2 von 28 Mit 17 schwanger werden Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 I Fachliche Hinweise Schwangerschaftsabbrüche und Lebendgeburten Mehr als 4 219 Lebendgeburten und 4 026 Schwangerschaftsabbrüche Minderjähriger verzeichnete das statistische Bundesamt allein im Jahr 2011. Die Zahl der Abbrüche bei unter 15-jährigen ist zwar wieder auf demselben Niveau wie 1996, die der 15-18-jährigen ist seitdem allerdings angestiegen. Zurückgegangen sind die Geburten von Kindern: 2007 waren es noch 5 812. Die Frage des Schwangerschaftsabbruchs ist in unserer Gesellschaft umstritten. Die Auseinandersetzungen um den Paragraf 218 sind ein eindrückliches Beispiel dafür, in welcher Orientierungsunsicherheit sich der Einzelne, die Gesellschaft und die Politik heute beinden. Wann beginnt das Lebensrecht des Einzelnen? Galt die Geburt jahrhundertelang unhinterfragt als der Beginn des menschlichen Lebens, so ist durch den Fortschritt der modernen Medizin dieser Zeitpunkt längst infrage gestellt worden. Wann aber beginnt das Lebensrecht des Einzelnen? In der Diskussion dieser Frage lassen sich – zugespitzt – zwei entgegengesetzte Positionen ausmachen: die der „Konservativen“ und der beiden christlichen Kirchen und diejenige der „Liberalen“. U A Die konservative Position Die konservativen Philosophen im Abtreibungsdisput, etwa Robert Spaemann und Reinhard Löw, und ebenso die Vertreter der beiden christlichen Kirchen führen vor allem vier Argumente gegen die Abtreibung an: H C – das Spezies-Argument (der Embryo gehört von Anfang an der Spezies Homo sapiens und keiner anderen Spezies an), – das Kontinuitäts-Argument (die Entwicklung des Menschen verläuft von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an kontinuierlich und ohne Einschnitt), S R – das Potenzialitäts-Argument (vom Augenblick der Befruchtung an handelt es sich um einen potenziellen Menschen), – das Identitäts-Argument (der Embryo ist genetisch identisch mit dem geborenen Menschen, der später daraus entstehen kann). O V Die liberale Position Liberale Philosophen, wie Norbert Hoerster, Reinhard Merkel u. a., erkennen diese Argumente nicht an. Für sie ist die Zuschreibung von Rechten keine biologische Frage, sondern wird von der Rechtsgemeinschaft vollzogen. Mögliche Merkmale für den Beginn des Lebens sind neben der Befruchtung der Eizelle und deren Einnistung in der Gebärmutter ihrer Ansicht nach die Funktionsfähigkeit des Gehirns, die Überlebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibs und die Geburt. Da vielen Liberalen der Zeitpunkt der Befruchtung als zu früh angesetzt erscheint, fokussiert sich die derzeitige Diskussion auf den Zeitpunkt der Funktionsfähigkeit des Gehirns, der spiegelbildlich zum Hirntodkriterium als Zeitpunkt des Todes anzusetzen wäre. Der Begriff Person ist für einen Großteil der liberalen Philosophen und Juristen mit dem Vorhandensein von Ich-Bewusstsein verbunden. Ein Lebensrecht kann nur haben, wer ein Interesse am Überleben hat, also ein Bewusstsein seiner selbst. Dementsprechend wird die Funktionsfähigkeit des Gehirns als biologisches Korrelat zum personalen Leben angesehen. Diese Funktionsfähigkeit ist frühestens am 70. Tag (in der 10. Woche) nach der Befruchtung gegeben. Ab der 24. Woche kann durch Hirnströme nachgewiesen werden, dass bestimmte Zentren des Gehirns aktiv sind. Diese Zeitangaben korrelieren weitgehend – wenn auch nicht exakt – mit der 12-Wochen-Frist, die der Gesetzgeber für die Stralosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in bestimmten Fällen vorgesehen hat. 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 zur Vollversion I Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 Mit 17 schwanger werden 5 von 28 Verlaufsübersicht Stunde 1/2 Schwanger mit 17 – ein Fallbeispiel M1 Gefühlschaos – Jessica und der Schwangerschaftstest / Die Unterrichtseinheit beginnt mit dem Fallbeispiel: Jessica ist vermutlich schwanger und holt sich Rat bei einer Freundin M2 Was passiert beim Abbruch? – Jessica beim Gynäkologen / Im Gespräch werden die zwei Möglichkeiten der Abtreibung sowie die Risiken besprochen M3 Warum Beratung so wichtig ist – Jessica spricht mit einer Sozialpädagogin / Die Sozialpädagogin bespricht mit Jessica die Indikationen für einen Abbruch und die Strafrechtlichen Implikationen (§ 218; 219 StGB) Stundenziel: Die Schülerinnen und Schüler verstehen die medizinische und die rechtliche Seite eines Schwangerschaftsabbruchs. Stunde 3/4 Phasen der embryonalen Entwicklung M4 Wann fängt das Leben an? – Eine Diskussion in der Pause / Drei Klassenkameradinnen nehmen unterschiedliche Positionen zum Lebensrecht ein M5 Kann ein Embryo fühlen? – Fragen an den Biologielehrer / Das Gespräch klärt über die biologische Entwicklung eines Embryos auf Stundenziel: Die Schülerinnen und Schüler erkennen die Komplexität der Entstehung eines Embryos im Mutterleib und nehmen die damit verbundenen Fragestellungen wahr. Stunde 5/6 Das Lebensrecht – Argumente für und gegen Abtreibung M6 Was sagt die Kirche? – Ein Gespräch mit dem Pfarrer / Für den Pfarrer bedeutet Schwangerschaftsabbruch Tötung einer menschlichen Person (Kontinuitäts-, Individualitäts, Potenzialitäts-Argument) M7 M8 U A H C S R O V Was meint der Philosoph? – Das abgestufte Lebensrecht / Für den Philosophen ist der Abbruch vor der Einnistung bzw. vor der 10. Woche bedenkenlos möglich Für oder gegen Abtreibung – Zusammenfassung der Argumente / Die Lernenden fassen noch einmal die Argumente beider Seiten zusammen Stundenziel: Die Schülerinnen und Schüler verstehen die verschiedenen Argumente, wie schwierig es für eine Betroffene ist, sich richtig zu entscheiden. Stunde 7 Schwanger mit 17 – ein schweres Schicksal? M9 Gefühlschaos – Jessica vor einer schwierigen Entscheidung / In einem Schreibgespräch und im Plenum diskutieren die Lernenden die für Jessica anstehende Entscheidung auf Grundlage des Erarbeiteten und relektieren für sich, wie sie sich entscheiden würden Stundenziel: Die Schülerinnen und Schüler verstehen, wie schwierig es für eine Betroffene ist, sich richtig zu entscheiden. zur Vollversion 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 I Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 Mit 17 schwanger werden 7 von 28 M1 Gefühlschaos – Jessica und der Schwangerschaftstest © Thinkstock/iStockphoto Jessica trifft sich mit ihrer Freundin Stefanie. Die beiden kennen sich seit der Grundschule. Stefanie: Hallo Jessica, wie geht‘s? Jessica: Nicht besonders gut. Stefanie: Erzähl, was ist los? Jessica: Ich bin … schwanger! Stefanie: Was? Ach du lieber Himmel. Bist du sicher? U A Jessica: Ja, ich glaube schon. Ich habe heute Morgen einen Schwangerschaftstest gemacht. Und der war positiv. Ich bin völlig durcheinander. Stefanie: Das glaube ich. Komm, setzen wir uns mal. Wie konnte das denn passieren? Jessica: Ich habe dir doch erzählt, dass ich vor fünf Monaten Tom kennengelernt habe, auf dem Geburtstag von Laura. Du weißt, ich war gleich über beide Ohren in ihn verknallt. Seit diesem Abend sind wir zusammen und verstehen uns richtig gut. Vier Wochen später waren wir allein, bei Tom zu Hause. Na, und da ist es dann zum ersten Mal passiert. Es war so toll, und dann haben wir es auch öfter gemacht. Mit Kondom natürlich! Aber dann ist bei mir die Regel ausgeblieben. Als sich dann morgens auch noch Brechreiz einstellte … H C Stefanie: … da hast du dir in der Apotheke den Test besorgt. Verstehe. S R Jessica: Stefanie, ich, ausgerechnet ich bin schwanger! Ich bin doch erst 17, gehe noch zur Schule und mache meine Ausbildung. Ich habe noch das ganze Leben vor mir. Für ein Kind kann ich doch noch gar keine Verantwortung übernehmen. Dafür fühle ich mich noch gar nicht reif. Stefanie: Was sagt denn Tom eigentlich dazu? Jessica: Der meint, er hat jetzt noch keine Lust, eine Familie zu gründen. Er will jetzt erst mal das Abitur machen und dann studieren. Später, wenn wir dann überhaupt noch zusammen sind, dann könnten wir es ja nochmal versuchen mit einem Kind. O V Stefanie: Sehr einfühlsam. Typisch Mann! Aber im Ernst: Du musst dich entscheiden. Dein Körper gehört doch dir. Du kannst es dir wegmachen lassen. Jessica: Aber darf man das denn überhaupt? Stefanie, ich fühl mich so hin und her gerissen. Das ist doch ein kleiner Mensch, der da in mir wächst. Werde ich damit fertig werden, wenn ich das Kind abtreibe? Stefanie, was soll ich denn nur machen? Stefanie: Warst du denn schon beim Frauenarzt? Jessica: Nein. Stefanie: Das solltest du aber als Erstes machen, ich habe gehört, dass Schwangerschaftstests gar nicht hundertprozentig verlässlich sind. Vielleicht stimmt deine Vermutung ja gar nicht. Und wenn, dann solltest du dich von jemandem beraten lassen, der kompetent ist. Eine Freundin meiner Mutter arbeitet bei der Schwangerschaftsberatungsstelle. Ich rufe sie gleich an. Jessica: Das ist keine schlechte Idee. Ich muss mit jemandem reden, der mehr Erfahrung hat. zur Vollversion 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 8 von 28 Mit 17 schwanger werden Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 I Aufgaben 1. Lesen Sie den Text. 2. Beschreiben Sie in wenigen Sätzen Jessicas Problem. 3. Jessica sagt, sie fühle sich innerlich zerrissen. Verdeutlichen Sie den Konlikt, in dem sie sich beindet. Füllen Sie die beiden Seiten der folgenden Graik mit zutreffenden Stichworten aus. Jessica hat Angst, das Kind Jessica will das Kind zu bekommen, weil .... bekommen, weil ... U A H C S R 4. Diskutieren Sie in der Klasse: Weshalb sagt Stefanie: „Sehr einfühlsam. Typisch Mann!“? Was für ein Problem spricht sie damit an? 5. Versuchen Sie, sich in Jessica hineinzuversetzen. Wägen Sie die Gründe für und gegen das Kind ab. Überlegen Sie für sich: Wie würden Sie sich im Moment entscheiden? O V 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 zur Vollversion I Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 Mit 17 schwanger werden 17 von 28 M5 Kann ein Embryo fühlen? – Fragen an den Biologielehrer Nina: Herr Kopp, wir haben eben auf dem Schulhof darüber diskutiert, ob ein Embryo schon fühlen und denken kann. Können wir das mal im Unterricht behandeln? Herr Kopp: Wartet eben, ich hole aus der Sammlung einige Folien, die ganz anschaulich sind. (Verlässt den Klassenraum und kehrt mit den Folien zurück, schaltet den Overhead-Projektor ein.) Was ihr hier (vgl. Abb. 1 rechts) in Vergrößerung seht, ist die Befruchtung, das Eindringen eines Spermiums in eine Eizelle. Die Kerne von Ei und Spermium verschmelzen zu einem kompletten 46-teiligen Chromosomensatz, der eine vollständige Neukombination aus dem Erbgut der Vorfahren ist. Er enthält den Bauplan für ein neues Individuum. 1 U A © David M. Phillips/Science Source/OKAPIA H C S R Dies hier (vgl. Abb. 2 rechts) ist die vergrößerte Abbil- dung einer Zygote – so nennt man die befruchtete Eizelle – am dritten Tag nach der Befruchtung. 2 Nina: Sieht aber aus wie eine bloße Ansammlung von Zellen. O V Herr Kopp: Ist es auch. Durch eine Reihe von Zellteilungen im Abstand von je 20 Stunden hat sich die Zahl der Zellen auf 16 vermehrt. Die Zygote ist etwa 0,2 mm groß. Sie verlässt den Eileiter und macht sich auf den Weg zur Gebärmutter, wo sie am vierten Tag ankommt und sich einnistet. In diesem Stadium steht noch nicht fest, ob sich ein Individuum oder Mehrlinge, zum Beispiel Zwillinge, entwickeln. Zwischen dem 12. und 14. Tag ist die Einnistung dann abgeschlossen. Nina: Was ist in dieser Zeit passiert? © picture alliance/VEM/BSIP Herr Kopp: In dieser Zeit hat der Embryo die Form einer Hohlkugel, die Blastozyste genannt wird. Sie produziert ein bestimmtes Hormon, das bewirkt, dass der Menstruationszyklus abbricht. Nina: Das ist dann das Hormon, das durch den Schwangerschaftstest im Urin festgestellt werden kann. Herr Kopp: Richtig. Und die Gebärmutter beginnt an der Stelle, wo sich die Blastozyste eingenistet hat, vermehrt Blutgefäße zu bilden, und beginnt mit der Anlage einer Plazenta, die als gemeinsames Organ von Mutter und Embryo über die Nabelschnur dessen Versorgung übernimmt. (Legt die nächste Folie auf.) zur Vollversion 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 I Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 Mit 17 schwanger werden 23 von 28 M8 Für oder gegen Abtreibung – Zusammenfassung der Argumente Nachdem Sie sich die Entwicklung eines Fötus angesehen und die verschiedenen Positionen zum Lebensrecht erarbeitet haben, versuchen Sie noch einmal, einen Überblick zu gewinnen. Aufgaben 1. Vervollständigen Sie die folgende Übersicht: Positionen im Abtreibungsstreit Abtreibung? Argumente der Liberalen U A Argumente der Konservativen H C S R O V 2. Diskutieren Sie in der Klasse: Die katholische Kirche ist immer wieder einmal in der Kritik, weil sie Abtreibung grundsätzlich für Tötung erklärt, andererseits aber auch Empfängnisverhütung nicht erlaubt. Kritiker führen an: Wer gegen Abtreibung ist, muss für Empfängnisverhütung sein. Begründen Sie Ihre Meinung. zur Vollversion 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 26 von 28 Mit 17 schwanger werden Orientierung auf meinem Lebensweg • Beitrag 10 I M9 Gefühlschaos – Jessica vor einer schwierigen Entscheidung Jessica wurde über das medizinischen Vorgehen und die Risiken bei einem Schwangerschaftsabbruch sowie über die rechtliche Lage aufgeklärt. Sie kennt die biologischen Vorgänge während der Schwangerschaft sowie die Diskussion um das Lebensrecht und die grundsätzlichen Positionen. Trotzdem ist es für Jessica vermutlich nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen. Wiederholen Sie die Unterrichtseinheit in zwei Schritten: Schritt 1: Formulieren Sie ein Schreibgespräch Bilden Sie Vierergruppen mit Schülerinnen und Schülern, mit denen Sie zum aktuellen Thema noch nicht zusammengearbeitet haben. Lassen Sie sich von der Lehrkraft ein Plakat mit dem vorformulierten Satz oder der Fragestellung geben. Überlegen Sie sich zusammen ein Verfahren, um herauszuinden, wer anfängt. Notieren Sie dann reihum ihre Gedanken, indem Sie auf den Satz bzw. die Fragestellung Bezug nehmen. U A H C Gehen Sie in ihren Äußerungen und Kommentaren aufeinander ein. Sie dürfen Fragen, Zustimmung oder Gegenmeinungen formulieren. Tun Sie dies aber nur schriftlich, ohne zu sprechen! Diskutieren Sie anschließend den Satz oder die Fragestellung im Plenum. S R Schritt 2: Schreiben Sie Jessica eine E-Mail, in der Sie ihr raten, wie sie sich entscheiden soll. O V 7 RAAbits Religion und Werte • Berufliche Schulen • September 2013 zur Vollversion