B KULTURWISSENSCHAFTEN BH MUSIK, MUSIKWISSENSCHAFT Personale Informationsmittel Richard WAGNER Briefe EDITION 13-3 Sämtliche Briefe / Richard Wagner. Hrsg. im Auftrag der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth. - Wiesbaden [u.a.] : Breitkopf & Härtel. - 21 cm [#3168] Bd. 22. Briefe des Jahres 1870 / hrsg. von Martin Dürrer. 2012. - 543 S. : Ill., Faks. - ISBN 978-3-7651-0422-0 : EUR 44.00 1870 ist weltgeschichtlich durch den deutsch-französischen Krieg und auch im Mikrokosmos des Komponisten Richard Wagner ein bedeutendes Jahr. Er verbrachte es fast vollständig in Tribschen, wo jedoch auch ohne große Reisen viele Veränderungen eintraten: Cosima wurde von Hans von Bülow geschieden1 und im Stillen die Neuvermählung2 mit Richard Wagner vollzogen, was wiederum den Weg ebnete für die lange aufgeschobene Taufe des Sohnes Siegfried (am 4.9.).3 Allmählich starb die Freundschaft mit Friedrich Nietzsche, der Tribschen zu meiden begann,4 während andere Freunde an den Vierwaldstätter See kamen, darunter als künftiger Stern erstmals Judith Gautier, damals noch verheiratete Madame Mendès, die mit ihrem Ehemann Catulle zur von Wagner vehement bekämpften Urauffüh1 Vgl. den Kommentar S. 293 - 295. - Bemerkenswert der Brief Nr. 174 vom 27. Juli 1870 an Reinhard Hallwachs (S. 179 f.), über den Hans von Bülow den Vollzug der Scheidung nach Tribschen gemeldet hatte („dass wir die theilnehmenden Wünsche … mit herzlichem Dank erwidern“). Ohne den Kommentar S. 441 ist dieser Brief kaum zu verstehen. 2 Niederschlag in der Korrespondenz durch Mitteilungen an Eliza Wille (passim) und Lorenz Düfflipp, den Sekretär Ludwigs II. (vgl. Nr. 184, S. 184 f.) und einen leicht peinlichen Brief an Cosimas Mutter Marie d’Agoult (Nr. 185, S.186 f.), den er entgegen seiner sonstigen Vorliebe für französische Briefe auf deutsch schreibt. 3 Kommentar S. 296. - Wagner berichtet am Folgetag an das Ehepaar Mendès nach Paris, vgl. Nr. 198, S. 196 f. Daß der Brief entgegen Dürrers Überschrift nicht nur auf eine Mitteilung von Catulle Mendès reagiert (S. 196, Z. 11), sondern auch an Judith gerichtet ist, geht aus der Schlußrede hervor („Adieu! Chers amis! Ma femme vous envoie ses plus cordiales tendresses, et moi je vous reste toujours dévoué de tout mon cœur.“) 4 „Ihr Schweigen befremdet mich“, Nr. 15 (S. 48). rung von Rheingold und Walküre nach München fuhr. Von seiner Schweizer Residenz aus begleitete Wagner die zahlreicher werdenden Aufführungen seiner Werke, auch die Entstehung des Klavierauszugs zum Siegfried (dessen Partitur gleichwohl selber noch nicht vollendet war) und der Götterdämmerung. Es entstand der Privatdruck von Mein Leben. Nicht nur seine französischen Bewunderer schockte Wagner mit der Veröffentlichung der Kapitulation, eines ‚Lustspiels in antiker Manier‘,5 in dem das Elend der von Belagerung und Commune erschütterten Metropole Paris verhöhnt wurde.6 In Wagners Phantasie reifte, auch aus Trotz gegen die vom bayerischen König erzwungenen Münchner Uraufführungen, der Gedanke von eigenen Wagner-Festpielen, die gegen den normalen Bühnenbetrieb hermetisch abgeschirmt waren, und selbst der Ort Bayreuth7 rückt schon in seinen Horizont. Leider unkommentiert bleibt Wagners scheinbar belangloser Brief Nr. 17 (S. 49 f.) an Friedrich Nietzsche, wo angesichts der Titelvignette des Privatdrucks von Mein Leben das Wortspiel von Geier und Adler von Wagner selbst ausführlich bedient wird, allerdings ohne alle rassistischen Implikationen.8 Nietzsche macht daraus in einer Nachschrift zu Der Fall Wagner eine antisemtische Polemik auf Wagners Abstammung: „Sein Vater war ein Schauspieler namens Geyer. Ein Geyer ist beinahe schon ein Adler ...“.9 5 Vgl. Nr. 253 (S. 242 f.) an Hans Richter, der die Musik dazu schreiben sollte. Dürrer gibt sich im Kommentar (S. 311 - 313) die größte Mühe, Wagner in dieser eigentlich von allen Biographen konsequent gerügten Frage zu entschuldigen, selbst der Druck des Textes in den Gesammelten Schriften und Dichtungen 9 (1873) wird als Folge von Sachzwängen dargestellt („da die vorhandenen Manuskripte nicht genügend Material boten, den Band zu füllen“). Falls dem so war, so hat es doch nirgends zu einem Eingeständnis der Verirrung gereicht, sondern nur zu einer schalen Ausrede: „Wenn ich jetzt meinen Freunden den Text der Posse noch mittheile, so geschieht dieß ganz gewiß nicht, um die Pariser nachträglich noch lächerlich zu machen. Mein Süjet zieht keine andere Seite der Franzosen an das Licht, als diejenige, durch deren Beleuchtung wir Deutschen im Reflex uns in Wahrheit lächerlicher ausnehmen, als jene, welche in allen ihren Thorheiten sich immer original zeigen, während wir in der ekelhaften Nachahmung derselben sogar bis tief unter die Lächerlichkeit herabsinken.“ (Gesammelte Schriften und Dichtungen / Richard Wagner. - Leipzig : Fritzsch, Bd. 9 (1873), S. 4). Dieses von Dürrer zu des Meisters Entlastung herangezogene „eigens verfaßte Vorwort konnte nicht verhindern, daß das Stück in Frankreich als Verhöhnung des im Kriege Unterlegenen empfunden wurde“ (S. 313) – weil es genau das auch war. 7 An das Ehepaar Mendès am 5.9.1870: „En effet, il faut que j’arrange ‚Bayreuth‘ pour vous dédommager … Nous verrons!“ (Nr. 198, S. 197). 8 „Das Wappen ist sehr gut ausgefallen, und wir haben allen Grund, Ihnen bestens für die hierauf verwendete Sorgfalt zu danken. Nur ist mir gerade hierbei wieder mein alter Entwurf gegen den Geier aufgestiegen, welcher von jedem gewiss zunächst für einen Adler genommen wird, bis ihm aus der Naturgeschichte erklärt ist, dass es einen ‚Mönchsgeier‘ giebt, welcher dem Adler sehr ähnelt.“ (Nr. 17, S. 49,6-11). 9 Sämtliche Werke : kritische Studienausgabe (KSK) / Friedrich Nietzsche. Hrsg. von Giorgio Colli … . - München u.a. : Deutscher Taschenbuchverlag u.a. - Bd. 6 (1980), S. 41 Anm. 6 Wie sehr Nietzsche dieses Wortspiel liebte, geht aus den Erinnerungen der Resa von Schirnhofer hervor: „Durch ihn hörte ich zum ersten Mal, daß Wagners Stiefvater Geyer sein wirklicher Vater gewesen sei und er daher jüdisches Blut habe. Obwohl Nietzsche sonst nie zu mir abfällig über Juden gesprochen hatte, tat er es doch in diesem Fall wenigstens mit der Nuance des Herabsetzenden.“10 All das spiegelt sich in der 272 Briefe11 umfassenden Korrespondenz des Komponisten dieses Jahres wider,12 die Martin Dürrer in bewährter Zuverlässigkeit im nunmehr 22. Band der Wagner-Briefausgabe ediert,13 kommentiert und durch Register erschließt. Hinzu kommen viele Einzelstellen, die eine Lektüre lohnen: Nr. 151 an Hans Richter über die Sänger und die Gesangstechnik, Nr. 161 und 271 über die Urheberrechtsprobleme mit Nachdrucken und Aufführungen in Italien, Nr. 167 über Versuche, einen Verleger für die geplante Ausgabe eigener Schriften oder wenigstens konkret für den Beethoven-Traktat zu finden (Nr. 205, 213 - 216, 227, 257), Nr. 191 an Édouard Schuré mit schweren Ausfällen gegen die „Pariser Cultur“, noch krasser Nr. 196 an denselben: „Es versteht sich, dass mich der Brand Strassburg’s jammert, und hätte es lieber gesehen, dass Paris vertilgt wäre“ (S. 196,14 f.), was auch gegenüber Catulle Mendès bekräftigt wird („cette capitale énorme devait tomber en ruines“, S. 204, 82),14 aber auch Banalitäten wie Bestellungen von „Cigaretten“ und Heringen aus München (Nr. 210), von Stoffen aus Wien (Nr. 229), verschiedenste Wurst-Sorten aber aus Berlin (N. 240); dann aber auch Zeugnisse persönlicher Freundschaft, wie die Aussprache mit Friedrich Schmitt in Wien (Nr. 218) oder die Wiederaufnahme des Kontakts mit Ferdinand Praeger in London (S. 242), auch Empfehlungsschreiben (Nr. 244) und natürlich auch Konkretes über die Aufführungen eigener Werke (z.B. Nr. 226 über die Tempi im Lohengrin), die heute vergessene Bearbeitung der Iphigenie in Aulis von Gluck (Nr. 255). Wir sehen, da Otto von Wesendonck Wagners Judenthum in der Musik widerwärtig fand (Nr. 256). Auch im Hinblick auf die Werke wird manches 10 Zitiert nach Friedrich Nietzsche : Biographie in drei Bänden / Curt Paul Janz. 2. Aufl. - München : Hanser. - Bd. 2 (1993), S. 274 - 275. 11 16 dieser Briefe sind Deperdita, sie können nur aus anderen Quellen erschlossen werden. 12 Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1024744892/04 13 Die Ausgabe wurde 1967 im VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig unter der Gesamtleitung von Helmut Steffens begründet und in Leipzig bis Band 9. August 1857 - August 1858 (2000) fortgeführt. Mit dem Wagner-Briefe-Verzeichnis : WBV ; chronologisches Verzeichnis der Briefe von Richard Wagner / Werner Breig ; Martin Dürrer ; Andreas Mielke. Erstellt in Zsarb. mit der Richard-WagnerGesamtausgabe. Red. Mitarb.: Birgit Goede. - Wiesbaden [u.a.] : Breitkopf & Härtel, 1998. - 845 S. ; 28 cm. - ISBN 3-7651-0330-6 : DM 258.00 [5515]. - Rez.: IFB 00-1/4-283 http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/00_0283.html entstand die Grundlage für die erstmals im 10. Band bei Breitkopf & Härtel realisierte Neukonzeption, die seit dem Band 12 in exakten Jahresringen angelegt ist. 14 Wohingegen er sich den „ächten Pariser-Schnupftabak“ nicht verleiden läßt, vgl. Nr. 267 (S. 253, 4). deutlicher, insbesondere die Unsicherheit, die Wagner im Hinblick auf die für die mißglückte Pariser Aufführung 1861 geschaffene TannhäuserUmarbeitung empfand: Während er im April für ein Dirigat von Hans Richter in Pest diese Musik freigeben will (Nr. 107, S. 123) widerruft er es im Juni wieder.15 Wagner gab als Begründung an, er plane „diese Neuerungen auf einem solchen Theater einzuführen, wo ich diese Scenen persönlich einstudiren kann“ (Nr. 156, S. 165). Die Florilegien alleine aus der Korrespondenz dieses einen Jahres ließen sich noch erheblich verlängern. Die intensive Lektüre lohnt sich jedoch nicht nur wegen solcher „Highlights“, sondern als atmosphärischer Kontrast zu den Tagebüchern Cosima Wagners, die seit dem 1.1.1869 parallel zum Briefwechsel die Agenda des Komponisten dokumentieren. Das Faktische in der Korrespondenz ist ohne die Tagebücher oft auch kaum zu verstehen – insofern bilden sie die wichtigste Stütze der Kommentierung. Und dennoch unterscheidet sich der Wagner der Briefausgabe in höchst angenehmer Weise von dem bramarbasierenden Oberlehrer der Cosima-Tagebücher, indem er Humor und Wärme zeigt, sich nicht vor Trivialitäten scheut – alles Eigenschaften, die im ehelichen Spiegel der Tagebücher fast gänzlich ausgeblendet werden. Es soll und kann Cosima nicht das Bemühen um aufrichtige Darstellung abgesprochen werden. Problematisch sind die unbewußten Filter, die sie anwendet, und die unterschwellige innere Konkurrenz mit Eckermanns Gesprächen mit Goethe. Was das bedeutet, erleben wir im Nebeneinander von Briefausgabe und Tagebüchern: Hier ist es Wagner selbst, der spricht, dort Cosimas Wagner. Man mag einwenden, daß Briefe nie ohne Verstellung und mit Berechnung auf den Adressaten geschrieben werden, doch gilt dies auch für die mündlichen Äußerungen in Cosimas Tagebüchern gleichermaßen. Und gerade die Fülle unterschiedlicher Adressaten in den Briefen läßt etwas von der inneren Weite und emotionalen Sinnlichkeit selbst und gerade in Banalitäten erkennen, die der Schreiberin der Tagebüchern zuwider war. Arno Mentzel-Reuters QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/ http://ifb.bsz-bw.de/bsz369277937rez-1.pdf 15 Gespielt wurde also die sog. „Dresdener Fassung“, vgl. Kommentar S. 400 zu Nr. 109.