Indeterminismus

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122) ›I‹ bedeutet damit die Nicht-Ableitbarkeit der
Zukunft aus der Vergangenheit, was Inkongruenz der
Dynamik zwischen Bedingung und Bedingtem sowie
irreduzible Eigendynamik des letzteren voraussetzt.
(Von diesem Begriff des immanenten I ist der vollständige I – also allseitiger Zufall, Wunder und Ähnliches – abzugrenzen, die das deterministische Geschehen unerklärlich von außen beeinflussen.) Da in der
Ideologie immer danach gestrebt wird, Herrschaft in
die vermeintlich ungeschichtliche Sprache der Natur
zu übersetzen, können umgekehrt Transpositionen
naturwissenschaftlicher Theorien in Philosophie in
die De/Legitimierung von Herrschaft eingehen. Das
I-Theorem korrespondiert aber auch mit einer spezifisch geschichtsmaterialistischen Unschärferelation,
wie MARX sie in ThF 1 umrissen hat.
Indeterminismus
A: al-l°ƒatm÷ya. – E: indeterminism. – F: indéterminisme.
R: indeterminizm. – S: indeterminismo.
C: feijuedinglun
Das I-Theorem der Quantenmechanik, auch
Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation genannt,
hat seit seiner Formulierung durch Werner HEISENBERG 1927 viele Kontroversen über die Beschaffenheit der physikalischen Welt und – in problematischer Übertragung – über menschliche Freiheit
hervorgerufen. Es besagt, dass die Messgrößenpaare,
die in der klassischen Physik jeweils zur vollständigen Beschreibung der Dynamik eines Körpers erfordert sind, nicht beliebig genau gleichzeitig messbar
sind: Die Messung einer Variablen ändert gerade die
andere. »Bis HEISENBERG hatte man angenommen,
die Irrtümer hinsichtlich unabhängiger Variablen
seien voneinander unabhängig. Jede Variable bot
für sich genommen die Möglichkeit zu einer immer
präziseren Analyse; der Experimentator glaubte sich
stets in der Lage, die Variablen zu isolieren und die
individuelle Analyse zu vervollkommnen. Er glaubte an eine abstrakte Erfahrung, in der die Messung
nur ein einziges Hindernis kannte: die Unzulänglichkeit der Messinstrumente. Mit Heisenbergs Prinzip
der Ungewissheit kommt es nun zu einer objektiven
Korrelation der Irrtümer.« (BACHELARD 1934/1988,
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1. Wie eine Vorwegnahme quantenmechanischer
Erkenntnisse wirkt die Atomphilosophie EPIKURS.
Für die Bewegung der Atome nimmt er neben der
mechanisch geraden Linie und Vibration (kat¦
palmÒn) im Unterschied zu DEMOKRIT eine Art seitliches ›Ausflippen‹ (kat¦ paršgklisin, lat. declinatio) an (an Herodot, 43). Letzteres muss möglich sein,
sobald das Atom als Prinzip gesetzt ist, da einerseits
aus der allgemeinen Parallelbewegung keine Verbindung zustande käme, andererseits sonst die Bewegung jedes Atoms vollständig von der Mechanik des
Gesamtfeldes (Zusammenstoß, Rückprall) determiniert wäre. Die Abweichung bedeutet eine sprunghafte, am Einzelnen vorgehende Unterbrechung der
vorherbestimmten Bewegung. LUKREZ benennt in
seinem Lehrgedicht Konsequenz und Motiv dieser
Annahme: »Wenn die Atome nicht weichen vom Lote
und dadurch bewirken / Jener Bewegung Beginn, die
des Schicksals Bande [fati foedera] zertrümmert, /
Das sonst lückenlos schließt die unendliche Ursachenkette: / Woher, frag ich dich, stammt die Freiheit
der Willensbestimmung« (Von der Natur, II.253-56).
MARX wird in seiner Dissertation resümieren: »die
Deklination [durchbricht] die fati foedera […]; und
wie er dies sogleich auf das Bewusstsein anwendet,
so kann vom Atom gesagt werden, die Deklination
sei das Etwas in seiner Brust, was entgegenkämpfen
und widerstehen kann.« (40/281) Die Deklination
– gleichsam als ›Abweichung‹ vom ›System‹ – findet
sich im Politischen im Vertrag, im Sozialen in der
Freundschaft (vgl. 40/285; 3/125).
Diese Sichtweise führt den Zufall in das Naturgeschehen ein, doch nicht als »reale Möglichkeit«,
wie MARX in seiner Doktorarbeit bemerkt, sondern
nur als »abstrakte«: »Was abstrakt möglich ist, was
gedacht werden kann, das steht dem denkenden Subjekt nicht im Wege, ist ihm keine Grenze« (40/276).
Naturphilosophie hat für EPIKUR nicht den Sinn,
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Naturmechanismen zu erkennen, um die Produktivkräfte der Menschen zu entwickeln, sondern ist
ein Mittel, die Angst vor unbegriffenen Naturvorgängen und v.a. vor dem Tod zu besiegen. Hierbei
kämpft EPIKUR gegen den Götterglauben wie gegen
den Determinismus. »Es wäre besser, dem Mythos
über die Götter zu folgen, als Sklave des Schicksals
(eƒmarm»nh) der Physiker zu sein. Denn jener lässt
Hoffnung der Erbarmung wegen der Ehre der Götter, diese aber die erbarmungslose Notwendigkeit
(¢n£gkh).« (An Menoikeus, 134; vgl. 40/274) Damit
ist der Determinismus »vom Himmel auf die Erde
herabgestiegen« (BACHELARD 1934/1988, 101). MARX
bezeichnet EPIKUR daher als den »größten griechischen Aufklärer« (40/305).
EPIKURS Kritik an DEMOKRIT, die der junge MARX
teilt, muss relativiert werden. Während DEMOKRIT
wie außer ihm nur noch ARISTOTELES den universellen
enzyklopädischen, dazu noch politischen Wissenschaftler repräsentiert, darüber hinaus der einsame
Demokrat unter den Philosophen ist, ist EPIKUR der
aus dem Gemeinwesen zurückgezogene Glückslehrer. LUKREZ: »Doch nichts Süßeres gibt’s als die heiteren Tempel zu hüten, / Welche die Lehre der Weisen auf sicheren Höhen errichtet. / Ruhevoll kannst
du von dort auf das Treiben der andern herabsehn, /
Wie sie da schweifen und irren den Pfad zum Leben
zu finden, / […] Wie sie bei Tag und bei Nacht mit
erheblicher Mühsal streben, / Aufzusteigen zum
Gipfel der Macht und den Staat zu beherrschen!«
(Von der Natur, II.7-13)
Die MARXsche Kritik am »Hauptmangel alles bisherigen Materialismus« (ThF 1, 3/5) »in Gestalt der
unerhörten Frage, wie die Wirklichkeit, statt in der
Gestalt des Wirkenden unter Einschluss der menschlichen Tätigkeit begriffen zu werden, in die Form des
Objekts kommt« (HAUG 2001, 93f), trifft bei EPIKUR
auf einen physikalischen Objektbegriff, der eine Präfiguration von Tätigkeit spekulativ einschließt. Aus
der MARXschen Vermittlung von subjektivem Wirken
und objektiver Wirklichkeit folgt ein I anderer Art
als der naturhafte: da es kein abgeschlossenes Gegenüber gibt, ist jede Erkenntnis mit einer irreduziblen
und infinitesimalen Kontamination des Anderen mit
dem Eigenen verbunden. Der Bezug auf die Denkstruktur des Indeterminismus mag dabei helfen, diese Bewandtnis zu denken und den Objektivismus zu
kritisieren, ohne Objektivität preiszugeben.
eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache
des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz,
die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und
die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse
der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen
Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper
und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts
wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit
lägen klar vor ihren Augen.« (2003, 1f) Diese hypothetische Intelligenz ist unter dem Namen »laplacescher Dämon« bekannt geworden.
Die Erklärung physikalischer Zusammenhänge mittels mechanischer Bewegungsgesetze fand ihre Grenze in der Kompliziertheit der Bewegungsabläufe. Das
Wahrscheinlichkeitskalkül füllte diese Lücke. Seine
Anfänge reichen ins 17. Jh. zurück in die Berechnung
der Gewinnchancen beim Glücksspiel (Pierre FERMAT und Blaise PASCAL; vgl. Biermann 1965), auf die
Auswertung von Sterbetafeln und Fragen der Rentenrechnung (John GRAUNT) und der Leibrente (Jan
DE WITT).
Die erste probabilistische Berechnung von Versicherungsbeiträgen wurde um die Mitte des 19. Jh.
von Carl Friedrich GAUSS vorgelegt. Etwa um dieselbe Zeit wurde das Wahrscheinlichkeitskalkül in die
Physik eingeführt: Auf Grund der großen Teilchenzahl (ca. 1023 Teilchen pro m3) und damit der großen Zahl von Freiheitsgraden in einem Gasvolumen
ist die Berechnung jedes einzelnen Teilchens aus den
Anfangsbedingungen praktisch nicht durchführbar.
Statistische Erwägungen gestatten es, makroskopisch
messbare thermodynamische Parameter (Temperatur,
Druck, Dichte) auf Parameter der Molekularbewegung zurückzuführen (kinetische Gastheorie) und
Wahrscheinlichkeitsaussagen für die letzteren zu treffen (z.B. MAXWELL-BOLTZMANNsche Geschwindigkeitssverteilung). Obwohl das physikalische System
als vollständig determiniert gedacht wird, können
aus Unkenntnis des genauen Anfangszustands bzw.
aus der faktischen Unmöglichkeit einer exakten
Bahnberechnung aller Teilchen selbst bei vorausgesetzter genauer Kenntnis des Anfangszustands
nur Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden.
Dieses Konzept wurde in der Folge v.a. in der Versicherungsmathematik weiterentwickelt, wo Georg
BOHLMANN 1900 ein erstes, noch unzulängliches
(keine Unabhängigkeit der Axiome) mathematisches
2. In der philosophischen Interpretation der neu- Axiomensystem der Wahrscheinlichkeitstheorie aufzeitlichen Physik hat sich, bes. durch die NEWTON- stellte.
sche Mechanik, der Determinismus durchgesetzt.
Der Wahrscheinlichkeitsbegriff musste bei der
Seine konsequenteste Formulierung findet er 1814 Entwicklung der Quantenmechanik umformuliert
bei Pierre-Simon DE LAPLACE: »Wir müssen also den werden; im neuen Paradigma gewinnt er eine völlig
gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge neue Stellung. Viele Begriffe der klassischen Physik,
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wie Teilchenbahn, verlieren in der Atomphysik ihren
Sinn und werden aufgegeben, da sie die Kenntnis
von Variablen voraussetzen, die erst durch Messung
gewonnen werden müssen. »Wenn wir aus den atomaren Erscheinungen auf Gesetzmäßigkeiten schließen wollen, so stellt sich heraus, dass wir nicht mehr
objektive Vorgänge in Raum und Zeit gesetzmäßig
verknüpfen können, sondern – um einen vorsichtigeren Ausdruck zu gebrauchen – Beobachtungssituationen. […] Die mathematischen Symbole, mit denen
wir eine solche Beobachtungssituation beschreiben,
stellen eher das Mögliche als das Faktische dar.«
(HEISENBERG 1973, 147) »Nicht mehr das faktische
Geschehen selbst, sondern die Möglichkeit zum
Geschehen, die ›potentia‹, wenn wir diesen Begriff
der Philosophie des ARISTOTELES verwenden wollen,
ist strengen Naturgesetzen unterworfen.« (29) Die
Kausalität des Einzelereignisses wird zugunsten der
Kausalität des Wahrscheinlichen aufgegeben. Gaston BACHELARD verallgemeinert diese Sichtweise zu
einem »topologischen Determinismus« (1934/1988,
112).
Allerdings erfordert jede berechnende Wissenschaft einen mathematischen Determinismus. Erwin
SCHRÖDINGER sieht dadurch die Struktur der Theorie
verändert: »Die Wirklichkeit widerstrebt der gedanklichen Nachbildung durch ein Modell. Man lässt
darum den naiven Realismus fahren und stützt sich
direkt auf die unbezweifelbare These, dass wirklich
(für den Physiker) letzten Endes nur die Beobachtung, die Messung ist.« Die quantenmechanische
Wellenfunktion »ist jetzt das Instrument zur Voraussage der Wahrscheinlichkeit von Maßzahlen. In ihr
ist die jeweils erreichte Summe theoretisch begründeter Zukunftserwartungen verkörpert […]. Sie ist
die Beziehungs- und Bedingtheitsbrücke zwischen
Messungen und Messungen, wie es in der klassischen
Theorie das Modell und sein jeweiliger Zustand war.«
(1959/1989, 26) Hier ersetzt quantenmechanischer
Pragmatismus den naiven Realismus.
Den Widerspruch, dass die Wahrscheinlichkeit
prinzipiell gefasst und ein mathematischer Determinismus gefordert wird, löst die Quantenmechanik,
indem sie in der Theorie den Darstellungsraum (auch
Konfigurationsraum genannt) und den Maßraum
auseinanderfallen lässt. Der Maßraum ist der Teil
der Theorie, der mit experimentellen Ereignissen
verglichen werden kann, der Darstellungsraum dient
zum Verstehen und zum Berechnen mathematischer
Größen. Den Größen im Maßraum korrespondieren physikalische Informationen. Im Darstellungsraum haben wir abstrakt-mathematische Größen
wie die so genannte Wellenfunktion, physikalische
Nicht-Dinge, aber mathematische Dinge. Die Vermittlung zwischen den beiden Räumen übernehmen
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die so genannten Messoperatoren, die die gewünschten Messwerte aus der Wellenfunktion extrahieren.
Die Zweiteilung der theoretischen Räume führt zur
objektiven Sprachbarriere der Quantenmechanik:
man kann über sie entweder nur mathematisch oder
nur metaphorisch reden.
Der Theorieaufbau der Quantenmechanik ist verallgemeinerbar: Sie hebt sich einerseits vom Empirismus ab, da sie wegen der Notwendigkeit des Darstellungsraumes die Eigenständigkeit der Theorie
betont, andererseits von spekulativer Philosophie, da
sie im Maßraum eine Reibungsfläche zur Wirklichkeit besitzt. Die Darstellungsräume müssen kohärent
zum Maßraum gewählt werden. Dabei sind verschiedene Darstellungsräume möglich. Der Realitätsbezug
der ›Korrespondenz‹ ist nur noch auf den Maßraum
beschränkt, wird aber nicht aufgegeben.
In den atomaren Vorgängen steht die Naturwissenschaft, wie HEISENBERG bemerkt, »nicht mehr als
Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst
als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und
Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen
bewusst, die ihr dadurch gesetzt sind, dass der Zugriff
der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, dass sich die Methode also nicht mehr vom
Gegenstand distanzieren kann.« (1973, 111f) Der
Eingriff ist Bestandteil des Objekts. Beobachtet wird
nur die Wechselwirkung.
Während nun HEISENBERG die Quantenmechanik
›platonistisch‹ interpretiert, indem er das Objekt ins
Subjekt zieht, findet Niels BOHR »solche Formulierungen wie ›die Beobachtung stört das Phänomen‹
ungenau und irreführend«, mit der Begründung,
»dass man das Wort ›Phänomen‹ gar nicht verwenden
kann, ohne gleichzeitig genau zu sagen, an welche
Versuchsanordnung oder welches Beobachtungsmittel dabei gedacht werden soll.« (Zit.n. HEISENBERG
1973, 127) Mit GRAMSCI kann man diese Abkehr
von einem Substanzialismus der Materie als Kritik
am Objektivismus verstehen. Die Subjekt-ObjektDichotomie wird mit Hilfe quantenmechanischer
Erkenntnisse ausgehebelt.
Für den relativen Verlust der Anschaulichkeit führte Niels BOHR den Begriff der Komplementarität ein.
Erst das Wechseln der Abbildungsweisen erzeugt die
Vorstellung der verschiedenen möglichen Ereignisse. »Im Rahmen der klassischen Physik können im
Prinzip alle charakteristischen Eigenschaften eines
gegebenen Objekts mittels einer einzigen Versuchsanordnung festgestellt werden, obgleich in der Praxis
zuweilen mehrere Anordnungen zum Studium verschiedener Aspekte des Phänomens bequemer sind.
Auf diese Weise gewonnene Kenntnisse ergänzen
einfach einander und können zu einem zusammen© InkriT – www.inkrit.de
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hängenden Bild des Verhaltens des zu untersuchenden Objekts zusammengefasst werden. In der Quantenphysik stehen dagegen die mit Hilfe verschiedener
Versuchsanordnungen gewonnenen Erfahrungen in
einer neuartigen komplementären Beziehung zueinander. Es muss ja erkannt werden, dass solche Erfahrungen, die als einander widersprechend erscheinen,
wenn man versucht, sie in einem einzigen Bilde
zusammenzufassen, alle über das Objekt erfassbare
Kenntnis erschöpfen. Weit davon entfernt, unseren
Bemühungen, der Natur Fragen in Form von Experimenten zu stellen, eine Grenze zu setzen, charakterisiert der Begriff Komplementarität einfach die
Antworten, die wir auf eine solche Fragestellung in
jenen Fällen erhalten können, wo die Wechselwirkung zwischen den Messgeräten und den Objekten
einen integrierenden Teil des Phänomens bildet.«
(1958, 4f) Nur durch verschiedene Verbildlichung
(auf der Ebene des Maßraumes) wird eine angemessene Beschreibung des Objektes erreicht. Die physikalischen Objekte können in bestimmten Anordnungen als Welle, in anderen als Teilchen beschrieben
werden. Die beiden Bilder widersprechen einander,
wenn die physikalischen Objekte substanzialisiert
werden. Die aristotelische Logik des Entweder-Oder,
wird ersetzt durch die anti-aristotelische Logik des
Sowohl-als-auch, wie MARX schon bei EPIKUR beobachtet hat: »So leugnet EPIKUR selbst das disjunktive
Urteil, um keine Notwendigkeit anerkennen zu müssen.« (40/275)
Der Begriff der ›gegenwärtigen Lage der Gebilde‹
(LAPLACE) wird im 20. Jh. sowohl von der Relativitätstheorie als auch von der Quantenmechanik in
Frage gestellt. In der Relativitätstheorie wird aufgrund der endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit
von Wirkungen der Begriff der Gleichzeitigkeit aufgegeben. In der Quantenmechanik stellt HEISENBERG
in Anspielung auf LAPLACE das Kausalgesetz in Frage: An seiner »scharfen Formulierung […]: ›Wenn
wir die Gegenwart genau kennen, können wir die
Zukunft berechnen‹, ist nicht der Nachsatz, sondern
die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart
in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennen.« (284)
Die Preisgabe des vollständigen Determinismus
wurde nicht von allen Physikern akzeptiert. EINSTEIN
hat bis zu seinem Tode nicht daran geglaubt, dass die
Quantenmechanik die physikalischen Objekte endgültig beschreibt und »dass es grundsätzlich unmöglich sein sollte, alle für eine vollständige Determinierung der Vorgänge notwendigen Bestimmungsstücke
zu kennen. ›Der liebe Gott würfelt nicht‹, das war
eine Wendung, die man in diesen Diskussionen oft
von ihm hören konnte.« (HEISENBERG 1973, 99f) Die
Retourkutsche blieb nicht aus. »BOHR konnte dar-
auf nur antworten: ›Aber es kann doch nicht unsere
Aufgabe sein, Gott vorzuschreiben, wie Er die Welt
regieren soll.‹« (Ebd.)
Das Überraschende und sich dem Denken immer
wieder Entziehende an der Quantenmechanik war
und ist, dass trotz immer differenzierterer Erfassung
der funktionalen Struktur der Feldes nur Wahrscheinlichkeiten voraussagbar sind. Der Zufall ist
nicht mehr nur scheinbar, sondern er wird notwendig
zur Durchsetzung der Naturgesetze. Der Kontrollierbarkeit des physikalischen Systems sind Grenzen
gesetzt. Die Natur kann in identischen experimentellen Situationen für ein Ensemble von Messgrössen
mehrere Wege beschreiten.
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3. Die quantenmechanische Wende wurde sogleich
philosophisch rezipiert, bes. durch den logischen
Empirismus. Bertolt BRECHT hat diese Debatte aufmerksam verfolgt (vgl. SAUTTER 1995). Sein Interesse entsprang nicht müßiger Neugier (vgl. ULUDAG
1999): »Die Forschungen der Physiker haben in den
letzten Jahren zu Folgerungen auf dem Gebiet der
Logik geführt, die immerhin einer Reihe von Glaubenssätzen, die der Unterdrückung dienen, gefährlich werden könnten.« (GW 18, 236f) BRECHT überträgt nicht etwa die Theoreme der Quantenmechanik
eins-zu-eins, sondern sein Gedanke geht »in mehrere
Richtungen, er probiert physikalische Denkfiguren für die Darstellung menschlichen Verhaltens in
der Gesellschaft aus und zieht der Totalisierung die
Grenze der Praxisrelevanz« (HAUG 1996, 55).
Die quantenmechanische Wende wird von BRECHT
im Anschluss an einen Vortrag von Hans REICHENBACH (1942), der auch BACHELARD beeinflusst hat,
im Arbeitsjournal erfasst. »die philosophen werden
irritiert durch den HEISENBERGsatz, nach dem raumpunkt und zeitpunkt [richtig: geschwindigkeit, KU]
nicht koordiniert werden können. selbst wenn man
damit eine grenze aufgezeigt hätte, über die hinaus
die beschreibungsmethoden prinzipiell nicht mehr
›verbessert‹ werden können, bliebe es für die philosophen immer noch eine frage der beschreibungsmöglichkeit, so dass ihr satz, dass nichts ohne grund
geschieht, eben erhalten bleibt. von den physikern
wird er umgestoßen durch den nachweis seiner leere; sie lassen ihn sozusagen, indem sie ihn verlassen.
prinzipiell unerkennbare gründe sind für sie keine
gründe.« (17.3.42) BRECHT benutzt hier die HEISENBERGsche Unschärferelation und den damit verbundenen Pragmatismus in der Beschreibung quantenmechanischer Zustände, um mit philosophischen
Spekulationen abzurechnen.
Karl KORSCH sieht in Anlehnung an Philipp FRANK –
einen berühmten Physiker und Machisten, mit dem sich
schon LENIN in Materialismus und Empiriokritizismus
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auseinandergesetzt hat – die Bedeutung der Entwicklungen in der theoretischen Physik nicht in
der »vollzogenen Abwendung von der Strenge der
›mechanistischen‹ Kausalität und Zuwendung zu solchen ›organischen‹ bzw. schon direkt animistischen
Vorstellungen wie ›Ganzheit‹, ›Plan‹, ›Zweck‹, ›Willensfreiheit‹, ›Atomseele‹ u. dgl. m. Vielmehr handelt
es sich lediglich um die prinzipiell auch schon früher
gegebene, durch die neueste Entwicklung aber aktualisierte Notwendigkeit einer solchen Formulierung
des Kausalgesetzes, durch welche dieses einerseits von
allen metaphysischen und philosophisch apriorischen
Sinnlosigkeiten gereinigt, andererseits aus einer bloßen allgemeinen Tautologie immer mehr in besondere,
erfahrungsmäßig entscheidbare Wirklichkeitsaussagen
umgewandelt wird.« (1932, 404)
Das Autorenkollektiv um Herbert HÖRZ – der seine
Auffassungen im Kontakt mit HEISENBERG entwickelt
hat – hebt hervor, dass die quantenmechanische Auffassung des I nicht gleichzusetzen ist mit dem Fehlen
jedweder Gesetzlichkeit, sondern deren Neufassung
derart, dass sie »das Verhalten des Systems eindeutig bestimmt, jedoch zwischen den Elementen Verhaltensmöglichkeiten zulässt, deren jede sich zufällig
verwirklicht, wobei für die zufällige Verwirklichung
eine Wahrscheinlichkeit existiert« (Marxistisch-leninistische Philosophie, 1979, 211). Das Zufällige ist
also notwendig für die Durchsetzung der Naturgesetze. Und: »Es gibt keinen Platz für Mystizismus
und Irrationalismus. In Natur und Gesellschaft
ermöglicht nur die durchgängige Determiniertheit
der Dinge und Erscheinungen wirklich wissenschaftliche Voraussagen.« (HÖRZ 1962, 130)
BRECHT stellt weiterhin eine Parallelität zwischen
der Quantenmechanik und der Philosophie der Praxis fest. »auch der historische materialismus weist
diese ›unschärfe‹ in bezug auf das individuum auf.«
(AJ, 26.3.42) Das Individuum ist nie restlos in die
gesellschaftlichen Bestimmungen aufzulösen; auch
wenn diese vollständig erfasst wären, würde das konkrete Individuum davon abweichen. Das Individuelle
ist nicht der ungenügenden Kenntnis geschuldet, d.h.
scheinbar, sondern es ist fundamental und befindet
sich von je her im gesellschaftlichen Feld. Der Gedanke, wonach das elektromagnetische Feld, in dem sich
der Einfluss aller elektrisch geladenen Teilchen auf
die Dynamik des Teilchens, welches man beschreiben will, zusammenfasst, wurde von Kurt LEWIN in
die Psychologie eingeführt und im Anschluss hieran
von BRECHT in die Theaterästhetik und in die Philosophie übernommen.
Die quantenmechanische Fassung des Determinismus und der Kausalität wird nun für das Verhältnis
von Individuum und Masse (Feld) fruchtbar gemacht.
»Im Vergleich zu größeren Einheiten wie Klassen,
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wo wir schon eher, wenn wir uns vor Verallgemeinerungen hüten, Voraussagen machen können, sollten
uns die Individuen nicht dazu verführen, eine andere
Kausalität als die von den Physikern die statistische
genannte zu erwarten. Das Missverhältnis zwischen
der Quantität der Einflüsse und der Kleinheit des
ihnen sich anpassenden Menschen, die sich in der
Unbestimmtheit und Geringfügigkeit der Folgen
seiner Handlungen kundgibt, ist zu groß. Es ist nur
gut, hier dem zu erwartenden Verhalten eine gewisse Unsicherheit zu verleihen, das heißt das typische
Verhalten jeweils mit einem Fragezeichen zu versehen, wenigstens in der Rückhand noch ein anderes
mögliches Verhalten zu halten. Erst gut eingefügt in
große und in starker Bewegung befindliche Bewegungen gewinnt das Individuum einige Sicherheit
und ist kalkulierbar.« (GA 22.2, 692; GW 20, 62)
Dieses Theorem wird leitend bei BRECHTS Arbeit als
Dramatiker. »Das Individuum mag uns – bei diesen
Prozessen in Massen – überraschen. Erst eine ganze
Reihe seiner Äußerungen und Bewegungen fixiert
es einigermaßen in der oder jener Masse. Es würde
uns an ihm etwas fehlen, nämlich etwas Individuelles, wenn es allzu widerspruchslos der gesetzmäßigen Bewegung der Masse folgen würde, das wäre bei
ihm der Sonderfall. Bedeutet das, dass wir mit dem
Individuum nichts mehr zu tun haben wollen, ihm
gegenüber resignieren, keine Kausalität mehr bei ihm
festsetzen oder feststellen wollen? Keineswegs. Wir
haben lediglich unsere Ansprüche verschärft. Etwas
vereinfachend: wir können bei unseren Zuschauern
eine Haltung nicht brauchen (dürfen bei unseren
Zuschauern eine Haltung nicht schaffen), die dem
Individuum gegenüber […] ständig auf absolute Kausalität ausgeht, statt, wie die Physiker sagen, auf statistische. Wir müssen in gewissen Lagen mehr als eine
Antwort, Reaktion, Handlungsweise erwarten, ein Ja
und ein Nein; beides muss einigermaßen begründet,
mit Motiven versehen erscheinen. Die Aufmerksamkeit, das kausale Interesse des Zuschauers muss auf
die Gesetzmäßigkeit in den Bewegungen der Massen
der Individuen eingestellt werden. Er muss solche
Massen hinter den Individuen sehen, die Individuen
als Massenteilchen in einer massenmäßigen Reaktion,
Handlungsweise, Entwicklung betrachten.« (GW 15,
279f) Das Individuum situiert sich am Schnittpunkt
verschiedener Massen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: »Wie GRAMSCI
verwirft BRECHT den ›Objektivismus‹ vieler Marxisten. Der Gedanke geht nach zwei Seiten. Die erste
betrifft die Veränderbarkeit des Zu-Erkennenden:
[…] Wenn das Individuum wesentlich bestimmt ist
durchs Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse, so sind diese Verhältnisse nichts, was ihnen
rein ›objektiv‹ gegenüberstünde. […] Die zweite Seite
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betrifft die Tätigkeit des Erkennenden selbst bzw. das diese quantenmechanischen Erkenntnisse in eine
Hineinwirken der Erkenntnistätigkeit ins Zu-Erken- politische Haltung übersetzen. »mir gefällt die welt
der physiker, die menschen verändern sie, und dann
nende.« (HAUG 1996, 52f)
Durch die weitere Entwicklung der Physik, bes. präsentiert sie sich doch verblüffend. wir können aufdurch die Chaostheorie und Thermodynamik, wur- treten als die spieler, die wir sind, mit unsern ungefähde die Debatte um den I wieder neu geführt. Zahl- ren abwägungen, unserm sogutwirkenkönnen, unsereiche Sozialwissenschaftler haben sich dadurch zur rer angewiesenheit auf andere, auf unbekanntes, auf
Kritik an deterministischem oder objektivistischem selbständiges, so kann wieder mehreres zum erfolg
Denken der Geschichte und Gesellschaft anregen las- führen, nicht nur ein weg ist beschreitbar. merkwürsen, so z.B. Immanuel WALLERSTEIN: »They [natural digerweise fühle ich mich freier in dieser welt als in
scientists] see the future as intrinsically indetermina- der alten.« (AJ, 18.3.42)
te. They see equilibria as exceptional and see material phenomena as moving constantly from equilib- BIBLIOGRAPHIE: G.BACHELARD, Der neue wissenschaftliche
Geist (1934), a.d. Frz. v. M.Bischoff, Frankfurt/M 1988;
ria. They see entropy as leading to bifurcations that K.-R.BIERMANN: »Aus der Entstehung der Fachsprache
bring new (albeit unpredictable) orders out of chaos« der Wahrscheinlichkeitsrechnung«, in: Forsch. und Fort(1999, 189).
schr., 39. Jg., 1965, H. 5, 142-44; N.BOHR, Atomphysik und
4. Das Problem In/Determinismus tritt auf, wenn
etwas Bestimmendes gefunden und näher beschrieben wird und sein Verhältnis zum Bestimmten noch
unklar ist. Mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wurde daher immer wieder
die Frage aufgeworfen, inwieweit das Individuum
oder die Gesellschaft als Ganzes von den Naturgesetzen bestimmt ist. KANT stellte z.B. die Frage,
wie Moral (oder Ideologie allgemein, könnte man
ergänzen) möglich ist, wenn alles durch objektive
Naturgesetze bestimmt ist und der Mensch innerhalb dieser Gesetze keine Freiheit hat. Vertreter der
modernen Hirnforschung nehmen diese Frage wieder auf, wobei sie in der Regel frühere Bearbeitungen
ignorieren. Mit gleichsam warenästhetischer Selbstüberhöhung bei fehlendem Geschichtsbewusstsein
versuchen sie de facto, die Ideologie mit dem Neoliberalismus konform zu machen. Das Bestimmende
(die neurobiologischen Gesetze) wird als vollständige Determinante des Bestimmten (die gesellschaftlichen Gesetze mit dem gesellschaftlichen Individuum
als Zwischenschritt) imaginiert. Doch so wenig individuelles Bewusstsein im Neuron gefunden wird, so
wenig wird die Gesellschaft aus einer Aneinanderreihung von Individuen gebildet. Mit MARX: »Aber das
menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit
ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (3/6) Die Denkgrammatik der Quantenmechanik mit ihrer Ablehnung des Substanzialismus und
ihrem Einbezug der Messung in die Theorie kann
dabei helfen zu erinnern, dass das Bestimmte immer
eine Eigendynamik hat, die sich der vollständigen
Bestimmung entzieht. Das redet keinem Irrationalismus das Wort, sondern sagt nur aus, das wir Teil
der Welt sind, die wir beschreiben und daher jede
gesellschaftliche Dynamik die Spur des eigenen Handelns – sei sie auch infinitesimal – trägt. BRECHT kann
HKWM 6.II, 2004
menschliche Erkenntnis, Braunschweig 1958; W.F.HAUG,
Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Berlin-Hamburg
1996; ders., Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern, Berlin 2001 (2.A., Hamburg 2004); W.HEISENBERG,
Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1973; H.HÖRZ, Der dialektische Determinismus in Natur und Gesellschaft, Berlin/DDR 1962;
K.KORSCH, Rez. v. »Philipp Frank: Das Kausalgesetz und
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2003; K.LEWIN, »Der Übergang von der aristotelischen zur
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The End of the World as we Know it, Minneapolis-London
1999.
KAMIL ULUDAG
➫ Abbild, abstrakt/konkret, Aneignung, anschauender
Materialismus, Aufklärung, Bestimmung/Determination,
Bewegung, Brecht-Linie, Determinismus, eingreifendes
Denken, Empirie/Theorie, Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, Epistemologie, Erkenntnistheorie,
Experiment, Fakten, feuerbachscher Materialismus, Feuerbach-Thesen, Freiheit, Ganzes, Gegenstand, Glück,
Hirnforschung, immateriell, Kausalität, Massen, Materialismus, Materie, Metapher, methodologischer Individualismus, Möglichkeit, Naturdialektik, Naturwissenschaft,
naturwissenschaftlicher Materialismus, Objektivismus,
Objektivität, Philosophie der Praxis, Quantenmechanik,
Relativitätstheorie, Subjekt-Objekt, Tätigkeit, verändern,
Wahrscheinlichkeit, Weisheit, Weltanschauung, Willensfreiheit, Wissenschaft, wissenschaftliche Wissenschaftstheorie, Zufall
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