuch und Bedeutung der Familie In Österreich wird im Allgemeinen die Ansicht ver­ treten, die Kranken bräuchten viel Ruhe. Wenige Besuche für nur kurze Zeit in gedämpfter Atmo­ sphäre verdeutlichen dies. MuslimInnen würden dies eher als Desinteresse oder unter den Bedingungen hier vielleicht sogar als Diskriminierung werten. Der Besuch eines Kranken ist nämlich für Muslim­ Innen nicht nur eine familiäre, sondern auch eine religiöse Pflicht. Man könnte sogar sagen, dass eine Muslimin ohne Krankenbesuch nicht gesund wird. Viele meinen, der Besuch, die Sorge der Fa­ milie um das kranke Mitglied trage 50% zur Hei­ lung bei. Selbstverständlich soll der Besuch aber zu keiner Belastung führen und den Genesungs­ empfehlungen des medizinischen Personals ge­ bührt der notwendige Vorrang. Viele kranke MuslimInnen vermissen in dieser Situation noch mehr die Großfamilie, die ja meist nicht in Österreich ist. Dabei sollte man bedenken, dass Krankheit in vielen Herkunftsländern eine nicht geringe finanzielle und soziale Bedrohung darstellen kann, von der infolge die gesamte Fa­ milie betroffen ist. MuslimInnen hier versuchen ihre Sorgen durch den Austausch mit den Glaubens­ geschwistern, durch Freunde und Freundinnen zu bewältigen, und vermitteln Geborgenheit und Sicherheit 16 . 16 Der familiäre Zusammenhalt bei MigrantInnen in Krisensituationen zeigt sich auch an der Scheidungsrate bei Ehepaaren, die behinderte Kinder haben: sie liegt weit unter dem Durchschnitt der Die muslimische Familie konzentriert sich nicht nur auf Vater und Mutter, wie hier oft üblich, son­ dern es zählen alle Verwandten dazu, die sich für das kranke Kind verantwortlich fühlen, als wäre es das eigene. Dementsprechend bekommen auch Kinder viel Besuch, am besten alle zusammen, viel­ leicht sitzt der Onkel die Nacht über am Bett – Tatsachen, die Verwirrung auf der Station stiften können. Noch dazu, wo das türkische, kurdische, arabische Kind sich nicht ruhig im Bett mit sich selbst beschäftigt oder die Mutter ihm leise eine Geschichte vorliest, sondern es gerne in Bewe­ gung und im Kontakt mit anderen ist. Zudem wer­ den Gespräche von Menschen aus südlichen Län­ dern im Allgemeinen lauter und lebhafter geführt; und Kinder sind in allen gesellschaftlichen Belan­ gen mit dabei. Alle diese kulturell bedingten Verhaltensweisen und Gewohnheiten führen erfahrungsgemäß immer wieder zu Konflikten: ZimmernachbarInnen und Pflegepersonal klagen über die große Anzahl der BesucherInnen und das Nicht­Einhalten der Be­ suchszeiten. Bringt das Personal Verständnis für die Vielzahl der Besuche der Patientin auf, werden klare Hin­ weise auf die Besuchsregeln ­ wie Besuchszeiten, Anzahl der BesucherInnen ­ sicher leichter ange­ nommen. „Wenn dies in höflicher zurückhaltender Form geschieht und nicht im üblichen deutschen „Kasernenton“, werden sich ausländische Besu­ cher sicher gerne daran halten“ (Zimmermann 2000: 108). Leider ist es nach wie vor so, dass auf Scheidungen von deutschen Ehepaaren mit behinderten Kindern (vgl. Zimmermann 2000: 94).
27 vielen Stationen zu wenig oder keine adäquaten Besucherräume zur Verfügung stehen – das sollte sich ändern. Manchmal wäre auch eine kulturelle Vermittlung ­ wie Marhama sie anbietet – zwi­ schen den ZimmernachbarInnen sinnvoll. In vielen Herkunftsländern ist es üblich, dass die Familie in die Pflege eingebunden wird, in man­ chen Ländern sind die Angehörigen für die Ver­ sorgung mit Essen zuständig. Gewohnheiten, die man auch hier in Österreich nicht gerne ablegt. Zum einen schmeckt das vertraute Essen besser und zum anderen ist es auch ein Zeichen der An­ teilnahme, wenn der Ehemann seiner kranken Frau Essen von zu Hause mitbringt. In dieser Hinsicht ist es interessant, welche Mö­ glichkeiten das Einbinden der Angehörigen in die Pflege auch im LKH mit sich bringen kann. Auf einigen Stationen wird dies – zur Zufriedenheit der PatientIn, der Angehörigen und des Personals – bereits praktiziert. Das kann in Einzelfällen kon­ struktiv angewendet werden. Viele Stationen ha­ ben damit zu kämpfen, dass nicht genügend Per­ sonal für die Körperpflege und Essensverab­ reichung zur Verfügung steht. Die oft sehr zahl­ reichen Familienangehörigen fühlen sich vielleicht hilflos und haben das Gefühl, dass sie für die Kranke nichts tun können. Es empfiehlt sich daher, die Möglichkeit der Pflege seitens der Familie im Team zu besprechen, dies den Angehörigen mit­ zuteilen und mit ihnen den Handlungsrahmen zu vereinbaren (Zeitspanne, was genau zu machen ist, welche notwendige Utensilien verwendet wer­ den sollen …). Voraussetzung dafür ist natürlich die Sensibilisierung des Pflegepersonals in Bezug auf migrationsspezifische Anliegen, die etwa durch Fortbildungen gewonnen werden kann. Selbstverständlich können Kinder der kranken Mutter nicht mitversorgt werden. Dies muss klar gesagt werden und sollte alleine schon aufgrund des islamischen Höflichkeitsgebotes akzeptiert werden.
28 7. Geburt, Kreißsaal und Wochenbett Die Geburt eines Kindes stellt im Leben einer mus­ limischen Familie ein zentrales Ereignis dar, an dem die ganze Familie Anteil nehmen will. Störun­ gen im Krankenhausbetrieb könnten leicht ver­ mieden werden, indem in der Nähe des Kreiß­ saals ein adäquater Raum als Wartebereich ein­ 17 gerichtet wird . Nicht alle Musliminnen beispielsweise viele tsche­ tschenische Frauen wollen, dass ihr Ehemann sie zur Geburt begleitet. Sie bevorzugen eine weib­ liche Vertrauensperson, sei es die Schwester, Schwä­ gerin oder Freundin, was auch respektiert werden sollte. Diese Frau kann verständigt werden, wenn die Schwangere in den Kreißsaal kommt. Im Kreißsaal selber wird mittlerweile hinsichtlich des Kopftuches kein Druck mehr auf die Frau ausgeübt. Im Allgemeinen wird ihr Recht akzep­ tiert, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Während der Geburt ruft das laute Schreien einiger muslimi­ scher und/oder migrantischer Kreißender Irritatio­ nen hervor. Das Personal wird nervös, der Kreiß­ saal ist eng, die Frau in der nächsten Koje wird gestört…. In der Vergangenheit wurden sehr schnell Schmerzmittel gegeben, was aber zur Verlänge­ rung der Austreibungsperiode oder gar zum Geburts­ stillstand führen kann. Gleich nach der Geburt wird die Mutter oder der anwesende Vater dem Neugeborenen den Ge­ betsruf ins Ohr flüstern. Dies soll das erste sein, was das muslimische Kind hört. 17 Dies wird am LKH Graz im Zuge des Neubaus der Gebärklinik berücksichtigt werden. Im Wochenbett genießen muslimische Wöchne­ rinnen aus den meisten Kulturen einen besonde­ ren Schutz. Sie werden verwöhnt, es wird für sie und das Kind gesorgt, geputzt, gekocht. Viele muslimische Mütter glauben, dass sie selbst und ihr neugeborenes Kind in dieser Zeit durch den „bösen Blick“ besonders verletzbar sind. Daher stellen manche Mütter ihre Babys nicht gerne zur Schau oder decken das Bettchen mit einem Tuch zu. Es ist für Musliminnen sehr unangenehm, wenn sie ihre Babys stillen wollen, während sich männ­ liche Besucher im Krankenzimmer befinden. Des­ halb möchten sie auch keine luftigen Nachthem­ den tragen, die eigentlich eine Wundheilung von Dammschnitt oder der Wunde des Kaiserschnitts positiv beeinflussen. Bezüglich der Ernährung bei muslimischen Wö­ chnerinnen gibt es keine besonderen Rituale. Eine kalorienreiche, Kraft gebende Ernährung ist wie für alle Mütter aber sehr wichtig. Daher wer­ den sie oftmals von den Angehörigen mit gewohn­ ten Speisen versorgt, die sie gerne essen und die den oben genannten Kriterien entsprechen.
29 7.1 Exkurs: Schmerzempfinden Welcher Schmerzausdruck „vernünftig“ ist, bestimmt im Krankenhaus üblicherweise das Personal. Aber es gibt nicht nur kulturelle Unterschiede in der Auf­ fassung von Ursache und Wirkung einer Krank­ heit, sondern auch in der Form des Äußerns eines Leidens. Ob der Schmerz unterdrückt, verdrängt oder laut geäußert wird, lernt man in der jeweili­ gen Sozialisation. Im Mittelmeerraum und im Orient gilt es als richtig und sogar wünschenswert bei der Geburt laut zu schreien. Dies soll einerseits zur Ent­ spannung beitragen, andererseits ist es auch ein Beweis dafür, wie sehr man sich für dieses Kind angestrengt hat. Hier lernt man im Geburtsvor­ bereitungskurs die Wehen zu veratmen. Manche Musliminnen schreien ihre Schmerzen hinaus, auch durch lautes „Allah, Allah“­Rufen. Die Wahrnehmung des Personals im Kreißsaal ist eine andere: die Situation wird als belastend erlebt, die Kreißende als undiszipliniert und nicht kooperations­ willig gewertet und man ist versucht, Schmerz­ mittel zu geben, damit alles nicht so laut abläuft. MuslimInnen und MigrantInnen aus südlichen Ländern, vor allem den Frauen wird unterstellt, schmerzempfindlicher als WesteuropäerInnen zu sein. Diese Vorstellungen sind nicht nur auf Vor­ urteile seitens des Pflegepersonals zurückzu­ führen, sondern selbst die Wissenschaft versucht dies zu belegen! Sie spricht vom sogenannten Mittelmeer­Syndrom, hat angebliche organische Gründe wie eine stärkere Durchblutung des vagi­ nalen Bereiches, Beckenanomalien und Ähnliches gefunden. Dies bedeutet, dass Musliminnen ­ konfrontiert mit diesen Einschätzungen – immer wieder einerseits für ihre Art den Schmerz auszudrücken, „verurteilt“ werden und andererseits in ihrer Schmerzwahr­ nehmung nicht ernst genommen werden. Dies hat fatale Auswirkungen in der Diagnose, Therapie und Pflege! Beispiel Eine kurdische, kopftuchtragende Patientin, vier­ fache Mutter, klagt nach einer Gebärmutter­ entfernung über Schmerzen. Dies wird ignoriert. Sie bekommt hohes Fieber, einen roten Nabel, einen harten Bauch – sie erzählt diese Symp­ tome bei der täglichen Visite. Keine Reaktion. Ihre Wahrnehmungen werden abgetan: Sie sei so empfindlich, sie hätte nur Blähungen, alles sei normal. Nach 10 Tagen muss in einer Not­ operation auch ein zuvor gesunder Eierstock und der Blinddarm entfernt werden, weil sich die Entzündung im Bauchraum lebensbedrohlich ausgeweitet hatte. In Österreich wird erwartet, dass man ruhig und differenziert Ausmaß und Art des Schmerzes be­ schreibt. Aber „Patientenangaben wie „alles krank“, „ganz krank, überall“ oder „überall Schmerzen“ sind nicht schlechthin als undifferenzierte Anga­ ben geistig einfach strukturierter Menschen zu werten, sondern als Ausdruck ihres traditionellen Krankheitsverständnisses“ (Zimmermann 2000: 58). Bei einer genaueren Befragung oder Unter­ suchung kann man sicher noch mehr über die Schmerzen herausfinden, wenn man die erste Äußerung der PatientIn ernst nimmt. Wenn manche muslimische Frauen bei einer Untersuchung oder Behandlung jammern oder schreien, kann dies verschiedene Ursachen ha­ ben. Einige können sich aufgrund der mangelnden
30 Sprachkenntnisse nicht anders ausdrücken. An­ dere fühlen sich einfach unwohl in dieser fremden Situation und wollen durch ihr Schreien zur Vor­ sicht mahnen. Andere haben in ihrer Sozialisa­ tion gelernt, Schmerz laut auszudrücken. Manche schildern, dass sie schon absichtlich lauter schreien, weil ihrer Schmerzwahrnehmung ansonsten kein Gehör geschenkt wird. Dazu gibt es verschiedene Erklärungen – wehleidiger sind sie sicher nicht. Besonders „empfindlich“ sind die PatientInnen aber, wenn Besuch kommt, berichten viele Kranken­ schwestern: dern Toleranz gegenüber anderen Werten und Nor­ men zu entwickeln. Beispiel Ein Patient aus dem Mittelmeerraum erholte sich nach seiner Operation ganz gut auf der Pflege­ station. Er klagte nie über Schmerzen, nicht ein­ mal in der Nacht brauchte er etwas. Sobald aber die Angehörigen zu Besuch kamen, begann er laut zu jammern, und zu weinen. Die Angehöri­ gen kamen zu uns und verlangten, dass wir ihm etwas gegen die Schmerzen geben. Dieser Patient hat gelernt, dass man Schmerz laut äußern soll. Es ist seine Familie, die sich aufop­ fernd um ihn kümmert und daher muss er ihnen gegenüber seine Ängste und Verzweiflung äus­ sern. Auch hier gilt: Krankheit und Schmerz sind nie etwas, was nur ein einziges Organ und den ein­ zelnen Menschen betrifft ­ betroffen sind der ganze Körper und die gesamte Umgebung. Alhambra Court, Crystal Palace, 1886, Spanien
Es kann viele Gründe geben, warum jemand in bestimmten Situationen anders, als man es ge­ wohnt ist, reagiert. Wichtig ist dabei, nicht nur die eigenen Normen zum Maßstab zu erklären, son­ 31 8. Sterben und Tod Der Tod im islamischen Glauben bedeutet nicht das absolute Ende, er ist ein Übergang vom diessei­ tigen Leben in das Jenseits. Für gläubige Muslim­ Innen ist der Tod ein freudiges Ereignis, da es das lang ersehnte Zusammentreffen mit dem Schöpfer darstellt. Trost im eventuellen Leid, bei schwerer Krankheit am Lebensende finden MuslimInnen in der dafür erhofften Sündenvergebung. Daher ist lautes, übertriebenes Wehklagen verpönt und gilt nicht als islamische Charaktereigenschaft, ist traditio­ nell aber oft üblich. Geduld und stille Trauer zählen hingegen zu den islamischen Tugenden. Wenn eine MuslimIn im Sterben liegt, sollen das Personal die Angehörigen kommen lassen. Die Aufgabe der Familie ist es, Sterbende an Wohl­ taten zu erinnern und zur Reue für schlechte Taten aufzufordern. Dabei werden diskret Gebete aus dem Koran rezitiert. Die Sterbende soll ebenfalls das Glaubensbekenntnis sprechen oder bekommt es ins Ohr geflüstert. Die PatientIn soll mit dem Gesicht in Richtung der heiligen Stadt Mekka im Süd­Osten liegen. Hierzu kann eventuell das Bett verschoben werden. Sollte die Sterbende keine Angehörigen oder an­ gegebene Vertrauenspersonen in Österreich oder keine muslimischen Angehörigen haben, setzen Sie sich bitte mit der islamischen Seelsorge der Islamischen Religionsgemeinde oder mit Marha­ ma in Verbindung. Nach Eintreten des Todes muss der Leichnam nach islamischen Vorschriften für das Begräbnis vorbereitet werden. Diese Aufgabe übernehmen entweder die Angehörigen oder die islamische Seelsorge. Dazu gehört die islamische Toten­ waschung ­ eine Ganzkörperwaschung, die von einer geschulten gleichgeschlechtlichen Person durch­ geführt wird. Diese Waschung wird entweder im Spital oder in einem dafür vorgesehenem Raum am Zentralfriedhof in Graz nach bestimmten Ritua­ len verrichtet. Danach wird der Leichnam in weiße Tücher eingewickelt und in Richtung Mekka be­ graben. Da diese Aufgaben mit gewissen islami­ schen Vorschriften verbunden sind, können sie aus­ schließlich von MuslimInnen verrichtet werden. Der Leichnam soll möglichst schnell, binnen 24 Stun­ den, begraben werden. So bleibt die Würde des Verstorbenen gewahrt. Eine Feuerbestattung wird im Islam abgelehnt. Es gibt keine bestimmte Trauer­ farbe. Immer wieder fragt das Personal, was genau im Sterbe­ bzw. Todesfalls einer MuslimIn zu tun sei. Nachdem die oben geschilderten Rituale ausschließ­ lich von MuslimInnen verrichtet werden können, sollten als erstes die Angehörigen oder die Islami­ schen Seelsorge verständigt werden. Das Perso­ nal könnte gegebenenfalls das Bett so hinstellen, dass das Gesicht nach Mekka schaut. Sonst gilt für muslimische PatientInnen die übliche Toten­ versorgung, die von den Pflegenden zu verrichten ist: Katheter, Leitungen, Drainagen, Sonden, Sauer­ stoff, etc. entfernen, Säuberung von groben Ver­ unreinigungen, etc. Wichtig ist, dass diese Versor­ gung vor der rituellen Totenwaschung verrichtet wird.
32 9. Medizinalethik 9.1 Blutspende und Transfusion Sie sind grundsätzlich erlaubt. Die Blutspende ist eine erwünschte Geste der Hilfsbereitschaft und darf nicht entgeltet werden. Blut wird im Islam als rituell unrein betrachtet; das bedeutet, dass man in einem blutbefleckten Klei­ dungsstück das rituelle Gebet nicht verrichten darf. Der Mensch selbst ist jedoch nicht unrein; weder bei Blutaustritt wegen Krankheit oder Unfall, noch die Frau während der Menstruation und dem Wochen­ fluss. Sie dürfen sich am normalen täglichen Ab­ lauf beteiligen. Die menstruierende Frau ist vom Gebet und Fasten befreit, der Geschlechtsverkehr ist verboten. 9.2 Organtransplantation, Obduktion und Euthanasie Die Organentnahme wird in der islamischen Lehre befürwortet und als Wohltat auch unterstützt. Da­ bei wird kein Unterschied zwischen MuslimIn oder Nicht­MuslimIn gemacht. Die Voraussetzung bei Or­ ganentnahme nach dem Tod einer Person ist die schriftliche Zustimmung zu Lebzeiten. Außerdem dürfen Organe nicht transplantiert werden, wenn das Leben des Spenders selbst gefährdet wäre. Dies gilt für lebenswichtige Organen wie etwa dem Herz. Die Organspende darf nicht entgeltet wer­ den, somit ist der Organhandel verboten! Obduktion ist nur bei medizinischer oder foren­ sischer Indikation erlaubt. Dieser Punkt stellt für viele gläubige MuslimInnen ein Problem dar. Vor allem, wenn in den Augen der Angehörigen die Notwendigkeit nicht gegeben ist. Auch für musli­ mische TotenwäscherInnen stellt eine nicht schön zusammengenähte Leiche eine große Belastung dar. Euthanasie ­ aktive oder passive Sterbehilfe ­ ist im Islam nicht gestattet. 9.3 Verhütung, Schwangerschaftsab­ bruch und künstliche Befruchtung Vorübergehend wirkende Verhütungsmittel, die nicht gesundheitsschädlich sind, dürfen mit Ein­ verständnis beider Eheleute angewendet werden. Sterilisation und Vasektomie dürfen nur als Aus­ nahme angewendet werden, wie beispielsweise bei Gesundheitsgefährdung durch eine Schwanger­ schaft. Schwangerschaftsabbruch Die Schwangerschaft unter 40 Tagen: Der Fötus besitzt in diesem Stadium laut Koran noch keine Seele. Der Schwangerschaftsabbruch ist er­ laubt, wenn die Mutter aus gesundheitlichen Gründen leidet. Diese Leiden können körperlicher, seeli­ scher und psychischer Natur sein. Die Schwangerschaft zwischen 40 Tagen und 120 Tagen: Hier gibt es verschiedene Meinungen. Einige islamische Gelehrte sagen, dass ein Schwanger­ schaftsabbruch nur erlaubt ist, wenn ein/e Arzt/­ Ärztin bescheinigt, dass die Frau unter der Schwan­ gerschaft leidet. Der/die Arzt/Ärztin muss Muslim sein. Eine Entscheidung zum Abbruch muss – die klinische Indikation berücksichtigend – im Rahmen der islamischen Gesetzgebung gewissenhaft und verantwortungsvoll abgewogen werden. Falls ein/e muslimische/r Arzt/Ärztin nicht vorhanden ist, kann diese Bedingung im Sinne einer Notsituation um­ gangen werden. Andere Gelehrte meinen, dass diese Stufe identisch mit der 1. Stufe ist.
33 Die Schwangerschaft nach mehr als 120 Tagen: Der Schwangerschaftsabbruch ist nur erlaubt, wenn eine Aufrechterhaltung der Schwangerschaft das Leben der Mutter bedrohen würde. Das Leben der Mutter wird in diesem Zusammenhang über das des Kindes gestellt. Im Koran heißt es: „Und tötet eure Kinder nicht aus Furcht vor Armut.“ (Koran 17:31) Dies wird so gesehen, dass ein Schwangerschafts­ abbruch nicht mit Armut oder finanziellem Druck begründet werden kann. Künstliche Befruchtung ist nur zwischen Eheleuten während des Zeitraumes ihrer intakten Ehe ge­ stattet. 9.4 Alkoholhältige Medikamente Sie sollten nicht eingenommen werden, wenn es ein Ersatzpräparat gibt. Gegen eine äußerliche An­ wendung, wie Desinfektionsmittel und dergleichen, spricht nichts dagegen. 9.5 Beschneidung Die Beschneidung des Knaben ist empfehlenswert und verpflichtend. Die Vorteile der Beschneidung sind hygienischer und sexueller Natur und werden vom Islam unter­ stützt. Sie greifen jedoch zu kurz, wenn man ver­ sucht die Beschneidung nur damit zu begründen. Mit der Beschneidung folgen MuslimInnen der Praxis der großen Propheten von Abraham über Jesus bis Muhammad. Sie sollte so früh wie möglich voll­ zogen werden, nach gewissen Schulen der Rechts­ lehre innerhalb des ersten Jahres, andere warten bis zum 4. oder 7. Lebensjahr. Die Beschneidung der Frau wird aus patriarchalen und traditionellen Anliegen im nordafrikanischen Raum durchgeführt, findet jedoch im Islam keine Begründung. Näheres zum Thema islamische Medizinalethik kön­ nen Sie beispielsweise auf der Website www. muslimsonline.com/~bern/organ2.html erfahren.
34 Anhang 1. Transkulturelle Pflegeanamnese Lebensgeschichte Woher kommen Sie? Wo sind Sie aufgewachsen (Stadt, Dorf, hier in Österreich)? Was vermissen Sie hier am meisten? Was gefällt Ihnen in Österreich? Pflege Ist die Pflege durch eine gleichgeschlechtliche Person erwünscht? Will die Familie in die Pflege eingebunden werden? Schmerz Skala für Stärke der Schmerzen zeigen, Auswahlmöglichkeiten für Beschreibung der Art des Schmerzes anbieten Migrationsgeschichte Migrationsgründe? Arbeitsmigration – Familienzusammenführung – Flüchtling – traumatische Erfahrungen (Krieg, Gewalt können Ängste bei bestimmten med. Eingriffen hervorrufen) (Blutabnahme…) Ernährung Was essen Sie nicht? Essgewohnheiten? Versorgung durch Familie? Kinder Haben Sie Kinder? Sind Kinder während des KH­Aufenthaltes gut versorgt? Haben Sie Sorgen wegen der Kinder? Erfassung der PatientInnen­ Perspektive
Frauen Nicht Stereotype in Migrantinnen und Musliminnen hinein projizieren (Sie sind Hausfrau !? Sprechen Sie Deutsch?) Aufenthaltsstatus Unsicherer Aufenthaltstatus (Existenzbedrohung durch Abschiebung) beeinflusst das Verhalten der PatientIn Soziales Netz Haben Sie Familie? Hier in Österreich? Erwarten Sie viel Besuch? Keine Familie: Möglichkeit eines Kontaktes mit islamischer Seelsorge (Marhama) anbieten. Soll jemand auf keinen Fall kommen? Gesundheit und Krankheit Welche Ursachen sieht Patientin selber für die Krankheit? Was bedeutet die Krankheit für sie? Wer kann bei Therapie­Entscheidungen mitreden? Wem vertraut sie bzgl. der Heilung? Kommunikation Welche Muttersprache? Welche Sprachen noch? In Schrift? Dolmetschen durch Angehörige möglich und erwünscht? (Telefonnummern notieren für dringende Fragen) Professionelle Dolmetscher nötig? zweisprachige Glossare, Aufklärungsblätter in der Muttersprache? Religion Welche Religion? Praktizieren Sie Ihre religiösen Bedürfnisse auch im Krankenhaus? Was brauchen Sie dafür? Hinweis auf z.B. islamisches Gebetsraum Umgebung Wohnort? Distanz zum Spital, Wohnqualität Wohnverhältnisse (alleine, Großfamilie, Freunden…) Arbeit, Beruf und Ausbildung Welche Ausbildung? Welchen Beruf im Herkunftsland? Welche Arbeit hier? Zufriedenheit mit der Arbeit? Wie ist die finanzielle Situation? 35 2. Rückmeldungen von Pflegenden nach Fortbildungen in transkultureller Pflege im LKH Graz „Wenn wir unsere ausländischen Patientinnen wirklich gut pflegen wollen, dann müssen wir toleranter werden, was ihre Bedürfnisse betrifft.“ „Ich bedanke mich bei R., die uns so gut die Migration und Situation der MigrantInnen dargestellt hat; vor allem bedanke ich mich bei der muslimischen Referentin, die uns so authentisch ihr Leben als Muslimin und ihre Bedürfnisse geschildert hat.“ „Ich sehe, dass wir besser auf die Menschen zugehen müssen und dass es keine „Rezepte“ gibt, wie man mit bestimmten „Kulturen“ umgeht. „Ich habe schon sehr viel gelernt heute, aber ich finde, nicht nur wir sollten etwas dazu beitragen, sondern auch die Ausländerinnen müssen sich mehr an unsere Kultur anpassen.“ „Es war sehr aufschlussreich, ich wünsche mir eine Fortsetzung dieser Fortbildung. „Nächstes Mal melde ich mich freiwillig an, und lasse mich nicht von der Stationsschwester schicken.“ Bei einem Wiedersehen mit einer Krankenschwester an der Frauenklinik des LKH Graz fragte die Marhama­ Mitarbeiterin sie: „Und wie läuft es so mit den Migrantinnen? Viele Proble­me?“ Sie antwortete: „Nein, überhaupt nicht! Wissen Sie, ich kann dank Ihrem Referat das Alles viel, viel besser verstehen. Ich habe es auch meinen Kolleginnen erzählt, ich glaube, sie haben viel davon profitiert.“
36 3. Literaturverzeichnis In diesem Ratgeber wurden folgende Quellen zu Rate gezogen: Denffer, Ahmad v. (1994), Kleines Wörterbuch des Islam. 2. Auflage. Lützelbach: Haus des Islam. Denffer, Ahmad v. (1997), Der Koran. Die heilige Schrift des Islam in deutscher Übertragung. 4. verbesserte Auflage. München: Islamisches Zentrum München. Dr. Dr. Ilhan Ilkilic (2005), Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Bochum: Zentrum für medizinische Ethik Dr. Dr. Ilhan Ilkilic (2002), Der muslimische Patient. Medizinethische Aspekte des muslimischen Krankheitsverständnisses in einer wertepluralen Gesellschaft. Münster: LIT Verlag Domenig, Dagmar (Hrsg., 2001), Professionelle Transkulturelle Pflege. Bern: Hans Huber Hagemann, Thomas / Salman, Ramazan (2005), Transkulturelle Psychiatrie, Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn: Psychiatrie­ Verlag Zaidan, Amir M.A. / Khan, Karola (1999), Islam und Medizin: Muslime in der Klinik. Frankfurt am Main: Islamische Religions­gemeinschaft Hessen. Zimmermann, Emil (2000), Kulturelle Mißverständnisse in der Medizin. Ausländische Patienten besser versorgen. Bern: Hans Huber Verlag Bei weiterem Interesse an islamischen Themen: www.derislam.at www.islaminitiative.at www.islam­verstehen.de www.islam.de
37 4. Kontakte Islamischer Gebetsraum im LKH Graz Adresse: Auenbruggerplatz 20, 1. Untergeschoss, gegenüber Gebärklinik Für islamische Seelsorge, Besuchsdienst, Versorgung des Toten oder Konfliktvermittlung zwischen muslimischen PatientInnen und dem Personal oder Fragen zur Pflege von musli­ mischen PatientInnen: Islamische Religionsgemeinde für Steiermark und Kärnten Adresse: Niesenbergerg. 40, 8020 Graz Email: [email protected] (eher für Männer) Marhama – Sozial­ und Gesundheitsdienst für Musliminnen und Migrantinnen Email: [email protected] Tel.: 0316/76 30 80 (für Frauen und Kinder)
38 MARHAMA – Sozial­ und Gesundheitsdienst für Migrantinnen und Musliminnen Der interkulturelle Frauenverein Dschanuub („Süden“ auf Arabisch) hat das Projekt Marhama zur Unterstützung von Migrantinnen und Musliminnen im Gesundheitsbereich (vor allem im Krankenhaus) entwickelt. Marhama möchte sich für ihre speziellen Bedürfnisse einsetzen und Hilfe bei sprachlichen und sozialen Barrieren anbieten. Das Projekt soll der Gleichberechtigung von PatientInnen aus anderen Kulturen und Religionen dienen. Marhama bietet:
· · · · · · · Begleitung, Beratung, Betreuung für Migrantinnen und Musliminnen beim Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt Unterstützung der Patientinnen und Angehörigen in Krisensituationen Vermittlung bei Kommunikationsschwierigkeiten aller Art zwischen Krankenhauspersonal und Patientinnen mehrsprachige Beratung durch Mitarbeiterinnen von Marhama einen Lehrgang für Migrantinnen als Vorqualifizierung für einen Gesundheitsberuf und Qualifizierung für einen islamischen Besuchsdienst Information über Ausbildung­ und Arbeitsmöglichkeiten im Gesundheitsbereich Informationen und Fortbildungen in transkultureller Pflege DSCHANUUB – der Interkulturelle Frauenverein Der Interkulturelle Frauenverein Dschanuub ist eine Gruppe von und für (nicht nur) muslimische Frauen verschiedener Nationalitäten, der sich zum Ziel gesetzt hat, die schwesterliche Anteilnahme der europäischen Frauen am Leben der Frauen des Südens zu fördern. Wir wollen kulturelle, soziale, intellektuelle, religiöse Brücken schlagen zwischen den Frauen des Südens und des Nordens und so an einer aktiven Frauensolidarität arbeiten. Vor allem ist es uns ein Anliegen, den rassistischen und islamfeindlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Ziel unserer Veranstaltungen ist es, als Musliminnen Respekt, gesellschaftliche Anerkennung, öffentlichen Raum einzufordern. Wir wollen entgegen der islamfeindlichen Hetze, die bis zum Krieg gegen MuslimInnen führt, die Wirklichkeiten muslimischer Frauen, ihre Lebenswahl, ihre Sorgen und ihre Widerständigkeit den nicht­muslimischen Frauen näher bringen. Es finden regelmäßige Vereinstreffen statt, bei denen verschiedene Aktivitäten diskutiert und geplant werden. Sie können bei uns mitarbeiten, uns unterstützen und sich bei uns informieren. MARHAMA Sozial­ und Gesundheitsdienst für Migrantinnen und Musliminnen DSCHANUUB Interkultureller Frauenverein
39 Impressum: Interkultureller Frauenverein Dschanuub, Marhama – Sozial­ und Gesundheitsdienst für Migrantinnen und Musliminnen, 8020 Graz, Griesgasse 8, www.dschanuub.at Für den Inhalt verantwortlich: DGKS Mag a . Š. Karić­Kovač, DSA R. Al­Hussein Layout: H. Taghezout, S. Kolonić Lektorat: Mag a . H. Suleiman, Mag a . H. Steininger, DGKS Mag a . R. Weiss Titelseite: Keramik aus Istanbul/ 16.Jhdt., ausgestellt im Museum für Islamische Kunst, Berlin Druck: RehaDruck, Graz, 2006 Marhama ist ein Modul des Interkulturellen Frauenvereins Dschanuub im Rahmen der Entwicklungs­ partnerschaft „wip ­ work­in­process“. Ermöglicht wurde die Herstellung und kostenfreie Verteilung dieses
40 Ratgebers durch Finanzierung der Entwicklungspartnerschaft durch BMWA und ESF im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative EQUAL.
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