Perspektiven der Prävention von Adipositas in

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Perspektiven der Prävention von Adipositas
in Deutschland
Möglichkeiten und Grenzen
Ein gemeinsamer Journalisten- und Multiplikatoren-Workshop des Kompetenznetzes Adipositas
und des Netzwerks Adipositas im Nationalen Genomforschungsnetz plus, 25. Oktober 2012, Berlin
Das Ausmaß: Adipositasepidemie in Deutschland?
Prof. Heiner Boeing
Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke, Abt. Epidemiologie, Arthur-Scheunert-Allee 114–116, 14558 Nuthetal, E-Mail: [email protected]
Von Quetelet stammt die Formel für den „Body-Mass-Index“ (BMI: Gewicht in kg/Größe in m2), mit der die Körperzusammensetzung eines Menschen mit besonderem Bezug auf den Fettanteil gut beschrieben werden
kann. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Weiteren den BMI
der Erwachsenen in Risikokategorien eingeteilt, mit denen heute wesentlich
gearbeitet wird (Normalgewicht BMI 18,5 bis 24,9 kg/m2, Übergewicht 25,0
bis 29,9 kg/m2 und Adipositas ≥30,0 kg/m2).
In Deutschland wie auch in anderen Ländern steigt der Anteil der adipösen Personen mit dem Alter an. Besonders bemerkenswert ist bei Männern
der starke Anstieg der Adipositas im mittleren Alter. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit einem Anteil von über 20 Prozent adipöser Personen in der erwachsenen Bevölkerung im oberen Mittelfeld. Der Anteil adipöser Personen ist in den letzten Jahren weiter angestiegen. Jedoch scheint
die Dynamik des Anstiegs nachzulassen. Bemerkenswert ist das Nachrücken
der Nachkriegsjahrgänge mit hohen Anteilen an adipösen Personen in älteren Lebensabschnitten.
Im Sinne einer lebenslangen Moderation bei der Gewichtszunahme mit
dem Ziel eines stabilen Normalgewichts bis in das hohe Lebensalter gibt der
Anstieg des Anteils adipöser Kinder und Jugendlicher in den letzten Jahrzehnten in diesem Segment der Bevölkerung Anlass zur Sorge.
Adipositas als Kondition für gesundheitliche Beeinträchtigungen und als
Risikofaktor für chronische Erkrankungen wie Typ 2 Diabetes mellitus, HerzKreislauferkrankungen und bestimmte Krebserkrankungen zeichnet sich
durch einen sozialen Gradienten aus mit einer vergleichsweise stärkeren Ausprägung in den unteren sozialen Schichten.
Die Auswirkungen: Was kostet uns die Adipositas?
Prof. Rolf Holle
Helmholtz Zentrum München, Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen, Postfach 1129, 85758 Neuherberg, E-Mail:
[email protected]
Das quantitative Ausmaß der sogenannten „Adipositas-Epidemie“ ist nicht
nur aus gesundheitlicher, sondern auch aus ökonomischer Perspektive besorgniserregend. Schon allein aufgrund der hohen Prävalenz muss sowohl in
Deutschland als auch weltweit von einer erheblichen Belastung der Gesundheitsbudgets aufgrund von Übergewicht und Adipositas ausgegangen werden. Eine Quantifizierung der mit Adipositas assoziierten Kosten kann dazu
beitragen, diese Problematik auch politischen Akteuren sichtbar zu machen
und gegebenenfalls Bereiche mit besonderem Handlungsbedarf zu identifizieren. Des Weiteren stellt sich dann die Frage, welche präventiven oder the-
rapeutischen Interventionen bei Berücksichtigung der hierfür aufzubringenden Kosten, der Gewinne an Gesundheit und der daraus resultierenden zukünftigen Einsparungen insgesamt als kosteneffektiv anzusehen sind.
Folgt man einer aktuellen Übersicht zu über 30 internationalen Studien,
so belaufen sich die direkten Kosten der Adipositas in den untersuchten Ländern auf 0,7 bis 2,8% der gesamten Gesundheitsausgaben. Verschiedene
deutsche Studien kommen zu Schätzungen von etwa 10 Milliarden Euro adipositasbedingter Kosten pro Jahr, damit liegt Deutschland im internationalen
Vergleich eher hoch. Die Studien zeigen aber auch, dass nur ein sehr kleiner
Teil dieser Kosten direkt durch die Behandlung der Adipositas entstehen,
während der große Rest für die Behandlung der Folgeerkrankungen anfällt.
Den größten Anteil daran haben Diabetes mellitus und kardiovaskuläre Erkrankungen, gefolgt von Arthrose und Bluthochdruck.
Die durch Adipositas verursachten Kosten sind somit bereits jetzt beträchtlich und Hochrechnungen über die nächsten Dekaden gehen von einem weiteren deutlichen Anstieg aus. Die Identifikation kosteneffektiver Präventions- und Interventionsmaßnahmen spielt daher eine besondere Rolle.
Sind die Gene Schuld?
Prof. Anke Hinney
Universität Duisburg-Essen, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Abteilung Molekulargenetik von Adipositas
und Essstörungen, Virchowstraße 171, 45147 Essen, E-Mail:
[email protected]
Obwohl die Erblichkeit der Varianz des Körpergewichtes hoch ist, konnten
molekulargenetische Faktoren bislang nur einen kleinen Anteil davon erklären. Bei sehr wenigen monogenen Formen der Adipositas führt der Ausfall
eines einzelnen Genproduktes bereits zu einer extremen Adipositas. Weltweit
finden sich diese Mutationen nur bei wenigen Familien. Hingegen konnten
funktionell relevante Mutationen im Melanokortin-4 Rezeptorgen bei etwa
2,5% der extrem adipösen Kinder / Jugendlichen und Erwachsenen identifiziert werden. Die Beschreibung des leptinerg-melanokortinergen Regelkreises im Hypothalamus geht auch auf die Beschreibung dieser Mutationen zurück und hat unser Verständnis der physiologischen Regulation des Körpergewichts erheblich verbessert.
Der größere Teil der Varianz des Körpergewichtes wird durch polygene
Effekte (viele Gene mit jeweils relativ geringem Einfluss auf den Phänotypen)
erklärt. Mittels einer großen Meta-Analyse internationaler, genomweiter Assoziationsstudien (GWAS) wurden 32 (18 neu) Adipositas-Genorte bei Erwachsenen identifiziert. Etwa 250.000 Individuen europäischer Herkunft
flossen in diese Analyse des GIANT (Genetic Investigation of ANtropometric
Traits) Konsortiums ein. Die Effektstärken dieser Varianten sind zumeist
(sehr) klein, sodass sie im Durchschnitt eine Erhöhung des Körpergewichts
um 500 g (BMI zwischen 0,06 und 0,39 kg/m2) bedingen. Insgesamt erklären
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die Varianten zusammen nur 1–2% der Varianz des Körpergewichtes. Zudem
sind auch sogenannte ‚Copy Number‘ Varianten mit Adipositas (bzw. Untergewicht) in Verbindung gebracht worden.
Es gibt momentan keine Konsensuserklärung für die fehlende Erblichkeit
bei komplexen Erkrankungen. Auch die pathologischen Konsequenzen der
identifizierten Varianten sind bislang weitgehend unklar. Mutmaßlich werden in den nächsten Jahren einige funktionelle Varianten aufgeklärt und
letztendlich ihr vermuteter therapeutischer Nutzen deutlicher werden. Aktuell laufende Exom- und „Whole genome“ – Sequenzierungen werden zeigen,
ob Hauptgeneffekte bei Adipositas (oder Untergewicht) häufiger vorkommen.
Epigenetik: Der Einfluss des Lebensstils auf die Gene
Prof. Bernhard Horsthemke
Universitätsklinikum Essen, Institut für Humangenetik, Hufelandstraße 55, 45122
Essen, E-Mail: [email protected]
Obwohl unsere Gene einen maßgeblichen Einfluss auf unser Leben haben,
gibt es in der Regel keine 1:1 Beziehung zwischen Genotyp (unseren Erbanlagen) und Phänotyp (unseren Merkmalen). Dies liegt daran, dass wir eine
Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum fertig ausgebildeten Menschen durchlaufen. Während dieser Entwicklung werden bestimmte Gene
angeschaltet und andere Gene abgeschaltet, d.h. von den ca. 20.000 Genen
des Menschen, die in allen Zellen vorliegen, ist zu einer bestimmten Entwicklungsphase in einem bestimmten Zelltyp jeweils nur ein Teil unserer Gene
aktiv. Die zellteilungsstabile An- und Abschaltung von Genen erfolgt u.a.
durch eine Modifikation des Chromatins, in das unsere Erbinformation verpackt ist (DNA-Methylierung und Histonmodifikation). Obwohl der sich
entwickelnde Organismus ein selbstorganisierendes System ist, unterliegt die
An- und Abschaltung von Genen äußeren Einflüssen und innerem Rauschen, sodass die Entwicklung unterschiedliche Bahnen einschlagen kann.
Ein und derselbe Genotyp hat also das Potenzial, verschiedene Phänotypen
auszubilden. Dies nennen wir phänotypische Plastizität. Gerade während der
frühen Embryonal- und Fetalentwicklung und des ersten Lebensjahrs erfolgen entscheidende Weichenstellungen. So hat z.B. der Glukosewert der
Schwangeren einen lebenslang prägenden Einfluss auf den Stoffwechsel des
Kindes. Hyper- und Hypoglykämie führen zur Einstellung bestimmter Stoffwechselwerte, Genaktivitätsmuster, Rezeptordichte und Zellzahlen in bestimmten Geweben. Einmal festgelegte Werte können später nur schwer geändert werden. Ein besonderes Problem ergibt sich, wenn der Fetus nicht
richtig auf die späteren Umweltbedingungen vorbereitet wurde. Aus dem
Konzept der „fetalen Programmierung“ ergibt sich, die Prävention von Adipositas auf den Zeitpunkt vor und um die Geburt herum vorzuverlegen. Aus
epigenetischer Sicht ist eine Prävention im späteren Kindes- und Erwachsenenalter eine vergebliche Mühe.
Adipositas aus medizinscher Perspektive
Prof. Hans Hauner
Technische Universität München, Lehrstuhl für Ernährungsmedizin, Klinikum
rechts der Isar, Uptown München Campus D, Georg-Brauchle-Ring 60/62, 80992
München, E-Mail: [email protected]
Im Jahr 2003 definierte ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO,
2003) Adipositas als eine chronische Erkrankung, die auf einer komplexen
Wechselwirkung zwischen Erbanlagen und Lebensstil basiert, mit einer Vielzahl von Folgekrankheiten und einer verkürzten Lebenserwartung assoziiert
ist und einer langfristig angelegten Behandlung bedarf. Adipositas wurde dabei anhand eines BMI ≥30 kg/m2 definiert. Danach handelt es sich um eine
chronische Erkrankung ähnlich wie Hypertonie oder Typ 2 Diabetes mellitus.
Auch wenn Adipositas nach dem deutschen Sozialgesetzbuch nicht als eigenständige Krankheitsentität anerkannt wird, so ist doch unstrittig, dass
Adipositas einen potenten Schrittmacher für zahlreiche chronische Krank-
heiten darstellt. In den letzten Jahren hat sich aber auch herauskristallisiert,
dass das Risiko für Begleit- und Folgeerkrankungen erheblich variiert und
vor allem vom Fettverteilungsmuster bestimmt wird. Etwa ein Viertel aller
Personen mit einem BMI ≥30 kg/m2 weist keine metabolischen oder kardiovaskulären Störungen auf, sodass eine erhebliche Heterogenität besteht.
Besonders alarmierend ist derzeit der rasche Anstieg von Jugendlichen
und Erwachsenen mit einem BMI ≥35 kg/m2. Davon sind derzeit schätzungsweise rund 5 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Diese Personen tragen ein hohes Risiko für Folgeerkrankungen, die nicht nur die Lebensqualität beeinträchtigen, sondern auch das Leben verkürzen. Gerade für
diese Personengruppe wurde überzeugend nachgewiesen, dass sie deutlich
von Therapiemaßnahmen profitieren. Auch für Menschen mit dieser
„schweren“ Form der Adipositas gibt es in Deutschland keinen Anspruch auf
Therapieleistungen und demzufolge ist das Angebot an geeigneten Therapien
sehr begrenzt. Das Spektrum reicht von multidisziplinären konservativen
Gewichtsreduktionsprogrammen bis zu Verfahren der bariatrischen Chirurgie. Klare Regeln für eine Kostenerstattung existieren bisher nicht, sodass erheblicher Handlungsbedarf besteht, um dieser unterschätzten Herausforderung zu begegnen.
Im Zweifel für den Übergewichtigen?
Die rechtliche Sichtweise
Prof. Wolfgang Voit
Philipps-Universität Marburg, Forschungsstelle für Lebensmittelrecht, Universitätsstraße 6, 35032 Marburg, E-Mail: [email protected]
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
1. Die Ablehnung von Leistungen mit dem Argument eines selbst herbeigeführten oder selbst zu vermeidenden Zustands des Übergewichts findet
sich in Entscheidungen der letzten Jahre nicht.
2. Die Adipositas wird in der GKV auch dann als Krankheit eingestuft,
wenn sie zu keiner Folgeerkrankung geführt hat. Dagegen wird bei anderen körperlichen Abweichungen an der Funktionsbeeinträchtigung als
Voraussetzung einer Krankheit festgehalten.
3. Die Frage, ob operative Maßnahmen erst angezeigt sind, wenn andere
Maßnahmen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erfolglos versucht wurden, ist aus medizinischer Sicht zu beantworten. Werden
die ärztlichen Leitlinien mit Rücksicht auf die geringe Fähigkeit zur
Selbstregulierung des Gewichts in diesem Punkt gelockert, wird das Leistungsrecht der GKV dem folgen. Steht eine aus medizinischer Sicht vorrangige Behandlungsform den gesetzlich Versicherten schwer Adipösen
nicht zur Verfügung, so dürfen sie nicht auf diese verwiesen werden.
Diskriminierungsschutz
1. Auf die Adipositas ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nach derzeitigem Stand nicht anwendbar, weil es an einer Behinderung fehlt. Zugleich wird die Adipositas bei einem BMI von mehr als 35 kg/m2 als Risikofaktor angesehen, der z.B. der Begründung eines Beamtenverhältnisses
entgegen steht.
2. In der Rechtsprechung finden sich Beispiele für eine Diskriminierung
Adipöser. So wurde die Ablehnung der Zuteilung einer Parkplakette an eine Person, die wegen eines Wirbelsäulenschadens nur schwer aus dem
PKW aussteigen kann, damit begründet, dass andernfalls auch Adipöse
eine solche Plakette beanspruchen könnten und dann das Angebot an
Parkplätzen für Schwerbehinderte nicht mehr ausreiche.
3. Der verfassungsrechtliche allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ist
nicht in der Lage, einer Diskriminierung Adipöser effektiv entgegenzuwirken, weil er ebenfalls an den Begriff der Behinderung angelehnt wird.
4. Ernährungskampagnen gegen Übergewicht können den Eindruck eines
selbst-verantworteten Zustands verstärken und so eine latent vorhandene
Diskriminierung rechtfertigen.
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Strategien für die Zukunft aus Sicht der GKV?
Dr. Rüdiger Meierjürgen
BARMER GEK, Lichtscheider Straße 100, 42285 Wuppertal, E-Mail:
[email protected]
Übergewicht und Adipositas werden zu den wichtigsten weltweiten Gesundheitsproblemen gezählt. Ihre Bekämpfung stellt eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe dar, die weit über die Institutionen des Gesundheitswesens hinausweist.
In den vergangenen Jahren sind in Deutschland von den verschiedenen
Akteuren eine Vielzahl von Projekten und Programmen zur Adipositasprävention und -therapie entwickelt und durchgeführt worden. Die Bandbreite
der Aktivitäten der gesetzlichen Krankenkassen reicht von bevölkerungsbezogenen Gesundheitskampagnen und Aufklärungsaktionen, primärpräventiven Maßnahmen der Verhaltensprävention in Form von Ernährungskursen
und -beratungen, settingbezogenen Interventionen in Kitas, Schulen und Betrieben bis hin zu Patientenschulungen für Menschen mit Adipositas.
Die Ergebnisse von Prävention und Gesundheitsförderung sind jedoch
insgesamt ernüchternd. Bislang konnten keine durchschlagenden Erfolge in
der Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas erzielt werden.
Wesentliche Determinanten von Übergewicht und Adipositas liegen außerhalb des Einflussbereichs der Gesundheitspolitik und -versorgung. Nachhaltige Erfolge in der Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas dürften
nur über ein ressortübergreifendes und konzertiertes Zusammenwirken der
verschiedenen Akteure aus Politik, Wissenschaft, Gesundheitswesen und Zivilgesellschaft gelingen. Prävention muss dabei verstärkt die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Übergewicht und Adipositas in den Blick
nehmen. Gefordert ist ein intelligenter „Policy-mix“, sich komplementär ergänzender, wirksamer verhältnis- und verhaltensbezogener Interventionen.
Stigmatisierung und Diskriminierung –
Ein Problem unserer Zeit?
Prof. Anja Hilbert
Universität Leipzig, Universitätsmedizin Leipzig, Forschungsbereich Verhaltensmedizin, IFB AdipositasErkrankungen, Philipp-Rosenthal-Straße 27, 04103 Leipzig,
E-Mail: [email protected]
Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung erfahren adipöse
Menschen in vielen verschiedenen Lebensbereichen, z.B. in persönlichen Beziehungen, in der Schule, am Arbeitsplatz und auch im Gesundheitswesen.
Bereits im Vorschulalter werden „dicke Kinder“ ausgeschlossen und gehänselt, im Jugend- und Erwachsenenalter gelten Übergewichtige als wenig attraktiv und haben Nachteile bei der Partnerwahl. Zusätzlich kommt es zu Benachteiligungen durch Lehrer oder Arbeitgeber. Im Alltag stellen zu enge Sitze in Verkehrsmitteln oder öffentlichen Räumen häufig Hindernisse dar. In
den Medien werden adipöse Menschen häufig stereotyp dargestellt, und vielfach wird der Eindruck erweckt, dass Abnehmen nur eine Frage des Willens
sei. Besorgniserregend ist, dass Stigmatisierung und Diskriminierung über
die letzten Jahre und Jahrzehnte hinweg stetig zugenommen haben. Allein in
den USA stieg die Prävalenz gewichtsbezogener Diskriminierung in den letzten zehn Jahren um 66%.
Dabei lassen Stigmatisierung und Diskriminierung die Seele nicht unberührt. So zeigen adipöse Patienten umso mehr psychische Auffälligkeiten,
darunter Depressionen, Ängste und Essstörungseinstellungen, je mehr sie gewichtsbezogene Diskriminierung erlebt haben. Gewichtsbezogene Hänseleien im Kindes- und Jugendalter sagen sogar einen geringeren Selbstwert, eine
größere Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Essanfälle und Diätverhalten, eine beeinträchtigte Lebensqualität und auch depressive Symptome
bis hin zu Suizidgedanken vorher.
Nur wenige Forschungsbefunde liegen zur Stigmareduktion vor. Erste
Evidenz zeigt, dass kombinierte Interventionen, darunter edukative Interventionen, die über unkontrollierbare Ursachen von Adipositas aufklären, sowie
Interventionen, bei denen soziale Meinungsführer eine Rolle spielen, beson-
ders geeignet zur Reduktion gewichtsbezogener Vorurteile sind. Zudem erscheint die Reduktion des Selbststigmas bei adipösen Patienten selbst von
vordringlicher Bedeutung.
Sozialer Stress und Adipositas – Ein messbares Phänomen?
Dr. Simone Weyers
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsklinikum Düsseldorf, Institut für
Medizinische Soziologie, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, E-Mail:
[email protected]
Chronischer Stress steht im Zusammenhang mit einer Reihe von Erkrankungen wie etwa Herz-Kreislauferkrankungen. Es stellt sich die Frage, inwiefern
derartige Belastungen auch das Risiko für Übergewicht erhöhen können. Im
Vortrag werden Zusammenhänge am Beispiel von Arbeitsstress erläutert.
Thematisiert werden sowohl theoretische Annahmen als auch Möglichkeiten
der Messung. Ergänzt wird diese Betrachtung durch aktuelle Studienergebnisse aus epidemiologischen Studien.
Im Wesentlichen könnte chronischer Stress über zwei Mechanismen das
Körpergewicht beeinflussen. Stresserleben kann erstens zu ungünstigem Gesundheitsverhalten wie Fehlernährung und körperlicher Inaktivität führen.
Zweitens können die Stresshormone das Körpergewicht über Stoffwechselprozesse beeinflussen.
Um diese Mechanismen empirisch zu überprüfen, bietet es sich an, auf
etablierte Instrumente zur Messung von Stress im Berufsleben zurück zu
greifen. Die Arbeitsstressforschung hat in der Vergangenheit valide Konzepte
zur Erfassung von Stress vorgelegt, die in großen Studien eingesetzt werden
können. Hier konzentrieren wir uns auf das Modell beruflicher Gratifikationskrisen und das Anforderungs-Kontroll-Modell, die beide mit zahlreichen
Erkrankungen in Verbindung stehen.
Nachdem lange Zeit belastbare Ergebnisse fehlten, gibt es inzwischen Daten aus verschiedenen Studien. Diese sind kürzlich zu einem Studienkonsortium zusammengeschlossen worden, welches die Betrachtung von Zusammenhängen für eine große Zahl von Beschäftigten aus zahlreichen Europäischen Ländern ermöglicht. Hierbei zeigt sich, dass Arbeitsstress sowohl mit
Unter- als auch mit Übergewicht assoziiert ist, wobei die Stärke des Zusammenhangs eher moderat ist. Darüber hinaus müssen differenzierte Analysen
durchgeführt werden, in denen weitere Einflussfaktoren, wie Lebensstil oder
Geschlecht, untersucht werden.
Prävention im Streit gesellschaftlicher Interessen:
Was ist möglich und was ist erfolgreich?
Prof. Manfred J. Müller
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Düsternbrooker Weg 17, 24105 Kiel
E-Mail: [email protected]
Die EU-Kommission und führende Public-Health-Organisationen fordern,
die Prävention von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter auf eine breite
gesellschaftliche Basis zu stellen und alle Akteure (Stakeholder) mit einzubeziehen. Die Prävention von Übergewicht steht aber in Konkurrenz zu anderen (z.B. den am Profit orientierten) gesellschaftlichen Interessen. In der bisher größten Stakeholder-Befragung in Deutschland wurden insgesamt 356
Stakeholder angeschrieben, von denen 164 an der Studie des Kompetenznetzes Adipositas teilnahmen.
Teilnehmer waren Institutionen, Vereine, Berufsgruppen und -verbände,
Institutionen aus dem „Non-Food-Sektor“, politische Entscheidungsträger,
die Lebensmittelindustrie und Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung.
Die Einladung zu der Befragung wurde abgelehnt von 100% der angeschriebenen Medien, 82,9% der Lebensmittelindustrie, 81,8% der Gemeinschaftsverpflegung, 67,9% der politischen Entscheidungsträger, 61,8% der Vereine
und Interessengruppen, 41,2% der Organisationen und Institutionen, 35,9%
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der Berufsgruppen und -verbände und 32,3% der Institutionen aus dem
„Non-Food-Sektor“.
Von 40–60% der Teilnehmer wurden Maßnahmen der Information und
Verhaltensprävention befürwortet, während die Verhältnisprävention oder
auch strukturelle Veränderungen von nur 15–34% der Befragten vorgeschlagen wurden. Die Prävention von Übergewicht in Kindertagesstätten wurde
sowohl im Hinblick auf Wirksamkeit als auch auf Machbarkeit, Akzeptanz
und das Kosten-Nutzen-Verhältnis am höchsten bewertet. Demgegenüber
wurden Präventionsmaßnahmen in Schulen, während der Schwangerschaft
oder auch kommunale Maßnahmen der Gesundheitsförderung im Hinblick
auf Wirksamkeit, Machbarkeit, Akzeptanz und Kosten-Nutzen-Verhältnis
unterschiedlich eingeschätzt.
Die Untersuchung zeigt, dass sich heute noch nicht alle Stakeholder in
Deutschland ausreichend mit dem Problem Übergewicht bei Kindern und
Jugendlichen auseinandergesetzt haben, die hohe Ablehnung aus den Bereichen „Medien“ und „Lebensmittelindustrie“ erscheint bedenklich. Grundsätzlich besteht aber Akzeptanz für eine gesellschaftliche Verantwortung im
Kampf gegen das Übergewicht. Im Vergleich verschiedener Strategien werden „frühe“ und verhaltensbezogene Maßnahmen bevorzugt. Der mehrheitlichen Einschätzung der Stakeholder stehen allerdings die Erkenntnisse der
Wissenschaft entgegen, welche gegen „frühe“ Maßnahmen in Kindertagesstätten und deren Wirksamkeit sprechen. Diese Diskrepanz weist auf ein anderes Problem: Eine Gesellschaft, die viel Geld in Forschung investiert, sollte
auch bereit sein, sich mit deren Ergebnissen auseinanderzusetzen.
Lebensmittelwerbung und Körpergewicht von Kindern
Gesundheitstrends – Potenziale der Medien
Prof. Jutta Roosen
Technische Universität München, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, Marketing und Konsumforschung, Alte Akademie 16, 85354 Freising-Weihenstephan,
E-Mail: [email protected]
Dorle Grünewald-Funk
gru:newald-funk consult, Hochwaldsteig 2, 14089 Berlin
E-Mail: [email protected]
Gesundheit ist der Megatrend der Zukunft, sagen uns die Zukunftsforscher.
Die Zukunft hat schon begonnen, sagt uns der Blick ins TV-Programm, auf
Zeitschriftencover oder in die Wochenendbeilagen von Tageszeitungen. Auf
Schlagzeilen wie „Die 100 besten Lebensmittel für die Gesundheit“, „Süße
Werbung, dicke Folgen“ oder „Die Fett-Lüge“ treffen wir nahezu täglich. Gesundheit, Ernährung, Übergewicht und Diäten sind gleichermaßen interessante Themen für die Leser oder Zuschauer: Kein Wunder also, dass sie für
Journalisten Garanten für Quote und Aufmerksamkeit sind.
Aufmerksamkeit für ihre Botschaften in den Medien braucht auch die
Wissenschaft, die sich mit der Prävention von Adipositas beschäftigt. Gezielte Gesundheitsaufklärung über die Medien misslingt in vielen Fällen. Es geht
sogar soweit, dass Kritiker meinen, es sei „naiv anzunehmen, allein durch
Gesundheitsaufklärung über Medien könne man millionenfach Raucher
zum nachhaltigen Nicht-Rauchen animieren“ (Göpfert, 2001). Dies gilt ebenso für das Thema Übergewicht und nachhaltiges „Diät halten“! Bisherige
Adipositas-Präventionskampagnen gelten als erfolglos – lag es an den Kampagnen, lag es an den Medien oder lag es an einer falschen Erwartungshaltung?
Vorgestellt werden folgende Thesen:
• These I – Medien haben Potenzial, aber das Potenzial hat Grenzen.
• These II – Medien sind wichtige Partner für die Prävention von Adipositas.
• These III – Medien können markante gesellschaftspolitische Impulse setzen.
Dr. Tobias Effertz
Universität Hamburg, Institut für Recht und Wirtschaft, Max-Brauer-Allee 60,
22765 Hamburg, E-Mail: [email protected]
Übergewicht und Adipositas sind ein stetig wachsendes Problem bei Kindern
und Jugendlichen in Deutschland, das mit hohen gesundheitlichen, ökonomischen und psychosozialen Kosten verbunden ist. Ein adipöses Kind ist mit
hoher Wahrscheinlichkeit auch im Erwachsenenalter fettleibig und weist eine
höhere Morbidität und Mortalität gegenüber Normalgewichtigen auf.
Ein Grund für dieses Problem ist die Werbung für ungesunde Lebensmittel. Diese richtet sich gezielt an Kinder, zum einen dadurch, dass sie dort erfolgt, wo Kinder sind. Zweitens benutzt die Lebensmittelwerbung Designelemente und Inhalte, die Kinder besonders ansprechen und diese das Produkt
noch bedenkenloser nachfragen lassen. Dadurch, dass sich Werbung direkt
an Kinder richtet und Marketingbudgets nicht selten Milliarden Euro stark
sind, wird es für Eltern und Lehrer schwierig, korrigierend erzieherisch auf
Kinder einzuwirken.
Als Konsequenz muss daher ein Verbot von an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung gesetzlich verankert werden. Nur so kann eine vernünftige Balance zwischen Umwelt, Kind und Eltern wieder hergestellt und ein
ökonomisch sinnvolles Funktionieren der Lebensmittelmärkte sichergestellt
werden.
Sinn und Unsinn einer Fettsteuer
Eine Fettsteuer wird als Ansatzpunkt gesehen, Adipositas als gesellschaftliches Problem zu bekämpfen. Neben einer Besteuerung der Fette in Nahrungsmitteln werden gleichzeitig alternative fiskalische Ansätze diskutiert.
Dazu gehört die Besteuerung von zuckerhaltigen Erfrischungsgetränken
(Cola, Limonaden etc.), hochkalorischem Junk Food oder die Subventionierung von Lebensmitteln wie Obst und Gemüse, die für die gesunde Ernährung als besonders wichtig gelten. Wie jede diskriminatorische Steuer hat
auch die Fettsteuer zwei unterschiedliche Zielsetzungen, die mal mehr oder
weniger in den Vordergrund rücken: (1) Die Veränderung des Ernährungsverhaltens. (2) Die Erzeugung von zusätzlichen Einnahmen für die öffentlichen Haushalte.
Ökonomische Analysen zeigen, dass die Fettsteuer, wie sie derzeit in Dänemark praktiziert wird, auf Verbraucherebene wenig Wirkung zeigt. Dies
liegt insbesondere daran, dass die Nachfrage nach Lebensmitteln nur geringfügig auf Preisänderungen reagiert. Somit sind signifikante Preisaufschläge
notwendig, um eine direkte Veränderung des Verbraucherverhaltens zu erzeugen.
Allerdings müssen auch die indirekten Wirkungen einer Steuer berücksichtigt werden. So wird die Wirkung auf die Rezepturen von verarbeiteten
Lebensmitteln diskutiert. Während Rohstoffkosten einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Lebensmittel haben, ist es relativ schwierig die komplizierten Zusammenhänge zwischen Nährstoffen und sensorischen Eigenschaften der Lebensmittel voll zu berücksichtigen, die Unternehmen letztendlich dazu bringen, die Zusammensetzung ihrer Produkte zu verändern.
Ebenfalls wird die indirekte Wirkung einer Fettsteuer im Budget der Verbraucher diskutiert. Da Haushalte mit geringem Einkommen einen größeren
Teil ihres Budgets für Lebensmittel ausgeben als Haushalte mit höherem Einkommen, sind Niedrigeinkommensbezieher besonders stark von Steuern auf
Nahrungsmitteln betroffen. Aufgrund des positiven Zusammenhangs zwischen Einkommen und Gesundheit besteht somit die Kritik, dass Haushalte
mit geringem Einkommen weniger Geld für andere Aspekte eines gesunden
Lebensstils zur Verfügung haben werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass
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Fettsteuern nur ein Instrument für die Bekämpfung der Adipositasprävalenz
sein können. Bildung und die Nährwertkennzeichnung sind ebenso von Bedeutung wie Ansätze der Verhältnisprävention.
„Erfolgreiche“ Prävention am Beispiel Rauchen:
Was können wir lernen?
Dr. Jens Ried
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Systematische
Theologie II (Ethik), Kochstraße 6, 91054 Erlangen
E-Mail: [email protected]
Die Prävention der Adipositas gilt seit Jahren als eine der wichtigsten Prioritäten auf dem Public Health-Sektor. Dessen ungeachtet mangelt es seit ebenso langer Zeit an gesundheitspolitischen und medizinischen Strategien, der
Verbreitung erhöhten Körpergewichtes und seiner assoziierten Gesundheitsrisiken und Ko-Morbiditäten wirksam begegnen zu können. Gleichzeitig
konnten in der Prävention des Tabakkonsums bemerkenswerte Erfolge erzielt werden, die die Frage aufwerfen, inwieweit daraus Schlussfolgerungen
für Maßnahmen und Programme zur Adipositasprävention gezogen werden
können.
Ausgehend von den Parallelen und Unterschieden zwischen diesen beiden skizzierten Handlungsfeldern wird in diesem Vortrag diskutiert, mit welchen Kriterien die „Effektivität“ von Prävention zu bestimmen ist und welche
Konsequenzen aus einer vergleichenden Betrachtung für zukünftige Strategien zur Prävention der Adipositas gezogen werden können.
Wie reagieren unsere Nachbarländer?
Adipositasprävention am Beispiel der Niederlande
Dr. Tommy L.S. Visscher
Research Centre for the Prevention of Overweight und VU University Windesheim,
Niederlande, E-Mail: [email protected]
Die Niederländer übernehmen inzwischen EPODE1-ähnliche Strategien für
einen landesweiten Kommunen-gestützten Präventionsansatz. Erfolgreiche
Elemente sind
• politisches Engagement
• social marketing
• öffentlich-private Partnerschaften und
• die Beteiligung der Forschung.
Ein wichtiger Aspekt des niederländischen Ansatzes ist die Idee, dass der Fokus der Prävention mit Aufmerksamkeit für diejenigen einhergehen sollte,
die bereits übergewichtig oder adipös sind. Der niederländische JOGG2-Ansatz hat den EPODE-Ansatz um ein Element erweitert, das die Verknüpfung
von Prävention und Management sicherstellen soll. Der Vortrag wird verdeutlichen, was mit Prävention in Managementstrategien gemeint ist, welche
Elemente als wichtig erachtet werden, und wie Forschung bei der Verknüpfung von Präventions- und Managementstrategien behilflich sein kann.
1
2
EPODE steht für ’Ensemble Prévenons l’Obésité Des Enfants’ (Together Let’s
Prevent Childhood Obesity)
JOGG steht für ’Jongeren Op Gezond Gewicht’ (Youth in a healthy weight)
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