Worum geht`s da eigentlich? - forum allgemeinbildung schweiz

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Worum geht’s da eigentlich?
Philosophisches zum So-tun-als-ob in der Schule
Abstract
Praktizierende Philosophen müssen sich per definitionem mit Bildung beschäftigen.
Ihre Art zu fragen unterscheidet sich aber von derjenigen der Pädagogen,
Bildungspolitiker und Ökonomen. Zudem arbeiten sie oft auch als Lehrer. In den
Bereichen der Bildung und Ausbildung besteht nun ein wachsendes Bedürfnis nach
gedanklich klar fundierter, mit allen Beteiligten erarbeiteter Orientierung.
Bildung ist teuer und rückt deshalb vermehrt in den Blickwinkel der Sparapostel. Dabei
obsiegen oft kurzfristige Argumente. Philosophen in der Schulpraxis (und anderswo)
müssen auf humanistischen Argumentationen mit demokratischer Legitimation
bestehen. Ziele, Begriffe und Menschenbilder der aktuellen bildungspolitischen
Debatte verlangen nach kritischer Überprüfung. Im folgenden, grundsätzlichen Text
geht es in erster Linie darum. Zusätzlich werden in einem engen Zusammenhang damit
fünf methodische Schritte praktisch-philosophischen Coachings beschrieben.
Bildung ist „in“. Zumindest als Thema. In der Öffentlichkeit wird gestritten,
was Bildung denn ausmache, wer sie wie organisieren soll und wer sie zu
finanzieren habe. Bildungspolitik wird aktiv wie selten, ja geradezu rastlos
betrieben. Wer die Argumentationslinien der Bildungspolitiker verfolgt,
bekommt unweigerlich einen Eindruck davon, wie die Bereiche „Schule“ und
„Weiterbildung“ gesellschaftliche Auseinandersetzungen spiegeln. Kaum ein Tag
vergeht, an dem nicht eine neue Bildungsinitiative gestartet wird, kaum ein
Parteitag geht ohne bildungspolitische Kernaussagen über die Bühne und wer als
Industrieführer etwas auf sich hält, gibt selbstverständlich regelmässig
Bildungsratschläge zum besten. Die gesellschaftspolitischen Kämpfe werden auf
dem Spielfeld der Bildung ebenso ausgetragen wie in Parlamenten,
Verwaltungsräten und betrieblichen Chefetagen.
Bildung erscheint so als äußerst zentrales Thema der Wissens- und
Konkurrenzgesellschaft. Der Begriff „Bildung“, wie wir ihn brauchen, hat sich
2 | MARKUS WALDVOGEL
indes erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt. In der
griechischen Antike bedeutete Paideia die Einführung des Menschen in seine
Lebenswelt. Paideia hatte sowohl eine sachliche, moralische, „politische“ und
eine philosophische Ausrichtung. Letztere stand für die höchste Form
menschlicher Praxis. Mit dem Höhlengleichnis und im Anschluss daran kritisiert
Platon den Erziehungsbegriff der „Sophisten“, die meinten, man könne den
Lernenden Wissen einpflanzen.
„… dann müssen wir zu der Überzeugung kommen, dass die Erziehung nicht so ist,
wie sie manche (=die Sophisten, der Verf.) in ihren Ankündigungen beschreiben. Sie
sagen, das Wissen, das nicht Seele ist, das pflanzten sie ein, wie wenn sie blinden
Augen die Sehkraft einsetzten.“1
Dem stellt Platon eine völlig andere „Sicht“ entgegen. Die „geistige Kraft in
der Seele“ des Einzelnen muss auf „das Hellste des Seienden“ ausgerichtet
werden; „… dies Hellste aber ist, wie wir sagen, das Gute“. Diese
Neuausrichtung, diese „Umwendung“, ist das eigentliche Ziel der
Erziehungskunst. Die geistige Kraft der Seele muss dem Idealen zugewendet
werden. Dies geschieht, körperlichen Übungen verwandt, „durch Gewöhnung
und Übung“. Platon hebt nun die „Fähigkeit des Denkens“ hervor, die „etwas
Göttliches in sich“ habe und durch die Umdrehung „brauchbar und nützlich“
werde. Ohne die Ausrichtung auf das Gute aber ist das bloße Denken wie ein
scharfes Schwert, das wahllos alles vernichten kann, geführt von „armen Seelen“.
„Oder hast du (Glaukon) noch nicht die schlechten, verschmitzten, aber sehr
klugen (Ergänzung nach dem Kommentar von Karl Vretska) Leute beobachtet?
Wie scharf schaut ihre arme Seele und zergliedert genau die Dinge, denen sie
sich zuwendet, da ja ihre Sehkraft …gezwungen ist, der Schlechtigkeit zu dienen;
je schärfer sie daher blickt, um so größeres Unheil verursacht sie.“2 Platon lehnt
ein nur faktisches Wissen ab, und er glaubt auch nicht, dass die Haltung eines
Menschen von seinem Wissensstand abhänge. Dieser ist aber, als (moralische)
Einsicht, Voraussetzung, um im Gemeinwesen wirken zu können.
Methodenschritt 1: Demokratische Vernetzung
Wir praktizierenden Philosophen vergleichen die moderne Ansicht von
Erziehung und Unterricht durchaus mit antiken Auseinandersetzungen um die
Paideia. Als wichtigste Differenz zu ihr fällt die Instrumentalisierung und
Institutionalisierung ins Gewicht. Bildung wurde an Fachleute und staatliche
Einrichtungen „übergeben“. Sie erhielt dadurch erst ihren eigentlichen
„Dienstleistungscharakter“. Sie wurde handhabbar, lenkbar und leichter an die
öffentlichen Bedürfnisse anpassbar. Die darauf bauende Lernschule wurde
immer zielgerichteter, bezahlte aber den Preis, ihre umfassende geistige und
lebensweltliche Orientierung einer utilitären Verkürzung hintanstellen zu
1
2
Platon (2000), S. 332
Platon (2000), S. 333
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 3
müssen. Das Ausmaß dieser Verkürzung macht den strittigen Punkt in der
neuzeitlichen pädagogischen Diskussion aus.
Im philosophischen Gespräch mit Lehrpersonen - das können immer auch
Behördenmitglieder, Eltern oder Schülerratsvertreter sein; der Einfachheit halber
reduziere ich das in der Folge mit dem Kürzel LP- geht es um die Gewissheit,
dass die demokratisch legitimierten Bildungsziele (Zweckartikel in
Bildungsgesetzen, verfassungsmäßige Aussagen) in vielen Fällen jene LPs
stärken können, die sich von der „pragmatischen Wende“ gleichsam überflutet
fühlen. Das Beschaffen von Unterlagen zur Bildungsphilosophie der
Gemeinschaft ist ein aufklärerischer Akt, der Ressentiments („Irgendwie ist es
doch so, dass…“) und Ungenauigkeiten beseitigt und auch aufzeigen kann, wo
eine zu technokratische oder alltagspolitische Ausrichtung des schulischen
Geschehens sich nicht mit den einmal vereinbarten politischen Positionen
verträgt.
Es lohnt sich, Bildungsziele genau zu kennen, um die eigene Argumentation zu
schärfen und demokratisch schlechter untermauerte „Selbstverständlichkeiten
des Alltags“ in Frage zu stellen.
Das philosophische Coaching übt mit LPs Fragen für Konferenzen,
Arbeitsgruppen, allgemeine Sitzungen, Elterngespräche etc. ein. Wichtig ist
dabei, dass diese Fragen nicht rechthaberischen Charakter haben dürfen, sondern
voll auf die Sache zielen. Der Einwand: „In Art. 17 steht aber doch…und Sie
gehen darauf gar nicht ein…“, sollte ersetzt werden durch die Frage: „Welche
Gedanken von Art. 17 haben Sie in Ihrer Darstellung berücksichtigt…?“
Das philosophische Ziel kann nur sein, gleichsam die demokratische Vernetzung
einzelner, oft isolierter „Maßnahmen“ der Bildungsbürokratie und durchaus
auch konkreter „Vorgesetzter“, ja sogar Kolleg/innen einzufordern. Dadurch
wird bestehendes Unbehagen auf eine Ebene der gemeinsamen Vernunft
gebracht. In Anlehnung an Kant und Habermas schimmert „Öffentlichkeit“ in
die Konferenzräume und Schulstuben mit dem Effekt eines gewissen Schutzes
vor Willkür durch Bildungsbeamte und isolierte Entscheidungsträger.
In den Augen vieler Reformpädagogen sollte sich Bildung ebenfalls nicht auf
ein stetes Mehr an Wissen und Fertigkeiten beschränken, weil Effizienz,
Klugheit oder auch Sachverstand allein keine Werte „an sich“ darstellten und
auch nicht „einfach so“ zu solchen führen, wie das Bildungspolitiker/innen oft
suggerieren. Moderne Pädagogen wiesen und weisen mit allem Nachdruck
darauf hin, wie wichtig etwa das Unterlassen unerwünschter Handlungen sei.
Nicht bei allem mitzumachen, ist in der Tat ein wesentliches Bildungsziel. In
einer Angebots- und Verführungsgesellschaft, wird die Fähigkeit, nein sagen zu
können, grundlegend. Bis vor kurzem wurde das mit dem ungeliebten Begriff
„Disziplin“ umschrieben. Heute spricht man unter anderem von präventiven
Fähigkeiten oder von Zivilcourage. Gerade weil sich die Bildungsinstitutionen
und ihre Vertreter damit in einem Widerspruch zur allgemeinen
4 | MARKUS WALDVOGEL
gesellschaftlichen Praxis mit ihrem Trend zum „homo consumens“ befinden, ist
die Forderung, Bildungseinrichtungen müssten sich dem zu direkten Zugriff
gesellschaftlicher Entwicklungen widersetzen können, nachvollziehbar. Die
Nichteinmischung des Staates in staatliche Einrichtungen ist indes eine schwer
zu erfüllende Forderung. Der philosophische Praktiker tut aber gut daran,
deutlich zu machen, dass die Aufgabe, ein kritisches Selbstbewusstsein bei den
Schüler/innen zu fördern, immer noch „lehrplanrelevant“ ist und die
entsprechend weit formulierte Lehrfreiheit in keiner Weise angetastet werden
soll. Es scheint zur Zeit tatsächlich so, als ob die staatliche, öffentliche Bildung
sich an Werten orientieren würde, die ihrerseits im politisch-öffentlichen Raum
bereits umgewertet wurden oder im täglichen Kampf um Marktanteile gerade
bezüglich erzieherisch höchst fragwürdiger Produkte kaum mehr eine Rolle
spielen. Dem und der utilitären Verkürzung von Bildung steht der
wertkonservative Bildungsbegriff (z.B. mit Inhalten wie der Bewahrung der
Schöpfung) diametral entgegen. Die philosophische Praxis in der Schule aber
steht genau in diesem Spannungsfeld.
Methodenschritt 2: Widerstandsverortung
In der Arbeit mit Lehrpersonen gilt es, Werte im Unterricht, im
Schulentwicklungsprozess (z.B. durch die Arbeit an Leitbildern) und in
bildungspolitischen Auseinandersetzungen präzise zu thematisieren und das
erwähnte Spannungsfeld als Bezugsgröße sichtbar zu machen. Entscheidend ist
dabei, dass Lehrkräfte entdecken, wo sie “ihre Philosophie“ (Berufsethik)
verorten resp. wirksam machen können. Dabei geht es in entscheidendem Masse
um realistische Gestaltungsräume mit einer bewusst bildungs-ethischen
Ausrichtung. Die Burnoutforschung hat diesbezüglich wiederholt festgestellt,
dass die große Lähmung (Frustration) einerseits Resultat überhöhter Ansprüche
(Perfektionismus) und andererseits nicht anpackbarer Konflikte (z.B. Sparpolitik
auf dem Buckel der Schulen) ist. Auszuloten, wann Widerspruch im Schulalltag
angemessen sei und wann er klüger auf das (politische) Leben außerhalb der
Schule fokussiert werden müsste, ist deshalb eine genuin philosophische Frage.
Im philosophischen Coaching mit LPs steht zunächst einmal der Freiheitsbegriff
im Vordergrund: In Anlehnung an Sartres „Ist der Existenzialismus ein
Humanismus?“3 (Warum nicht diese Schrift gemeinsam lesen?) soll geklärt
werden, dass keine LP in sich den „authentischen Zustand“, der sie zum
Handeln drängt, suchen kann noch von einer pädagogischen Moral „die Begriffe
erwarten kann“, die ihr zu handeln erlauben. Es ist vielmehr so, dass
Lehrpersonen ein Gefühl für Handlungsspielräume entwickeln müssen, die zu
ihrer vorgefundenen Situation passen. Fehlt diese Passung, wächst die Gefahr
einer (depressiven) Michael-Kohlhaas-Haltung; in Abgrenzung zu Sartre geht es
nicht um „die Freiheit“ sondern um Freiheiten gleichsam in homöopathischen
3
Sartre (1994 )
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 5
Dosen. Anhand von Einzelfallanalysen kann der philosophische Praktiker im
Dialog mit der LP gewissermaßen das Terrain („die Spielwiese“) abstecken, auf
der – solange innerhalb einer Institution gewirkt wird - Varianten und
überraschende Spielzüge entwickelt werden können. Die komplexere Frage nach
der „Erweiterung der Kampfzone“ erfordert politisch-philosophisches Gespür.
Nüchternheit im Umgang mit der Profession „Lehre“ ist da wohl angebrachter
als ein noch bis vor kurzer Zeit überbordender Idealismus, dem vor allem junge
LPs ins offene Messer rannten. Die idealistische Gefahr im Lehrberuf
dokumentieren auf sehr eindrückliche Weise Schulfilme wie Der junge Törless,
Der Klub der toten Dichter, Entre les murs, Etre et avoir, Die Welle etc., in
denen LPs entweder unter- oder überschätzt werden. Gerade aber Botschaften in
Richtung „Gelingender Unterricht ist immer möglich, wenn man es nur richtig
macht!“, sind eigentliche „killing phrases“, die entmutigen und die einer
detaillierten „Aufbereitung“ bedürfen. Die Analyse des Scheiterns in der Lehre
birgt oft eine relativierende und ironisierende Kraft. „Kann ich meine Anteile
bei bestimmten Schwierigkeiten klar benennen?“, ist eine ebenso wichtige Frage
wie die nach den Beiträgen, die Schüler/innen, Familien oder Schulen zu leisten
haben. Entscheidend für die Analyse des Scheiterns (wie auch für diejenige des
Erfolgs) sind zwei Dinge: Die Begriffe „Scheitern“ und „Erfolg“ müssen ihrer
Selbstverständlichkeit beraubt und in Relation zur „begrifflichen Sozialisation“
der LPs und zu einer allgemeinen Terminologie gesetzt werden. Nur so entsteht
die kritische Distanz zu den Phänomenen in einem Berufsfeld, die
Ausgangspunkt für Burnouts und andere Formen von Berufsverdrossenheit sind.
Mindmaps zu „Scheitern“ und „Erfolg“, Collagen und philosophische
Standbilder sind günstige methodische Ansätze, weil sie sowohl die Analyse als
auch Beobachtung konkreter „Vorfälle“ erlauben.
„Der Mensch kann als Sklave in einer heidnischen Gesellschaft oder als Feudalherr
oder als Proletarier geboren werden. Was nicht variiert, ist die Notwendigkeit, in der
Welt zu sein, in ihr zu arbeiten, inmitten anderer und sterblich zu sein. Die Grenzen
sind weder subjektiv noch objektiv, oder besser, sie haben eine objektive und eine
subjektive Seite“, sagt Sartre4. Das Ausloten „der beiden Seiten“ hilft dann auch
für die Klärung, woher die persönliche Störung einer LP kommt. Überwiegt der
objektive Anteil, kommt Politik ins Spiel. Wer als LP weiß, wo sie ihren
Widerstand verorten kann, also welche „Spielwiese“ für welche Aktivität
vonnöten ist, lebt, das zeigen alle diesbezüglichen Umfragen, besser, gerade
auch in professioneller Hinsicht. Das vorkritische, systematische Verwechseln
aber beispielsweise einer Lehrerversammlung mit einer Gewerkschaftssitzung
kann zu erheblichen Problemen führen. Philosophisches Coaching ist da auch
eine Arbeit an der Kultur der Öffentlichkeit.
4
Sartre (1994), S. 125
6 | MARKUS WALDVOGEL
Da die bildungspolitische Diskussion zudem die Sprachregelungen festlegt,
mit denen gefochten werden soll oder darf (political correctness), liefert sie auch
die Trends der Diskussion. Sachverstand ist dabei weniger im Vordergrund als
ideologische Akzeptanz. Die Bildungsdebatte soll sich dem medial
ausgerichteten Reden unterziehen. Sie soll eine Leitlinie verpasst kriegen, an der
sich Parteigänger, Regierungsmitglieder und Selbständige ebenso orientieren
müssen wie Vertreter/innen von NGOs (nicht staatliche Organisationen) oder
NPOs (nicht profitorientierte Organisationen).
Methodenschritt 3: Philosophische Begriffsarbeit
Philosophische Praktiker resp. ihre „Kunden“ kommen nicht umhin, hier
mitzureden und vorgegebene Begriffe (oft „Plastikwörter“ im Sinne Uwe
Pörksens) wie Evaluation, Minimal- /Maximalstandards, Prozessorientierung,
Harmonisierung, System, Eigenverantwortung, Effizienz etc. nicht sang- und
klanglos „passieren“ zu lassen.
Dabei geht’s im philosophischen Coaching von LPs um eine zielgerichtete Arbeit
einerseits an der eigenen Sprachsensibilität („Warum fielen mir diese Begriffe
bisher nicht besonders auf?“/ „Was genau nehme ich wahr, wenn ich
„Minimalstandard“ höre?“ / „Wie kann ich feststellen, dass ich selber mit
Worthülsen, Fremdwörtern etc. arbeite und was genau bezwecke („meine“) ich
mit solchen Begriffen?“) und an den Sprechakten anderer, die in ihrer Intention
ja auch benennbare Ziele (z.B. Erreichen von mehr kommunikativer Autorität)
verfolgen.
Am Beispiel von pädagogischen Fachtexten (s. unten im Lauftext), dominanten
Begriffen und Argumentationsmustern kann konkret und präzise deutlich
gemacht werden, wie ein bestimmter Umgang mit Wörtern Einfluss auf die
tägliche Arbeit nimmt und oft den Blick aufs Konkrete, Vielfältige verstellt.
Im Coaching soll das Gefühl für die Herrschaft der Abstraktionen wachsen, so
wie das Pörksen beschrieb: „Die Kritik an Korns „Sprache in der verwalteten Welt“,
den Typus der Verwaltungssprache habe es schon immer gegeben, trifft nicht. Ihn
beschäftigte deren Wucherung über den Rahmen ihrer ursprünglichen Verwendung
hinaus. Die wissenschaftliche Literatur der Pädagogik z.B. hat sich, seit „Bildung“ zur
großen Ressource erklärt wurde und ihre wissenschaftlichen Produktionsplätze in die
Höhe schnellten, enorm verwissenschaftlicht, proportional multipliziert und die
unvermeidlichen Kennzeichen einer Massenware angenommen, und ihre Sprache ist
seltsamerweise oft nicht mehr von der einer Verwaltungsvorschrift zu unterscheiden.
Die Übertragung wird einem kaum mehr bewusst und wirkt deshalb umso
selbstverständlicher. Die Chance der praktischen Kolonisation unserer Welt beruht nicht
zuletzt darauf, dass ihr eine metaphorische vorausgeht. Das stereotypische Besteck steht
zur Verfügung. Die Übertragung aber erschließt nicht nur, wie gesagt, sie entstellt und
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 7
entfremdet auch. Die metaphorische Kolonisation bedeutet, sprachlich wie sachlich,
eine Entstellung der sozialen Welt.“5
Methodische Untersuchungen etwa von Komposita wie „Minimalstandards“ oder
„Ausdruckskompetenz“ erhellen, was der Wortgebrauch verstellt. Was heißt
denn „minimal“? Ist damit eine „conditio sine qua non“ gemeint oder ein
Anzustrebendes, neben dem sehr Vieles (Wichtigeres?) Platz hat oder zielt der
Begriff Richtung einer zähneknirschend akzeptierten Lehr- und Lernsituation, bei
der mit Sicherheit noch „die Schraube anzuziehen wäre“? „Minimal“ hat als
Wort durchaus auch euphemistischen Charakter, denn dahinter steckt m.E. eine
differentielle Absicht und die Drohung der Exkommunikation resp.
Listenplatzbrandmarkung für jene, die das „Minime“ nicht erreichen. In
Verbindung mit Standards wird „minimal“ gewissermaßen kristallisiert.
Standards huldigen einer Praxis der schriftlichen Evaluation. Wer von Standards
spricht, meint Vergleichbarkeit und zwar im statistischen, „harten“ Sinne des
Wortes. Angesichts der Tatsache, dass es bezüglich der Sprache eigentlich um
„Ausdruck“, um Energie, Mitteilungsbedürfnisse etc. geht, ist eine
Standardisierung schlicht sachfremd. Im philosophischen Coaching mit LPs kann
durchaus Michael Tomasellos Untersuchung „Die Ursprünge der menschlichen
Kommunikation“ beigezogen werden. Die Kapitel „Konventionalisierung von
Sprachkonstruktionen“ und „Sprache als geteilte Intentionalität“ lassen den
Abstraktionsapparat, mit dem Kinder und Jugendliche bezüglich ihrer „Sprache“
eingeordnet werden, als vollends absurd erscheinen. Wie im Methodenschritt 2
schon angedeutet, kann es aber nur darum gehen, einerseits die eigene Arbeit mit
„Worthülsen“ zu bedenken und persönliche Konsequenzen daraus zu ziehen und
andererseits einen professionelleren Umgang mit Termini in der täglichen Arbeit
einzufordern.
Der pädagogische Schonraum, den man auch im 20. Jahrhundert durchwegs
noch als Voraussetzung für gelingendes Lehren und Lernen bezeichnete, gerät
nämlich zunehmend unter Beschuss. Bildung soll rasch auf das reagieren, was
„in der Welt“ geschieht. Bildung wird gewissermassen in die Konflikte
hineingezogen. Sie verliert dabei, entgegen allen anders lautenden Erklärungen,
einen Teil ihrer eigentlichen Qualität, nämlich Zeit und Rhythmisierungshoheit
innerhalb eines Gesamtrahmens. Bildung soll verstärkt „an die Leine genommen
werden“. Dabei wird unterstellt, dass die Evaluation schon von kleinsten
Bildungschritten gleichsam automatisch zu mehr Qualität führe.
Bildungsoffensiven seien vonnöten, die Resultate einschlägiger internationaler
Studien (PISA etc.) hätten es deutlich gemacht, man stehe vor einem eigentlichen
Debakel, was den Rohstoff Bildung betreffe. Nicht angemerkt wird, dass die
schulischen Einrichtungen seit Jahrzehnten mit neuen Themen eingedeckt
werden, dass „Individualisierung“, „Globalisierung“, „Integration“, „Ökologie“,
5
Pörksen (1988), S. 93
10 | MARKUS WALDVOGEL
Privatisierern wünschen sie sich Schulen, die in erster Linie den
unterschiedlichen Begabungsprofilen Rechnung tragen. Für die oft aus besseren
Kreisen stammenden Kinder ist nur das gut genug, was deren persönliches
Wachstum fördert. Schliesslich bezahlt man ja viele Steuern und will eine
entsprechende Gegenleistung. Diese bildungsbürgerliche Position vertreten heute
sozialdemokratisierte, grünliberale Bürger/innen. Das Bildungsbürgertum ist
gewissermassen nach links gerutscht, das Wirtschaftsbürgertum orientiert sich
dagegen an effizienten, abgespeckten Lernschulen, die über ein hohes Mass an
Standardisierung verfügen.
Die philosophische Praxis entwickelt entsprechende Fragen: Ist
„Individualisierung“ per se ein Wert? Welches Verhältnis zur öffentlichen Schule
wollen und müssen wir einnehmen? Wie kann die Gemeinschaft der „Citoyens“
(Staatsbürger/innen, Republikaner/innen) der mit zunehmenden Schwierigkeiten
kämpfenden Volksschule (und dem öffentlichen Bildungswesen überhaupt)
„helfen“? Inwiefern sind es die Bedingungen der Möglichkeit des Aufwachsens
(nicht zuletzt in grösseren Ballungsräumen), die den Lehrberuf per definitionem
„schmälern“? Müsste nicht die „Holy Family“ (resp. was von ihr übrig blieb)
zum Gegenstand der Diskussion werden? Gibt es Möglichkeiten, bestimmte
krank machende, unwürdige Unterrichtssituationen zu verweigern? Welches sind
die „Eckpfeiler“ des Unterrichtens und wo wird Schule zu einer
Reparaturwerkstatt zerfallender sozialer Einheiten? Worum geht es eigentlich?
„Wollen wir, “ sagt Hartmut von Hentig, „dass Kinder Wissen erwerben, müssen erst
wir, dann sie zwischen Wichtigem, potentiell Wichtigem und Unwichtigem
unterscheiden; wir müssen dann dafür sorgen, dass sie Fragen haben, diese richtig
formulieren lernen und am Ende die Beschaffer – Bücher, Computer, Filme,
Auskunftspersonal - bemühen. … Die hier wichtigsten Tätigkeiten sind: wahrnehmen,
denken, prüfen, verstehen.“
Diese vier Tätigkeiten können nicht als selbstverständlich vorausgesetzt
werden. Sie bedürfen der Sorgfalt, der Pflege und einer gewissen Bedächtigkeit.
Bildungsmarkt und Ausbildungswissen verkommen rasch zu einem
„Edutainment“, wenn wir an den kulturtechnischen Voraussetzungen sparen oder
sie zu einem blossen Spiel des Wissenserwerbs reduzieren.
„Für den großen Haufen tritt überall an ihre (der Bildung, d. Verf.) Stelle eine Art
Abrichtung: sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr frühzeitiges,
festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft
dawären, das Werk zu stören. So werden Gedanken eingeimpft, die nachher so fest und
durch keine Belehrung zu erschüttern haften, als wären sie angeboren, wofür sie auch
oft, selbst von Philosophen, angesehn worden sind.“7
Wenn Bildung sich auf die Widergabe eingeimpfter und evaluierbarer
Gedanken konzentriert, verpasst sie ihre eigentliche Aufgabe, Standards so weit
7
Schopenhauer (1999), S. 24448
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 11
wie angebracht zu fassen und nachdrücklich sowohl musische, soziale, politische
als auch Artikulationskompetenzen zu formulieren. Wenn sie das nun unter der
Flagge der Entschlackung oder Schlankheit nicht tut, entlarvt sie sich als
Ideologie der Abrichtung, die alles andere will als wirkliche Reformen.
Auch hier setzt die praktische Arbeit des Philosophen an.
Er fragt beispielsweise nach der Differenz zwischen „bewährten“ schulischen
Konzepten und den andauernden Neuerungen im „Bildungssystem“. Aus der
Klärung muss hervorgehen, wodurch „Reformen“ motiviert werden.
Fragen wie die folgenden gehören zum Setting philosophischer Arbeit im
Bildungsbereich:
• Sind die Ziele von Reformen klar umrissen?
einer philosophischen (Lebens-)Prüfung
• Halten die pädagogischen Begriffe
8
stand? (Elenchos, gr. = „Prüfung" .)
Beispiel 1: „Didaktik ist also die nach bestimmten Prinzipien durchgeführte
und auf allgemeine Intentionen bezogene Transformation von Inhalten zu
Unterrichtsgegenständen.“ 9
Beispiel 2: „Neben dem Hinweis auf den autofunktionalen Charakter von
Bildung gegen ein utilitaristisches Brauchbarkeitskonzept, dessen
wesentliches Merkmal eine ökonomisch ausgerichtete Funktionalität
darstellt, gilt es schließlich, in einer pädagogischen Handlungstheorie
System und Subjekt nicht autopoetisch emergieren zu lassen, sondern mittels
Selbstreflexivität zu gestalten.“10 (Raithel u.a.: Einführung Pädagogik; eines
der meistgekauften Lehrbücher!!!).
Was bedeutet „Didaktik“ genau, wie hat sie beispielsweise Comenius
definiert und was blieb davon übrig? Welche Ziele verfolgt sie? Welchen
Gewinn erbringt die unter Beispiel 1 zitierte Definition? Was sind „bestimmte
Prinzipien“? Gibt es unbestimmte Prinzipien? Wenn ja, was bedeutete das? Wie
transferiert man „Inhalte zu Unterrichtsgegenständen“? Was suggeriert diese
Formel? Wie ist ein Unterrichtsgegenstand zu definieren? Soll ein
Pädagogikschüler diese Definition „lernen“? Wenn nein, wie soll er mit diesem
Lehrbuch umgehen? Wenn ja, was hieße das?
Warum wird Beispiel 2 nicht verständlich formuliert, steckte in ihm m.E.
doch eine der wichtigsten bildungstheoretischen Aussagen? Warum ist gerade die
theoretische Pädagogik oft immun gegenüber sprachlicher Präzision? Was soll
dieser Jargon? Warum werden Verständlichkeit und Schlichtheit nicht zu einem
verbindlichen Bildungsziel erhoben?
Abgeleitet vom Verb elenchein, „prüfen", „beweisen", „widerlegen".
Kaiser/Kaiser (2001), S. 217
10
Raithel (2007), S. 217
8
9
12 | MARKUS WALDVOGEL
Dazu eine Hilfestellung von Pestalozzi in Anlehnung an Kant, die für sich
selbst spricht und ein Argument im öffentlichen Streit abgibt:
„I. Anschauung ohne Sprache
macht Menschen, wie wir die große Masse der Landbauer vor Augen sehen,
Menschen, die sich, wenn sie auch noch so lebendige Anschauungserkenntnisse im
ganzen Kreise ihres Seins und ihres Tuns in sich selbst tragen, sich dennoch in
keinem Falle über diese Erkenntnisse bestimmt ausdrücken und verständlich machen
können, deshalb auch den ganzen Vorteil entbehren müssen, am Faden ihres
bestimmten Wissens durch die Sprache weiter schreiten zu können, daher denn auch sehr
leicht erklärlich ist, warum die große Masse dieser Menschen so wenig Reiz und so
wenig Willen in sich selbst findet, über irgend etwas, das sie nicht Nutzens oder
Schadens halber individualiter nahe berührt, sich viel zu bekümmern, und allmählich
dahin kommen, über den ganzen Kreis der menschlichen Einsichten und Kenntnisse,
und selbst über Wahrheit und Recht, insofern auch diese Fundamente unserer
Glückseligkeit auf Kenntnissen und Einsichten ruhen, gleichgültig zu werden.
II. Sprache ohne Anschauung
Diese bildet kopflose Redhänser (= Redehänse), die es sich zur Fertigkeit gemacht
haben, von Sachen, die ihr Auge nicht gesehen, ihr Ohr nicht gehört, und die noch
viel weniger in ihren Herzen aufgestiegen sind, also zu reden, als ob sie selbige
mit ihren Augen gesehen, mit ihren Ohren gehört und sogar, wie eine Mutter ihr
Kind, unter dem Herzen getragen hätten. Sie bildet Menschen, die von den
grundlosen Anmaßungen eines solchen leeren Wortwissens geblendet, in sich selbst
allen Reiz verlieren, sich Kopfs und Herzens halber weiter in einen Gegenstand
hineinzuarbeiten, über den sie sich nun einmal durch eine solche Maularbeit mit sich
selbst ins reine gesetzt haben.“11
•
Sind schulische Stoffe entwicklungspsychologisch „abgesichert“ oder
wird auf der Lehrplanebene das „So-tun-als-ob-Spiel“ gespielt? Werden
also schulische Selbstverständlichkeiten postuliert, wo weit und breit keine
zu finden sind? Halten Lehrpläne der Idee der sokratischen Lebensprüfung
stand? Dazu meint Hartmut von Hentig in seiner Schrift „Bewährung“:
„Die großen Reformer haben eh und je der Pädagogik (also der Anleitung der
jungen Menschen zum Leben in der Gesellschaft) den Bruch mit der Tradition
zugetraut:
Platon im aporetischen Gespräch des Sokrates mit der Jugend, das dem
eigensinnigen Aufklärer sogar das Leben gekostet hat;
Jean-Jacques Rousseau mit dem kühnsten Gedankenexperiment, das sich mit dem
Namen »Pädagogik « bekleidet hat – der Darstellung davon, wie sein Emile zu
einem freien Menschen erzogen wird, der den Contrat Social eingehen kann;
11
Pestalozzi (1899-1902), S. 99f.
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 13
John Dewey, der die gesamte »education« (Erziehung-und-Bildung) als ein
notwendiges permanentes Experiment der Gesellschaft mit neuen Lebens- und
Denkformen aufgrund gehabter Erfahrung verstanden wissen wollte;
die Männer und Frauen der Jugendbewegung – und die sich ihnen verdankende
Reformpädagogik –, die zum offenen Ausbruch aus der Schulmeisterei und
verhockten Moral der Erwachsenen aufriefen;
Friedrich Nietzsche, der seine eigene hohe Bildung und Sprache gegen das
Philistertum der Bürger und Gelehrten einsetzte; …
Ivan Illich, der den jungen lateinamerikanischen Nationen den Weg in die
Schulsklaverei ersparen wollte und dabei ganz selbstverständlich auf Bildung setzte:
auf freie gegenseitige Wahl des Lehrmeisters und der Schüler, auf Bibliotheken und
Internet, auf entinstitutionalisiertes selbständiges Forschen und Lernen;
und nicht zuletzt die große Margaret Mead mit ihrem Modell der »cofigurativen«
Kultur, in der alle von allen lernen, und ihrer Vorhersage der »präfigurativen«
Kultur, in der die Personen »vor« den erst zu gewinnenden Deutungen
(»Sinnfiguren«) da sind, in der die Jungen verstanden und akzeptiert haben, dass sie
von den Alten nicht lernen können, welchen Schritt sie als nächsten tun müssen, und
in der die Alten wissen: »Wir haben keine Nachfahren, unsere Kinder haben keine
Vorfahren mehr«12. Damit müsse man zu leben lernen.
Auch diese eher Revolutionäre als Reformer haben die Schule nicht verdrängen oder
auch nur zurückdrängen können. Ihnen ist allenfalls eine Beunruhigung des Systems
gelungen. Dieses hat sie und ihre gefährlichen Lehren verdaut – es hat sich weder
dem platonischen Auftrag gewachsen gezeigt noch dem pragmatischen
Experimentieren gestellt. Nach wie vor hat sich die Schule als die eine zuständige
Einrichtung behauptet, die die jungen Menschen zwischen ihrem sechsten und
sechzehnten oder zwanzigsten Lebensjahr bindet, beschäftigt, belehrt, beaufsichtigt,
bewahrt, beschwichtigt (»auskühlt«) und in die beruflichen und sozialen Fächer
sortiert, die die Gesellschaft bereithält.“13
•
Wird die Frage nach „Bildung“ und „Ausbildung“ in der
schulpädagogischen Diskussion überhaupt gestellt? Können sich die
Lehrkräfte in staatlichen Schulen in Zeiten der Verwöhnung und
Hyperkonsumation noch mit pädagogisch-philosophischen Anliegen
durchsetzen? Hat „der Staat“ ein Problem mit seinen Familien? Gibt es eine
Pflicht, Kinder zur Unterrichtsfähigkeit zu erziehen? Ist diese Frage zulässig?
Wenn nein, warum nicht und inwiefern wird den Lehrpersonen geholfen?
•
Warum wird der Begriff „Effizienz“ in der bildungspolitischen
Diskussion so sehr in den Vordergrund geschoben? Was bedeutet
„Wirksamkeit“, was „Wirtschaftlichkeit“? Wird hier bewusst eine
Annäherung von Pädagogik und Ökonomie betrieben? Argumentationshilfe
leistet diesmal John Dewey in „Demokratie und Erziehung“:
12
13
Mead (1971), S. 78
v. Hentig (2007), S. 75f.
14 | MARKUS WALDVOGEL
„Es ist jedenfalls wichtiger, die geistige Schaffens- und Schöpferkraft des Schülers
lebendig zu erhalten, als die äußere Vollkommenheit der Arbeitsergebnisse
sicherzustellen, indem dem Schüler eine bis in alle Einzelheiten geregelte
Stückarbeit zugewiesen wird. Peinliche Genauigkeit und Vollkommenheit im
Einzelnen können insoweit gefördert werden, als sie im Bereich der Fähigkeiten des
Schülers liegen.
Das unbewußte Misstrauen gegenüber der eigenen Erfahrung des Schülers, wie es in
der Übertreibung der äußeren Überwachung hervortritt, zeigt sich nicht nur in dem
Arbeitsstoff, den die Schule auswählt, sondern ebenso sehr in den Weisungen, die
der Lehrer gibt. Die Furcht vor dem „Rohstoff" tritt ebenso sehr im naturkundlichen
Arbeitsraum, wie in der Werkstatt, im Fröbelschen Kindergarten wie in MontessoriKlassen zutage. Überall werden Stoffe verwendet, die der vervollkommnenden
Arbeit des Geistes bereits unterworfen worden sind: ein Verfahren, das in der
Werkstatt ebenso deutlich ist wie beim theoretischen Lernen aus Büchern. Dass ein
so vorbereiteter Arbeitsstoff Fehlgriffe des Schülers verhütet, ist richtig. Falsch
dagegen ist die Auffassung, dass der Schüler, der so vorbereitetes Material
verwendet, die geistige Leistung, die in dieser Vorbereitung steckt, irgendwie in
sich aufnehmen wird. Nur wenn wir mit dem Rohstoff beginnen und ihn
zweckentsprechender Behandlung unterwerfen, erwerben wir die geistige Fähigkeit,
die sich im vollendeten Gegenstand verkörpert....
Eine andere Form, in der uns der gleiche Grundsatz entgegentritt, ist die Forderung,
dass die tätige Beschäftigung stets auf ein Ganzes gerichtet sein soll. „Ganz" im
pädagogischen Sinne sind jedoch niemals rein äußere Angelegenheiten, Dinge und
Vorgänge. Geistig gesehen beruht das Vorhandensein einer Ganzheit auf einem
Erfaßtsein, einem Interesse: es ist nicht dem Umfange, sondern der Art nach
bestimmt, ist die Allseitigkeit, mit der uns eine gegebene Sachlage anspricht.
Übertreibungen in der Entwicklung von Fertigkeiten unabhängig vom jeweiligen
Zwecke wirken sich darin aus, dass Übungen lediglich um der Übung willen
angestellt werden, nicht im Dienste irgendeiner sachlichen Aufgabe...“ 13
•
Alle diese Fragen orientieren sich an der Leitfrage „Worum geht es da
eigentlich?“ Mit welchen Zielen, Begriffen und Menschenbildern wird
“unterm Strich“ gearbeitet? Aus Erfahrung weiß ich, dass diese Frage,
immer wieder gestellt, nach Argumentationen verlangt, wo Ideologie zu
dominieren droht. Es ist klar, dass die oben erwähnte „überfrachtete“ Schule
ebenso wie die oft unter Sonderbedingungen arbeitenden Privatschulen
bereits Resultat einer bestimmten Ideologie sein können.
Der in der Schule oder mit Lehrpersonen (und Eltern) arbeitende Philosoph
hat deshalb die klassische Verantwortung, über Ideologien, blinde Flecken
und (neue)Tabus zu reden, gerade auch mit seinen Gesinnungsgenoss/innen,
die ansonsten allzu leicht einem destruktiven, „gut gemeinten“ Reformeifer
anheim fallen könnten. Grundsätzlich gilt diesbezüglich, dass keine Reform
14
Dewey (1949), S.227ff.
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 15
angezettelt werden können sollte, die nicht über einen klar ausgewiesenen
„Mehrwert“ verfügt. „Im Zweifelsfalle nicht!“, bedeutet hier, als durchaus
günstige Aussage, „Hände weg von Reformen, die unserer Leitfrage Worum
geht es hier eigentlich? nicht standhalten können“.
•
Hans Vaihinger (1852-1933), Philosophieprofessor in Halle, hat vor 132
Jahren an der Universität Straßburg eine Habilitationsschrift eingereicht, die
später unter dem Titel „Die Philosophie des Als-Ob" bekannt wurde.
Vaihinger unterscheidet darin die objektive Gültigkeit von Erkenntnis und
deren Wert für die Lebenspraxis. Was der Mensch vermöge seiner
Erkenntnisfähigkeit bilden könne, seien Vorstellungen und Fiktionen; diese
ließen sich nur rechtfertigen durch den Erfolg des Handelns, das sich auf sie
stützt. Vaihingers Fiktionalismus gleicht damit dem amerikanischen
Pragmatismus (z.B. James, 1907; Dewey, 1929). Vaihinger problematisiert
die Rolle der Fiktionen, welche gewissermaßen als vorkritische Konstrukte
einer Prüfung bedürften, weil sie sonst Gefahr liefen, als „Wirklichkeit“
verkannt zu werden.
Deshalb sind sie als Lebenshilfen und vor allem auch Orientierungsgrößen
hoch problematisch versagen leicht. („So ist Wahrheit eben auch nur der
zweckmäßigste Grad des Irrtums und Irrtum der zweckmäßigste Grad der
Vorstellung, der Fiktion. Unsere Vorstellungswelt heißen wir dann wahr,
wenn sie uns erlaubt, am besten die Objektivität zu berechnen und in ihr zu
handeln; denn die so genannte Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist
doch endlich als Kriterium aufzugeben.“)15
Wenn nun die Bildungspolitik mit ihren Auswirkungen in die schulische
Lebenswelt von der Fiktion des „homo oeconomicus“ ausgeht, haben wir es mit
einem (philosophischen) Reduktionismus zu tun, der in keiner Weise die Hürden
der Demokratie genommen hat. Er wurde vielmehr über raffiniert eingeleitete
Umwege („geleitete Schulen“ / “Bildungsstandards“ / “Schulen als Betriebe“ /
“Schüler/innen als Kund/innen“ etc.) „scheibchenweise“ institutionalisiert, zu oft
und durchaus mit Hilfe der „Lieben und Netten“, die Reformen fast a priorisch
als positiv einstuften.
15
Vaihinger (1922), S. 115
16 | MARKUS WALDVOGEL
Das muss entlarvt und revidiert werden, damit größeres Unheil verhindert
werden kann. Denn philosophische Fragen wurden auf dem Weg zur sich
anbahnenden McKinsey-Bildung bisher in auffälliger Weise keine gestellt.
Sie können aber noch gestellt werden, denn mittlerweile regt sich auf der
Umsetzungsebene Widerstand: Richard Münch beispielsweise macht mit seinem
sehr lesenswerten Buch „Globale Eliten, lokale Autoritäten“ deutlich, wo die
Interessen der Verökonomisierung aller Schulen liegen und wo die
Interessenvertreter ansetzen. Auf alle Fälle kann mit einer hybriden
Modernisierung der Schule kein humanistisches Bildungsideal mehr erreicht
werden und wir tun gut daran, nicht so zu tun als ob es heute weltweit
bildungspolitisch noch um echte Verbesserungen ginge. Dazu noch einmal
Hartmut von Hentig:
„Einstweilen bescheiden wir uns mit der Erkenntnis, dass »bessere Bildung« nicht nur
heißen muss, was die OECD vorschreibt und ermitteln kann. Wenn sehr viele
Absolventen unserer Schulen nicht lesen und nur unsicher schreiben können, wenn sie
Schwierigkeiten haben, elementare Erkenntnismittel zu benutzen – die Zahlensysteme,
die tabellarische und grafische Veranschaulichung von Verhältnissen, die Computer, die
Nachschlagewerke; wenn ihnen grundlegende Tatbestände der Naturwissenschaften
unbekannt sind; wenn sie in der lingua franca unserer Zeit nicht mitreden können, dann
ist ihre Bildung unzweifelhaft nicht gut genug. An der Beseitigung dieser Schwäche
wird gearbeitet. Wie jedoch arbeitet man an der Beseitigung von Mängeln, die nicht mit
der gleichen Deutlichkeit und Einmütigkeit erkannt, geschweige denn durch empirische
Untersuchungen belegt sind? Wenn es zum Beispiel an Zuversicht und Selbstvertrauen
fehlt, an Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl, an Verlässlichkeit und Ausdauer, an
physischer Belastbarkeit und psychischer Selbstkontrolle, an Toleranz für andere
Lebensformen und Rücksicht auf Schwächere, an praktischem Geschick und nicht
zuletzt an der wichtigen Wahrnehmung, nützlich sein zu können, ja, gebraucht zu
werden?“16
Wer gebraucht wird, den empfängt man üblicherweise mit einem
„Welcome!“ Warum tun wir das heute mit vielen Jugendlichen nicht? Warum
fehlen eigentliche Initiationsrituale in die Gesellschaft? In diesen Bereichen
können erreichbare Zielvorgaben mit einer philosophischen Untermauerung
formuliert werden. Martin Buber, Erich Fromm und Alfred Adler sind nur ein
paar mögliche „Philosophen mit pädagogischem Einschlag“, aus deren Werk
Zitate gewonnen werden können, die durchaus das Motto für ein Quartal, ein
Semester oder eine Arbeitswoche abgeben können. Dies im Sinne einer
Strukturierung, Untermauerung und Ausrichtung („Kompass“) der
pädagogischen Arbeit.
16
v. Hentig (2006), S. 102f.
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 17
Methodenschritt 5: Klären und Stärken
Entscheidend fürs philosophische Coaching ist das Klären von Sachverhalten,
das Bewusstmachen des Unterschieds von persönlichen und „politischen“
Problemen und letztlich die Stärkung von Persönlichkeiten (v.a. Lehrpersonen)
auch in spiritueller Hinsicht. Kognitive Fitness allein reicht nicht aus, um „über
den Berg“ zu kommen.
Das Klären von Sachverhalten meint in der philosophischen Praxis ein
Verhältnis: Es ist wichtig, dass LP sich klar machen können, was ihnen gut tut,
was sie stärkt und wo sie Mängel beheben möchten, um entspannter, freier und
zielgerichteter „Lehre“ zu betreiben. Methodisch bedeutete das eine Hinführung
zur Mündigkeit, zur Autonomie. Das geht nicht, ohne dass dabei auch das
Kostbarste, Innerste angesprochen wird. Mentale Fitness ist zwar ein schöner
Begriff, letztlich geht’s aber nicht um Fitness sondern um den aufrechten Gang,
und zwar sowohl ganz konkret wie metaphorisch. Wie eine LP hinsteht, atmet,
formuliert, „tönt“, schreibt, musiziert, zeichnet, bastelt, verhandelt, nachdenkt
oder liest, verkörpert eigentlich nur die Spitze des Eisbergs; hinter diesen
Handlungen stecken Lebenseinstellungen und Vorstellungen von den letzten
Dingen, von dem, was wirklich entscheidend ist.
Im philosophischen Gespräch sollen Nah- und Fernziele gestalterisch dargestellt
(durchaus auf Packpapier…), Herausforderungen genau beschrieben, Wünsche
ausgedeutscht, ästhetische Vorstellungen aufgegriffen und spirituelle
Überlegungen angestellt werden. Das rationalistische Verbrämen der
Grenzgebiete zwischen Philosophie, Theologie und Kunst weicht in der
philosophischen Arbeit mit LPs einem gestalterischen Umgang: Das Hören von
Musik, das Zeichnen, Malen, Schreiben aber auch die Entwicklung von Ritualen
zur Lebensfreude haben einen festen Platz bei allen Problemlösungen, die diesem
aufrechten Gang verpflichtet sind.
Davon spricht der nächste Abschnitt.
Über Francesco Petrarca wird erzählt, wie er in einem Brief an einen Freund
die Besteigung des Mont Ventoux am 24. April 1336 kommentierte. Er erlebte
die wilde Natur auf dem Aufstieg als beglückend. Er war ergriffen. Auf dem
Gipfel schließlich übermannte ihn die Aussicht von den Alpen bis hin zur
Rhonemündung. Ihm bot sich ein überwältigendes Bild. Wenig später wandte er
sich der Lektüre von Augustinus’ Bekenntnissen zu. Wahllos schlug er das Buch
auf und las:
“Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren
Fluten des Meeres und die weit dahinfliessenden Ströme und den Saum des Ozeans und
die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.“17
17
Augustinus (1982), X/S. 8
18 | MARKUS WALDVOGEL
Beeindruckt wandte sich Petrarca von der spektakulären Natur ab, um sich
dem Selbststudium, der Einkehr bei sich selbst, zu widmen. Das Wissen über die
Natur schien ihm angesichts der brennenderen Fragen nach der eigenen Identität,
nach dem eigenen Weg, zweitrangig. Petrarca entschied sich, nach einem
„modernen“, neuzeitlichen Blick in die Welt, für den inneren Weg. Er wollte
seine Wahrheit mit meditativ-kontemplativen Mitteln finden. Er hätte auch
anders entscheiden können. Die Welt lag ihm in ihrem Reichtum und ihrer
Gewalt, buchstäblich zu Füssen. Der „Pilger ohne Ende“, wie er sich selbst
nannte, suchte sich zeitlebens zu orientieren zwischen der vita solitaria und der
vita activa. Glücklich wurde er dabei nicht. Orientierungslos aber auch nicht. Er
konnte sich ein Bild davon machen, wie ihm geschah. Er identifizierte seine
Zerrissenheit. Er konnte sich selber „über die Schultern blicken“,
Selbstbewusstsein „im Scheitern“ aufbauen. Petrarca litt an seiner seelischen
Gespaltenheit, die auch Ausdruck der Übergangszeit zwischen Mittelalter und
Neuzeit war. Das formulierte Leiden wurde aber zum Ausdruck einer Freiheit,
die stumpfe Abhängigkeit hinter sich lässt.
Petrarca machte sich ein Bild seiner selbst und seiner Zeit. Petrarca war
gebildet. Er war jederzeit fähig, sich einzumischen. Er besaß Visionen und
Orientierung.
Kant schreibt am Schluss seines Essays „Über Pädagogik“: „In unserer Seele
ist etwas, dass wir Interesse nehmen 1) an unserem Selbst, 2) an andern, mit
denen wir aufgewachsen sind, und dann muss 3) noch ein Interesse am
Weltbesten Statt finden. Man muss Kinder mit diesem Interesse bekannt machen,
damit sie ihre Seelen daran erwärmen mögen.“ 18
Kants Vorstellung von einem guten Leben weicht von Petrarcas Leidensweg
entscheidend ab. Doch die Überführung eines latent vorhandenen Interesses (u.a.
an sich selbst) in ein bewusst gelebtes erinnert an Petrarcas Reaktion auf
Augustinus’ „…und haben nicht acht ihrer selbst.“
Das mitteilbare Interesse ist Voraussetzung für alles Reden über
Orientierung. Wie man sich zwischen den Dingen bewegt, wie man sich
positioniert, wohin man blickt, was Aufmerksamkeit erregt, was man übersieht,
nicht wahrhaben will, was man sammeln möchte, begehrt, verachtet, was einen
schreckt, beruhigt, verstört und wovon man träumt, das alles macht „Interesse“
aus und wird, in seiner bewussten Formulierung, zur eigenen Spur, die man
bisher gelegt hat, resp. zur Ahnung und Vorstellung vom zukünftigen Weg, den
man begehen möchte, von seinen Unwägbarkeiten und von all den Dingen, die
hinter dem Netz aller erdenklichen Wege sich befinden mögen.
Die „Geworfenheit“ in eine Welt, in der es unendlich viel zu entdecken, zu
sehen gibt, in der man sich aber auch positionieren muss, in der es auf die eigene
Haltung, auf Entscheide ankommt, ist eine Befindlichkeit, die man mit andern
18
Kant (1983), S. 761
WORUM GEHT’S DA EIGENTLICH? | 19
teilen kann, der man täglich wieder ausgesetzt ist und die uns zu einer eigenen
Identität, einer eigenen Blickrichtung, zu einer persönlichen Art, „Welt“ zu sehen
und zu qualifizieren, zwingt.
Die Auseinandersetzung darüber, auf allen erdenklichen Niveaus, zeichnet
Bildung aus.
Sie anzustoßen ist der Job des praktizierenden Philosophen; in der Schule, in
der politischen Debatte, in seiner Praxis. Trotz aller Gefahr, die auch Sokrates
drohte.
20 | MARKUS WALDVOGEL
Literatur
Augustinus (1982), Bekenntnisse, Zürich/München
Böhme, Gernot (1991) Philosophie als Arbeit, Zeitschrift für Didaktik der
Philosophie und Ethik, Heft 13
Dewey, John (1949) Demokratie und Erziehung, Braunschweig
von Hentig, Hartmut (2007) Bewährung – Von der nützlichen Erfahrung nützlich
zu sein, Weinheim und Basel
Illich, Ivan (1972) Entschulung der Gesellschaft, München
James, William (1890) Principles of psychology, New York
Kant, Immanuel (1983) Über Pädagogik, Darmstadt
Kaiser, Arnim und Ruth (2001), Studienbuch Pädagogik, Berlin
Mead, Margret (1971), Konflikt der Generationen, Freiburg
Münch, Richard (2009), Globale Eliten – lokale Autoritäten, Frankfurt
Pestalozzi, Johann Heinrich (1899-1902), Über den Sinn des Gehörs, in Hinsicht
auf Menschenbildung durch Ton und Sprache, Liegnitz
Platon, Theaitetos (1940), Sämtliche Werke. Band 2, Berlin
Platon, Politeia (2000), Stuttgart
Pörksen, Uwe (1988) Plastikwörter - Die Sprache einer Internationalen Diktatur,
Stuttgart
Raithel u.a. (2007), Einführung in die Pädagogik – Begriffe, Strömungen,
Klassiker, Fachrichtungen, Wiesbaden
Schopenhauer, Arthur (1999), Die Welt als Wille und Vorstellung, DB SchülerBibliothek: Philosophie, (vgl. Schopenhauer-ZA Bd. 3, S. 84), Berlin
Sartre, Jean-Paul (1994), Der Existenzialismus ist ein Humanismus, Hamburg
Sautet, Marc (1997), Ein Café für Sokrates, Düsseldorf; Zürich
Tomasello, Michael (2009), Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation,
Frankfurt
Vaihinger, Hans (1923) Philosophie des Als-Ob, Leipzig
Waldvogel, Markus (2006) Bilder der Bildung – Zehn Bilder – ein Essay, Biel
Waldvogel, Markus (1993), Schule zwischen Stoff, Stress und fehlenden
Visionen, München
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