Die heilige Johanna der Schlachthöfe

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Königs Erläuterungen und Materialien
Band 187
Erläuterungen zu
Bertolt Brecht
Die heilige Johanna
der Schlachthöfe
von Edgar Neis
C. Bange Verlag – Hollfeld
1
Herausgegeben von Klaus Bahners, Gerd Eversberg
und Reiner Poppe
Hinweis der Herausgeber:
Die Rechtschreibung wurde der amtlichen
Neuregelung angepasst.
6. veränderte Auflage 1998
ISBN 3-8044-1660-8
© 1979 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld
Alle Rechte vorbehalten!
Satz: Werbestudio Bayer, 96142 Hollfeld
Druck: Beyer-Druck, 96142 Hollfeld
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INHALT
1.
Bedeutung und Aktualität Bertolt Brechts ........ 5
2.
Leben und Werk ................................................ 18
3.
Zur Theorie der Gattung
3.1
3.2
Brechts Theorie des Dramas ............................................. 26
Sozialistischer Realismus auf dem Theater ....................... 38
4.
Erläuterungen zur
„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“
4.1
Werksgeschichte: Zur Entstehung der „Heiligen Johanna
der Schlachthöfe“ ............................................................... 39
Gang der Handlung in Bertolt Brechts Drama „Die heilige
Johanna der Schlachthöfe“ ................................................ 40
Charakteristik der Hauptpersonen
Der Fleischkönig Pierpont Mauler ...................................... 57
Johanna Dark ..................................................................... 61
4.2
4.3
4.3.1
4.3.2
5.
Materialien (Hinweise und Dokumente zur
Interpretation)
5.1
Der Aufbau des Dramas „Die heilige Johanna
der Schlachthöfe“ ............................................................... 65
Der Ablauf der Marktökonomie in Bertolt Brechts
„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ ............................. 68
Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ – Ein
Sprachkunstwerk ............................................................... 70
Brechts zwei Seelen .......................................................... 79
Brechts Johanna-Dramen .................................................. 82
Brecht und die Klassik ....................................................... 84
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
3
5.7
5.8
5.9
5.10
5.11
Die Johanna-Gestalt bei Schiller und Brecht
(Ein Vergleich) ................................................................... 86
Brechts heilige Johanna als Prototyp des
faustischen Menschen ....................................................... 89
Die Jungfrau von Orleans in der Literatur .......................... 92
Die zeitlose Gestalt der Johanna von Orleans .................. 93
Zur Uraufführung der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ ..
in Hamburg am 30. April 1959 ........................................... 96
6.
Literatur (–Auswahl–) ..................................... 100
6.1
6.2
Neue Brecht-Literatur 1971–1998 ................................... 101
Spezialliteratur zu Brechts „Die heilige Johanna
der Schlachthöfe“ 1971–1986 .......................................... 103
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1. BEDEUTUNG UND AKTUALITÄT BERTOLT
BRECHTS
„Wer war Bertolt Brecht? Ein unbequemer Zeitgenosse, ein signifikanter Dichter, ein dilettantischer Theoretiker, ein Amateurpolitiker,
ein bewundernswerter Theaterpraktiker, Schauspiellehrer und Regisseur, ein besessener Rastloser im Willen zur Weltveränderung und
heute noch ein Politikum... Verherrlicht er den Terror? Verdammt er
ihn? Wie so oft bei Brecht wird das eine Frage der Interpretation sein,
deren Beantwortung von der Frage abhängt: Wer war Bertolt Brecht?
Weniger eine Frage der Interpretation aber ist die künstlerische Qualität, die in allen Werken Brechts nachlässt, in denen der politische
Theoretiker und Doktrinär durchbricht.“
So fragt und urteilt Margret Dietrich in ihrem Buch „Das moderne
Drama“. Sie stellt die dramatische und künstlerische Potenz Brechts
heraus, die in einer seltsamen Weise mit seiner politischen Haltung
und seinem politischen Konzept divergiert: „Leben und Werk, Theorie
und künstlerische Praxis Brechts erschienen voller Widerspruch und
dem Wesen nach paradox.“
Auf der Suche nach der Zwiespältigkeit in Brechts Leben und Werk
geht Margret Dietrich den Anfängen Brechts nach: mit 19 Jahren wird
er als Sanitätssoldat eingezogen, erlebt die Schrecken des Ersten
Weltkrieges, das Kriegsende und den Zusammenbruch Deutschlands
mit, die Parteienkämpfe und Notjahre der Nachkriegszeit, das Chaos
der Nachkriegsrevolution. „Mit den Empörern wurde Brecht zum Empörer, aufbegehrend gegen das satte Spießbürgertum und geschäftliche Nutznießertum, Empörer für die Unterdrückten, Geschlagenen,
im Krieg grausam Verwundeten; Empörer gegen alle Kunstphrasen
der ‚Ismen‘, gegen die ästhetisierenden Formalismen, in denen die
Substanz des Menschen immer stärker von abstrakten Mechanismen
der Ausdrucksformen in den Hintergrund gedrängt wurde. Kunst im
alten Sinne wird als großer Betrug entlarvt, an dem man sich ebenso
wie an Philosophie, Ethik, Ästhetik und Metaphysik nur das ‚ekelnde
Kotzen‘ holen könne.“
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Brecht sehnt sich nach sozialer Gerechtigkeit, nach Sauberkeit, nach
Humanität; er verurteilt den Zwang zum Hass, beklagt den Verlust der
Güte und Verständigungsbereitschaft; der Mensch soll dem Menschen ein Helfer sein, wie er in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“
es betont; er soll Geduld haben, Liebe und Barmherzigkeit üben. Und
so wirft sich Brecht in seinem Idealismus, in seiner Ratlosigkeit und
Verzweiflung dem Kommunismus, dem Marxismus in die Arme, in der
Hoffnung, durch ihn seine Absichten und Ziele verwirklichen zu können.
„Baal“ (1920) ist die erste Anklage des nach Veränderung der menschlichen Situation verlangenden Dichters; eine „panische Orgie“, die die
bestialische Verkommenheit, die Perversion des Menschen zeigt; ihr
folgt im gleichen Jahr das Heimkehrerstück „Trommeln in der Nacht“,
das die chaotische Welt der Kriegsgewinnler, Schieber, Betrüger und
Revoluzzer zur Schau stellt. „Im Dickicht der Städte“ (1921) behandelt die Verlorenheit des Menschen im Massenbetrieb der Großstadt
und ihrer Lasterhaftigkeit; „Mann ist Mann“ (1924) die Vereinnahmung und Manipulierung des Menschen, seine Entmündigung und
Enthumanisierung; in diesem Stück heißt es:
Herr Bertolt Brecht behauptet: Mann ist Mann,
Und das ist etwas, was jeder behaupten kann.
Aber Herr Bertolt Brecht beweist auch dann,
Dass man mit einem Menschen beliebig viel machen kann.
Alle diese Frühwerke Brechts sind schreiende Anklagen gegen die
Manipulierung und Uniformierung, gegen Entindividualisierung und
Entmenschlichung, gegen jede Art der Kollektivierung und Nivellierung. „Ändert die Welt, verändert euch! Werdet menschlich, werdet
human!“ ruft Brecht den Menschen zu. „Zeigt Mitleid, zeigt Güte und
Hilfsbereitschaft!“ Umso verwunderlicher ist es, dass er der marxistischen Doktrin erliegt, die doch gerade Entpersönlichung und Kollektivismus auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Allmählich erkennt Brecht: die Welt lässt es nicht zu, dass der Mensch
gut ist und helfen will. Brecht erkennt, dass auch der Marxismus dies
nicht zulässt. 1930 schreibt er das Lehrstück „Die Maßnah6
me“. In ihm verkündet der Enttäuschte seine bittere Einsicht. Es steht
außer Zweifel, dass Brecht sich mit dem jungen Genossen dieses
Stücks identifiziert.
Das Stück nimmt in einem kleinen Vorspiel das Ende vorweg: Vier
Agitatoren berichten dem Kontrollchor, dass sie einen Genossen
getötet und in eine Kalkgrube geworfen haben, weil er den Anordnungen der Partei zuwiderhandelte. Der Kontrollchor fordert sie zur
Darstellung des Geschehenen auf.
1. Die Lehren der Klassiker: Die vier Agitatoren, aus Moskau kommend, treffen an der russisch-chinesischen Grenze einen jungen
Genossen, der voller Idealismus an die Menschheit und Freiheit
glaubt und sich deshalb an die kommunistische Partei angeschlossen
hat, weil er meint, dass sie humanitäre Ziele verwirklichen könne:
„Mein Herz schlägt für die Revolution. Der Anblick des Unrechts trieb
mich in die Reihen der Kämpfer. Der Mensch muss dem Menschen
helfen. Ich bin für die Freiheit. Ich glaube an die Menschheit. Und ich
bin für die Maßnahmen der kommunistischen Partei, welche gegen
Ausbeutung und Unkenntnis für die klassenlose Gesellschaft kämpft“.
Die Agitatoren fordern den jungen Genossen auf, sie über die Grenze
nach Mukden ins feindliche chinesische Land zu begleiten, um dort
unter den chinesischen Arbeitern als Propagandisten zu wirken und
ihnen das ABC des russischen Kommunismus beizubringen. Der
junge Genosse ist dazu bereit: „Vorwärts marschierend, ausbreitend
die Lehre der kommunistischen Klassiker: die Weltrevolution.“
2. Die Auslöschung: Wer für den Kommunismus kämpft, muss seine
Individualität aufgeben, sein Gesicht auslöschen, anonym als Unbekannter kämpfen und von allen Tugenden nur die eine behalten: dass
er für den Kommunismus kämpft. Der junge Genosse ist mit der
Auslöschung seines Gesichtes einverstanden. Als Chinese geht er
mit den vier Agitatoren nach Mukden, um den Chinesen das ABC des
russischen Kommunismus beizubringen.
3. Der Stein: Der junge Genosse erhält den Auftrag, unter den
Reiskahnschleppern Propaganda zu treiben und sie dahingehend
aufzuhetzen, dass sie gleitsichere Schuhe anfordern, denn auf dem
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glatten Lehmboden gleiten sie unbeschuht ständig aus, können die
schweren Reiskähne nicht den Fluss heraufschleppen, stürzen nieder, werden von den Aufsehern hochgepeitscht und zur Arbeit angetrieben. Der junge Genosse aber, statt politische Propaganda zu
treiben, wird von humanitären Regungen überwältigt, denkt nicht an
die Zukunft, sondern an die Gegenwart, die unmittelbare Hilfe fordert:
er legt den immer wieder ausrutschenden Kulis Steine hin, damit sie
nicht mehr ausgleiten, sondern Tritt fassen und so die Kähne leichter
weiterziehen können.
„Christliches“ Mitleid statt kommunistischer Propaganda, tätige Hilfe
für den Nächsten statt Verkündung einer Ideologie, Sieg des Gefühls
über den Verstand: so versagt der junge Genosse vor der ihm
gestellten politischen Aufgabe.
4. Der Verrat: In der chinesischen Stadt sind Unruhen entstanden.
Der junge Genosse will den Hungernden helfen und zu offener Empörung aufrufen. Die Agitatoren beschwören ihn, sich an die Anweisungen der Partei zu halten. Der junge Genosse denkt aber nicht an die
Maximen des Genossen Lenin, er will sofort das Elend der Hungernden lindern.
Der junge Genosse: So frage ich: Dulden die Klassiker (des Marxismus), dass das Elend wartet?
Die drei Agitatoren: Sie sprechen von Methoden, welche das Elend in
seiner Gänze erfassen.
Der junge Genosse: Dann sind die Klassiker also nicht dafür, dass
jedem Elenden gleich und sofort und vor allem geholfen wird?
Die drei Agitatoren: Nein.
Der junge Genosse: Dann sind die Klassiker Dreck, und ich zerreiße
sie; denn der Mensch, der lebendige, brüllt und sein Elend zerreißt
alle Dämme der Lehre.
Die Agitatoren beschwören nochmals den jungen Genossen, er möge
sich nicht von ihnen und der Partei trennen, aber dieser kündigt im
Namen der Menschheit sein Einverständnis und „ macht jetzt seine
Aktion“. Er begibt sich seiner bisher gewahrten Anonymität, reißt sich
die Maske vom Gesicht und schreit:
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Wir sind gekommen, euch zu helfen.
5. Äußerste Verfolgung und Analyse: Die Aufhebung der Anonymität
veranlasst die Agitatoren, den jungen Genossen niederzuschlagen
und mit ihm die Stadt zu verlassen. Wenn sie gesehen werden, sind
sie verloren. Sie wollen ihn über die Grenze schaffen, doch diese ist
zu scharf bewacht.
So werfen sie ihn in die Kalkgrube, in der er bis zur Unkenntlichkeit
verbrennt. Sein humanitärer Einsatz widersprach den Prinzipien der
Partei.
Was lehrt uns Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“? Nehmen wir es
ganz einfach: Ein junger Genosse, Kommunist aus Idealismus, weil er
an die Menschheit glaubt und für die Freiheit ist und meint, der
Kommunismus könne den Menschen helfen, erhält dreimal einen
bestimmten Auftrag von der Partei, den er ausführen soll. Alle drei
Male versagt er – im Sinne der Partei –, tut er das „Falsche“, obwohl
es für ihn das „Richtige“ war. Immer wieder hat der junge Genosse als
mitfühlender, mitleidender Mensch selbstverantwortlich gehandelt,
hat sich von Mitleid, Zorn und Empörung hinreißen lassen, hat den
Entschluss der autonomen Persönlichkeit über die Subordination
unter die „Maßnahmen“ der Partei gestellt. Er hat erkennen müssen,
dass diese keine persönliche Entscheidungsfreiheit duldet, statt
Menschlichkeit zu verwirklichen sich an „Methoden“ klammert, statt
idealistisch zu sein einer Ideologie huldigt. Der lebendige Mensch,
dem jetzt und hier geholfen werden muss, ist ihm wichtiger als die
ganze marxistische Lehre: „Eure Klassiker sind Dreck, und ich zerreiße sie; denn der Mensch,der lebendige, brüllt, und sein Elend zerreißt
alle Dämme der Lehre.“ Noch deutlicher kann der junge Genosse,
kann Brecht selber seinen Humanismus nicht bekräftigen; es geht
ihm allein um die Herstellung einer menschlichen Welt durch Güte
und Gerechtigkeit. Das hat Brecht immer und immer wieder betont.
So darf der junge Genosse auch sagen: „Ich kündige alles Einverständnis mit allem und tue das allein Menschliche!“ Freilich: Vor der
Partei wird der junge Genosse damit schuldig, man beschließt seine
Hinrichtung, weil er sich ihren „Maßnahmen“ nicht unterworfen hat.
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Welch bittere Ironie liegt darin, dass der junge Genosse geglaubt hat,
die Partei könne „Freiheit“ verwirklichen, wo sie doch nur ihren Anspruch durchsetzen will! Vor sich selber aber ist er gerechtfertigt; das
Opfer des eigenen Lebens bestätigt die idealistische Ethik des Stücks;
mit Schiller kann man sagen: Der Held siegt, indem er untergeht. „Auf
dem sittlichen Zwiespalt des jungen Genossen, auf seinem menschlich so verzeihlichen Verschulden, auf seinem freiwilligen, sühnenden
Opfertod, der der Idee noch im Untergang zum Sieg verhilft, liegt, aller
Schatten ungeachtet, der ergreifende Abglanz idealistischer Tragik.
Allerdings: es ist ein schwankender und höchst unsicherer Grund, auf
dem diese ideologische Tragödie ruht. Einem unbarmherzigen Zwange folgend, muss sie offenbar immer wieder in die Tragödie der
Ideologie umschlagen und damit sich selber negieren.“ (Reinhold
Grimm).
Es ist nicht verwunderlich, dass die kommunistische Partei, nachdem
sie zunächst in diesem Lehrstück Brechts eine Verherrlichung der
Sowjetunion und des unbedingten Gehorsams ihr gegenüber gesehen und das Stück durch den Arbeiterchor Groß-Berlin unter Mitwirkung von Alexander Granach und Helene Weigel am 10. Dezember
1930 zur Aufführung gebracht hatte (Die „Neue Musik Berlin“ unter
Hindemith, für die das Stück ursprünglich bestimmt war, lehnte eine
Aufführung ab), nachträglich die wahre humanitäre Tendenz des
Stückes erkannte, es heftig kritisierte und es wegen der Darstellung
der grausamen bolschewistischen Praktiken („Fememord“) ablehnte.
Nach 1945 entschloss sich Brecht, Aufführungen der „Maßnahme“
ganz zu verbieten.
Der junge Genosse wird von der Partei liquidiert, weil er human sein
wollte, Menschenrechte verteidigen und durchsetzen wollte: immer
ging es Bertolt Brecht um Menschlichkeit und Menschenrecht, um die
Freiheit des Menschen und die Achtung vor dem Individuum: um die
geistige Freiheit des Forschers im „Leben des Galilei“, um den „guten
Menschen“ und die Frage, ob die Welt sich als menschenwürdig
erweist, im „Guten Menschen von Sezuan“; im Appell gegen die
Vereinnahmung des Menschen durch den Krieg in „Mutter Courage
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