Comer01-02.qxd 13.08.2008 15:16 Uhr Seite 1 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart Themenüberblick • Was ist psychisch normal und was nicht? – Schwierigkeiten bei der Definition psychischer Störungen • Was ist Behandlung? • Prävalenz psychischer Störungen • Frühere Ansichten und Behandlungsweisen – Prähistorische Ansichten und Behandlungsweisen – Griechische und römische Ansichten und Behandlungsweisen – Europa im Mittelalter: Die Dämonenlehre kehrt zurück – Die Renaissance und das Aufkommen der Irrenhäuser – Das 19. Jahrhundert: Reform und moralische Behandlung – Das frühe 20. Jahrhundert: Somatogene und psychogene Sichtweisen • Aktuelle Entwicklungen – Therapeutische Versorgung schwerer psychischer Störungen Psychische Störungen überschreiten alle Grenzen – kulturelle, ökonomische, emotionale und intellektuelle. Sie treffen berühmte und unbekannte Menschen, reiche und arme. Politiker, Schauspieler, Schriftsteller und andere Idole der Gegenwart und der Vergangenheit hatten mit psychischen Störungen zu kämpfen (Exkurs 1.1). Weil psychische Probleme so verbreitet sind, wecken sie unser aller Interesse. Hunderte von Romanen, Theaterstücken, Filmen und Fernsehsendungen haben sich damit beschäftigt, und Selbsthilfebücher überschwemmen den Markt; sie erteilen Ratschläge, wie man mit – Therapeutische Dienste für weniger schwere psychische Störungen – Zunehmende Bedeutung der Prävention von Störungen und der Förderung psychischer Gesundheit – Aktuelle führende Theorien und Repräsentanten der Versorgung Problemen wie Esssucht, Sexualstörungen und Beziehungsschwierigkeiten fertig wird. Das Fachgebiet, das sich mit der wissenschaftlichen Erforschung gestörten Verhaltens beschäftigt, heißt klinische Psychologie. Wie bei jeder Wissenschaft sammeln klinische Psychologen systematisch Informationen zur Beschreibung, Vorhersage und Erklärung der Phänomene, die sie untersuchen. Das so erworbene Wissen wird von klinischen Praktikern, Psychotherapeuten, bei der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen angewendet. Comer01-02.qxd 1 13.08.2008 2 15:16 Uhr Seite 2 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart Exkurs 1.1 Berühmte Menschen, die an psychischen Störungen litten Viele bekannte Gestalten der Geschichte litten an psychischen Störungen. Oft versuchen Kliniker anhand der schriftlichen Aufzeichnungen über das Verhalten dieser Menschen herauszufinden, welche Probleme sie wohl gehabt haben mochten. In jüngster Zeit haben sich einige Prominente entschlossen, der Öffentlichkeit ihren Kampf mit einer psychischen Störung zu enthüllen. Es folgen einige bekannte Menschen, die an psychischen Störungen litten. Angststörungen John Keats, Dichter Howard Hughes, Erfinder, Unternehmer Emily Dickinson, Dichterin Victoria, Königin von England Mary Baker Eddy, Gründerin der Christian Science Samuel Johnson, Lexikograf, Schriftsteller Depressive Störungen Arthur Schopenhauer, Philosoph Frédéric Chopin, Komponist John Stuart Mill, Philosoph, Ökonom Graham Greene, Schriftsteller Thomas Wolfe, Schriftsteller F. Scott Fitzgerald, Schriftsteller Dylan Thomas, Dichter Sylvia Plath, Dichterin Clara Barton, Philanthropin, Gründerin des Roten Kreuzes Marilyn Monroe, Schauspielerin Rod Steiger, Schauspieler Manisch-depressive Störungen Saul, König von Israel (11. Jahrhundert vor Christus) Abraham Lincoln, US-Präsident Virginia Woolf, Schriftstellerin Theodore Roosevelt, US-Präsident Robert Lowell, Dichter Was ist psychisch normal und was nicht? q Miriam weint sich jede Nacht in den Schlaf. Sie ist sicher, dass die Zukunft nichts als Elend birgt. Und das ist das Einzige überhaupt, dessen sie sich sicher ist. „Ich werde sterben, und meine Töchter auch. Wir sind verloren. Die Welt ist scheußlich. Ich verabscheue jeden Augenblick des Lebens.“ Sie hat große Schwierigkeiten mit dem Schlafen. Sie hat Winston Churchill, britischer Premierminister Ernest Hemingway, Schriftsteller Georg Friedrich Händel, Komponist Robert Schumann, Komponist James Joyce, Schriftsteller Störungen mit Realitätsverlust Jean-Jacques Rousseau, Philosoph Vincent Van Gogh, Künstler Waslaw Nijinski, Tänzer Georg III., König von England Störungen durch Abhängigkeit von Alkohol und anderen Substanzen Kambyses, König von Persien (6. Jahrhundert vor Christus) Samuel Taylor Coleridge, Dichter François Rabelais, Schriftsteller Elvis Presley, Sänger Robert Burns, Dichter John Belushi, Komiker Lord Byron, Dichter Judy Garland, Sängerin Edgar Allan Poe, Schriftsteller, Dichter Truman Capote, Schriftsteller Thomas De Quincey, Schriftsteller Jim Morrison, Musiker Betty Ford, US-First-Lady Tennessee Williams, Dramatiker Essstörungen Karen Carpenter, Sängerin Elisabeth I., Königin von England Andere Störungen Woody Guthrie, Sänger, Songschreiber: Chorea Huntington Al Capone, Gangster: progressive Paralyse, Syphilis Rita Hayworth, Schauspielerin: Alzheimer-Krankheit Angst, die Augen zu schließen, Angst, nie wieder aufzuwachen, Angst wegen allem, das ihren Töchtern geschehen könnte. Wenn sie dann doch einschläft, quälen sie Albträume voller Blut, verstümmelter Körper, Donner, Zerfall, Tod und Zerstörung. Eines Morgens kann Miriam kaum aufstehen. Der Gedanke, wieder einen Tag durchstehen zu müssen, überwältigt sie. Wieder wünscht sie sich, tot zu sein, und auch, dass ihre Töchter tot wären. „Dann wären wir alle besser dran.“ Sie fühlt sich von ihrer Depression und Angst wie gelähmt, zu müde, um sich zu rühren, und zu ängstlich, um das Haus zu verlassen. Wieder beschließt sie, zu Hause zu bleiben und ihre Töchter dazubehalten. Sie vergewissert Comer01-02.qxd 13.08.2008 15:16 Uhr Seite 3 Was ist psychisch normal und was nicht? sich, dass alle Jalousien heruntergelassen sind und jeder mögliche Weg ins Haus gesichert ist. Sie hat Angst vor der Welt und vor dem Leben. Jeder Tag ist gleich – nur Verzweiflung, Angst, Unbeweglichkeit und Rückzug. Jeder Tag ist ein Albtraum. q Seit letztem Jahr hört Brad rätselhafte Stimmen, die ihm befehlen, seine Arbeit aufzugeben, seine Familie zu verlassen und sich auf die bevorstehende Invasion vorzubereiten. Diese Stimmen haben tief greifende Verwirrung und emotionalen Aufruhr in Brads Leben gebracht. Er glaubt, dass die Stimmen von Wesen in weit entfernten Regionen des Universums stammen, die irgendwie mit ihm in Verbindung stehen. Zwar fühlt er sich in gewisser Weise wertvoll und besonders, weil sie ihn zum Empfänger ihrer Botschaften erwählt haben, doch er empfindet auch Spannung und Angst. Er fürchtet sich vor der drohenden Invasion. Wenn er sich einer Anordnung widersetzt, schmähen und bedrohen ihn die Stimmen und machen ihm den Tag zu einem Albtraum im Wachen. Brad hat sich selbst strenge Diät verordnet, um zu vermeiden, dass seine Feinde sein Essen vergiften. Er hat eine ruhige Wohnung gefunden, weit entfernt von seinen alten Schlupfwinkeln, wo er sich einen umfangreichen Waffenund Munitionsvorrat angelegt hat. Seine Familie und Freunde haben versucht, an Brad heranzukommen, seine Probleme zu verstehen und ihn von seinem beunruhigenden Tun abzubringen. Doch er zieht sich mit jedem Tag mehr in seine Welt der geheimnisvollen Stimmen und eingebildeten Gefahren zurück. Miriam und Brad entsprechen den Menschen, an die wir denken, wenn die Rede auf gestörtes Verhalten kommt. Ihre Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen würden die meisten von uns als psychisch gestört oder auch psychopathologisch, fehlangepasst, emotional gestört oder geisteskrank bezeichnen. Aber sind Miriam und Brad psychisch gestört? Und wenn ja, warum? Was an ihren Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen könnte uns zu dieser Schlussfolgerung veranlassen? Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Definitionen für gestörtes Erleben und Verhalten vorgeschlagen, keine jedoch hat sich allgemein durchgesetzt (Maddux & Winstead 2005). Doch die meisten Definitionen haben gemeinsame Merkmale: Devianz, Leidensdruck, Beeinträchtigung und Gefährdung. Als gestörte Erlebens- und Verhaltensmuster bezeichnen wir solche, die in einem bestimmten Kontext deviant oder abweichend sind – das heißt anders, extrem, ungewöhnlich, vielleicht sogar bizarr –, oder solche, die die jeweilige Person belasten oder ihr unangenehm sind – sie also unter Leidensdruck setzen –, oder Verhaltensmuster, die sie beeinträchtigen oder so störend oder dysfunktional werden, dass die betroffene Person alltägliche Handlun- 3 gen nicht mehr konstruktiv verrichten kann oder sich und andere möglicherweise sogar gefährdet. Schwierigkeiten bei der Definition psychischer Störungen Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass der Begriff „Störung“ selbst relativ ist, abhängig von den Normen und Werten einer Gesellschaft. Letztlich wählt jede Gesellschaft die allgemeinen Definitionskriterien und interpretiert sie dann, um danach in jedem Einzelfall zu beurteilen, ob etwas als „normal“ oder „gestört“ gilt. Der Psychiatrietheoretiker Thomas Szasz (1997) hält die Rolle der Gesellschaft für so wesentlich, dass er den Begriff der psychischen Störung oder „Geisteskrankheit“ überhaupt für unberechtigt hält, als eine Art von Mythos. Szasz zufolge sind die Abweichungen, die die Gesellschaft „nicht normal“ nennt, einfach nur „Lebensprobleme“ und keine Anzeichen einer inneren Störung der Person. Gesellschaften erfinden nach seiner Überzeugung den Begriff „Geisteskrankheit“, um damit ihre Versuche zur Kontrolle oder Änderung von Menschen zu rechtfertigen, deren ungewöhnliche Verhaltensmuster die soziale Ordnung bedrohen. Selbst wenn wir annehmen, dass „psychische Störung“ ein berechtigter Begriff ist und dass solche Störungen die Gesundheit beeinträchtigen, kann eine Gesellschaft Schwierigkeiten haben, sich über eine Definition zu einigen und sie konsistent anzuwenden. Wenn ein bestimmtes Verhalten – etwa übermäßiger Alkoholkonsum von Studenten – in einer Gesellschaft üblich ist, gelingt es dieser vielleicht nicht zu erkennen, dass das Verhalten oft ein Symptom einer Abweichung, eine Ursache von Leiden, höchst dysfunktional und gefährlich ist. In den USA sind Tausende von Studenten so stark alkoholabhängig, dass dies ihre persönliche Rollenerfüllung und ihre akademischen Leistungen stark beeinträchtigt, sie erheblich belastet, ihre Gesundheit gefährdet und häufig sie selbst und die Menschen ihrer Umgebung Gefahren aussetzt. Trotzdem wird ihr Problem oft nicht erkannt und mit Sicherheit nicht diagnostiziert – weder vom Lehrpersonal noch von anderen Studenten oder Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes. Alkoholkonsum gehört so sehr zur Universitätssubkultur, dass man ein Trinkverhalten, das von der Norm abweicht, leicht übersieht. Umgekehrt kann es einer Gesellschaft schwerfallen, eine interventionsbedürftige Störung von einer – unantastbaren – exzentrischen Persönlichkeit zu unterscheiden. Von Zeit zu Zeit erfahren wir von Menschen, die sich in einer für uns seltsamen Weise benehmen: bei- 1 Comer01-02.qxd 1 13.08.2008 4 15:16 Uhr Seite 4 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart spielsweise der Frau, die ein Dutzend Katzen in ihrer Wohnung hält, oder dem Mann, der allein lebt und kaum mit jemandem redet. Das Verhalten dieser Menschen ist deviant und kann durchaus leidvoll und beeinträchtigend sein; dennoch halten die meisten Fachleute derartige Neigungen eher für exzentrisch als für abnorm. Wann überschreitet ein ungewöhnliches Verhaltensmuster die Grenzlinie zwischen Exzentrizität und psychischer Störung? Wann ist es deviant, beeinträchtigend und dysfunktional genug, dass es als gestört gelten muss? Derartige Fragen sind schwierig zu beantworten. So problematisch sie auch sein mögen – es ist wichtig, diese Fragen im Auge zu behalten. Wir können uns zwar einig sein, dass gestörte Erlebens- und Verhaltensmuster unseren vier Kriterien – deviant, beinträchtigend, dysfunktional, gefährdend – entsprechen müssen, doch wir müssen uns der Uneindeutigkeit und Subjektivität dieser Kriterien bewusst sein. Ebenso sollten wir uns immer vor Augen halten, dass nur wenige der gegenwärtigen Kategorien psychischer Störungen so eindeutig definiert sind, wie es scheinen mag. Die meisten werden in der klinischen Gemeinschaft weiterhin diskutiert (APA 1994). Somit ist psychische Störung nicht als eigenes Krankheitsbild definierbar. Üblicherweise wird dieser Begriff für die spezifischen Störungen verwendet, für die es diagnostische Kriterien gibt. 3. Eine Reihe von Kontakten zwischen Therapeut und Leidendem, bei denen der Therapeut, manchmal mithilfe einer Gruppe, bestimmte Veränderungen in der Gefühlslage, den Haltungen und dem Verhalten des Leidenden zu bewirken versucht. Diese Definition scheint offensichtlich genug, dennoch sind sich Kliniker nicht darin einig, wie sie anzuwenden ist. Manche Kliniker erachten psychische Störungen als eine Krankheit und die Psychotherapie als ein Verfahren zur Heilung der Krankheit. Andere sehen psychische Störungen als ein Lebensproblem und Therapeuten als Lehrer angemesseneren Verhaltens und Denkens. Dementsprechend bezeichnen die Kliniker auch die Personen in Behandlung unterschiedlich: Diejenigen, die psychische Störungen als eine Krankheit erachten, sprechen von „Patienten“, während diejenigen, für die sie ein Lebensproblem darstellen, von „Klienten“ sprechen. Ungeachtet dieser Unterschiede sind sich die meisten Kliniker darin einig, dass eine große Anzahl von Personen die eine oder andere Behandlung benötigt. Es werden in der Folge Befunde der tatsächlichen Wirksamkeit der Psychotherapie dargestellt (Zarin et al. 2005; Chambless & Ollendick 2001). In ihren eigenen Worten Irresein Was ist Behandlung? Wenn Kliniker entschieden haben, dass eine Person tatsächlich an einer Form der psychischen Störung leidet, versuchen sie, sie zu behandeln. Behandlung oder Psychotherapie ist ein Vorgehen, das zum Ziel hat, das gestörte Verhalten in normales Verhalten zu wandeln; auch dieses Vorgehen bedarf der sorgfältigen Definition (Compas & Gotlib 2002). Für klinische Wissenschaftler ist dieses Problem eng mit der Definition der psychischen Störung verzahnt. Das Verhalten kann durch die Lebensumstände vielen Veränderungen ausgesetzt sein, die jedoch nicht als Behandlung oder Psychotherapie bezeichnet werden. Diese Begriffe sind an bestimmte Vorgehensweisen geknüpft, die erschaffen wurden, um Menschen mit psychischen Schwierigkeiten Hilfe zu leisten. Nach Jerome Frank (1973), einem klinischen Theoretiker, haben alle Formen der Psychotherapie drei wesentliche Kennzeichen: 1. Ein Leidender sucht Hilfe bei einem Therapeuten. 2. Ein ausgebildeter Therapeut, der als solcher von der Gesellschaft akzeptiert wird, wird vom Leidenden und seiner sozialen Gruppe angenommen. „Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Verrückten ist der, dass ich nicht verrückt bin.“ Salvador Dali „Geisteskrankheit: Dasselbe immer wieder machen und unterschiedliche Ergebnisse erwarten.“ Albert Einstein „Die Distanz zwischen Genie und Wahnsinn wird nur am Erfolg gemessen.“ James Bond in Tomorrow Never Dies „Eines der Symptome eines nahenden Nervenzusammenbruchs ist die Überzeugung, dass die eigene Arbeit schrecklich wichtig ist.“ Bertrand Russel Prävalenz psychischer Störungen Für die Bundesrepublik Deutschland stehen folgende, aus einer repräsentativen Stichprobe ermittelte Zahlen zur Verfügung (Jakobi et al. 2004): Die Zwölfmonatsprävalenz, die angibt, welcher Prozentsatz der unter- Comer01-02.qxd 13.08.2008 15:17 Uhr Seite 5 Prävalenz psychischer Störungen suchten Personen im letzten Jahr unter einer bestimmten Störung gelitten hat, lag für psychische Störungen allgemein bei 31,1 Prozent. Für Angststörungen betrug sie 14,5 Prozent, für affektive (depressive) Störungen 11,9 Prozent, für psychotische Störungen (einschließlich Schizophrenie) 2,6 Prozent und für den Missbrauch und die Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten und Drogen 4,5 Prozent. Bei elf Prozent der Untersuchten wurde eine somatoforme Störung (z. B. Schmerzstörung, Hypochondrie) diagnostiziert. Des Weiteren wurden 11 644 Sterbefälle infolge Selbsttötung und Selbstbeschädigung registriert (Statistisches Bundesamt 2000). In den Vereinigten Staaten leiden ebenfalls zu jeder Zeit bis zu 30 Prozent der Erwachsenen und 19 Prozent der Kinder und Jugendlichen an ernsthaften psychischen Störungen und bedürfen klinischer Behandlung (Kessler et al. 2005 2004; Narrow et al. 2002). Man schätzt, dass bis zu 18 von je 100 Erwachsenen eine ausgeprägte Angststörung haben, dass zehn an einer tiefen Depression leiden (siehe das anfängliche Beispiel von Miriam), fünf eine Persönlichkeitsstörung (unflexible und fehlangepasste Persönlichkeitsmerkmale, die zu starker Beeinträchtigung führen) zeigen, einer schizophren ist (für eine beträchtliche Zeitspanne die Beziehung zur Realität verliert – siehe das anfängliche Beispiel von Brad), einer die Gehirndegeneration der Alzheimer-Krankheit erleidet und elf Alkohol oder andere Drogen missbrauchen. Fügt man diesen Zahlen noch mindestens 600 000 Suizidversuche, 500 000 Vergewaltigungen und drei Millionen Fälle von Kindesmisshandlung jährlich in den Vereinigten Staaten hinzu, dann wird offensichtlich, dass psychische Störungen ein gewichtiges, sogar allumfassendes Problem unserer Gesellschaft sind. Die Prävalenzraten sind in anderen Ländern ähnlich hoch. Von diesen Störungen abgesehen, haben die meisten Menschen in verschiedenen Phasen ihres Lebens persönliche Schwierigkeiten und erleiden hohe Spannung, Demoralisierung oder andere Formen psychischer Beschwerden. In solchen Zeiten erfahren sie am eigenen Leib zumindest einen Eindruck von dem Leid, das mit psychischen Störungen verbunden ist. Angesichts solcher Zahlen könnte man zu dem Schluss neigen, irgendetwas in der heutigen Welt begünstigt emotionale Fehlanpassungen. Manche Beobachter vermuten, dass der rasche Wandel und der technische Fortschritt unserer Welt enormen Druck und emotionales Chaos mit sich bringen – dass die neueren Entwicklungen in Wissenschaft, Kommunikation und Wirtschaft riesige Probleme im Gefolge haben: die Gefahr eines Atomkrieges, ökonomische Instabilität und Unsicherheit der Arbeitsplätze. Andere behaupten, dass unserer Welt entscheidende Elemente fehlen, die Men- 5 schen gewöhnlich helfen, Belastungen des Lebens zu ertragen. Die Familie beispielsweise ist nicht mehr der verlässliche Hort, als der sie einst galt: Die Scheidungsrate steigt, und die erwachsenen Kinder ziehen heute weiter vom Heimatort ihrer Familien fort. Der soziale Halt durch religiöse Gruppen, Nachbarschaft und andere Unterstützungssysteme nimmt ständig ab und zwingt die Menschen dazu, allein in einer sich wandelnden, manchmal beängstigenden Welt zurechtzukommen. Zwar mögen die spezifischen Belastungen des modernen Lebens in der Tat zu psychischen Störungen beitragen, die Hauptursache scheinen sie jedoch kaum darzustellen. Alle Gesellschaften, vergangene und gegenwärtige, mussten sich mit psychischen Störungen auseinandersetzen. Manche, wie die Schizophrenie, treten mit derselben Häufigkeit in allen Gesellschaften auf. Andere, wie Angststörungen und Depression, sind zwar nicht überall gleich häufig (teilweise als Reflex auf gesellschaftliche Unterschiede), kommen aber dennoch in allen Gesellschaften vor. Durch den Wandel der Gesellschaft und die gründlichere Ausbildung von Praktikern in der primären Gesundheitsversorgung ist auch die Aufdeckungsrate von Angststörungen und Depression verbessert worden. Kurz, gestörtes Erleben und Verhalten sind, so sehr sie auch überhand nehmen mögen, kaum typisch nur für die moderne Welt. Der angemessene Ort, um mit unserer Untersuchung gestörten Verhaltens und dessen Behandlung zu beginnen, ist wohl die Vergangenheit. Wenn wir zurückblicken, verstehen wir vielleicht besser, was psychische Störungen eigentlich sind, welche ihrer Merkmale über die menschlichen Gesellschaften hinweg konstant bleiben und welche von Ort zu Ort und von einem Zeitpunkt zum anderen variieren, auf welche Weise jede Gesellschaft versucht (hat), solche Störungen zu verstehen und zu behandeln, und wie heutige Vorstellungen und Behandlungen mit vergangenen zusammenhängen. Ein Blick zurück macht deutlich, dass die einschlägigen Wissens- und Therapiefortschritte bei psychischen Störungen keine stetige Vorwärtsbewegung darstellen. Viele der Mängel und strittigen Punkte, die das klinische Fachgebiet heute kennzeichnen, gleichen sogar denen der Vergangenheit. Zugleich kann uns der Rückblick helfen, die volle Bedeutung der jüngsten Entwicklungen und Erfolge zu erkennen, ebenso aber auch die Wichtigkeit des Weges, der noch vor uns liegt. 1 Comer01-02.qxd 1 13.08.2008 6 15:17 Uhr Seite 6 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart Frühere Ansichten und Behandlungsweisen Prähistorische Ansichten und Behandlungsweisen Den Großteil unserer Kenntnisse über prähistorische Gesellschaften haben wir indirekt erlangt; sie beruhen auf Schlussfolgerungen aus archäologischen Funden. Aus der Untersuchung der ausgegrabenen Knochen, Kunstgegenstände, Artefakte und anderer Überreste dieser Gesellschaften wird der Versuch gemacht, Hinweise auf ihre Sitten und Gebräuche, ihre Glaubensvorstellungen und ihren Alltag zu gewinnen. Solche Schlussfolgerungen sind jedoch immer vorläufig und der Revision durch neue Funde ausgesetzt. So verfügen wir nur über ein begrenztes Wissen darüber, wie prähistorische Gesellschaften mit psychisch gestörten Menschen umgingen. Gestörtes Verhalten wurde demnach als das Werk böser Geister betrachtet. Die Menschen dieser frühen Gesellschaften erklärten sich die Phänomene in und um sich mit den Handlungen magischer, manchmal unheilvoller Wesen, die die Welt gestalteten und beherrschten. Insbesondere der menschliche Körper und der menschliche Geist galten in diesen frühen Völkern als Kampfstätte äußerer Kräfte, und sie glaubten, dass das Verhalten, ob normal oder nicht, auf den Ausgang der Kämpfe zwischen guten und bösen Geistern oder Göttern zurückginge. Häufig interpretierten sie gestörtes Verhalten als einen Sieg böser Geister, und die Heilung von diesem Verhalten bestand darin, die Geister aus dem Körper des Betroffenen auszutreiben. Diese übernatürliche Erklärung gestörten Verhaltens reicht möglicherweise bis in die Steinzeit vor einer halben Million Jahre zurück. Einige bei Ausgrabungen in Europa und Südamerika gefundene Schädel aus dieser Zeit zeigen die Spuren einer als Trepanation bezeichneten Operation (Abbildung rechts). Dabei wurde mit einem steinernen Bohrinstrument, dem Trepan, ein kreisförmiges Stück des Schädels ausgeschnitten. Manche Historiker vermuten, dass diese Operation gegen schwer gestörtes Verhalten angewandt wurde – entweder „halluzinatorische“ Erlebnisse, bei denen die Menschen nicht vorhandene Dinge sahen oder hörten, oder „melancholische“ Reaktionen, gekennzeichnet durch extreme Trauer und Bewegungslosigkeit – und dass die Schädelöffnung dem Zweck diente, die bösen Geister entweichen zu lassen, die vermeintlich das Problem verursachten (Selling 1940). Böse Geister austreiben Manche Schädel aus der Steinzeit tragen die Spuren einer Trepanation, die möglicherweise den Zweck hatte, böse Geister herauszulassen und damit psychische Störungen zu heilen. Anzeichen von Knochenwachstum um die beiden Löcher in diesem Schädel weisen darauf hin, dass der Patient zwei Trepanationen überlebt hat. In jüngster Zeit haben andere Historiker Zweifel an dieser Interpretation der Trepanation angemeldet und vermutet, dass das Verfahren dazu gedient haben könnte, Knochensplitter oder Blutergüsse zu entfernen, die die Steinwaffen bei Stammeskriegen verursachten (Maher & Maher 1985). In jedem Fall bezeugen die verheilten Ränder häufig das Überleben der Patienten. Andere archäologische Funde belegen eindeutig, dass gestörtes Verhalten mit Besessenheit durch Dämonen erklärt wurde. Frühe Schriften der Ägypter, Chinesen und Hebräer beispielsweise führen psychische Störungen auf Einflüsse böser Geister oder Dämonen zurück. Diese Ansicht findet sich auch häufig in der Bibel, die etwa beschreibt, dass ein vom Herrn gesandter böser Geist König Saul befiel und dass David Wahnsinn vortäuschte, um seine Feinde davon zu überzeugen, dass er von göttlichen Kräften beseelt sei. In diesen frühen Gesellschaften war der Exorzismus (Exkurs 1.2) ein durchaus übliches Verfahren zur Behandlung von gestörtem Verhalten. Er sollte die bösen Geister aus dem Körper des Betroffenen austreiben oder ihn zu einem für sie unerträglichen Ort machen. Ein Schamane oder Priester rezitierte Gebete, beschwor die bösen Geister, beleidigte sie und führte Comer01-02.qxd 13.08.2008 15:17 Uhr Seite 7 Frühere Ansichten und Behandlungsweisen 7 Exkurs 1.2 Exorzismus wird noch praktiziert Der Exorzismus hat eine lange Geschichte als „Behandlungsmethode“ für Personen, die sich abnorm verhalten. Er wurde vor allem in biblischen Zeiten und dann wieder im Mittelalter durchgeführt. Man sollte meinen, er gehörte längst der Vergangenheit an. Doch entspricht das nicht den Tatsachen (Peck 2005). Bis 1970 war der Exorzismus weitgehend aus der westlichen Kultur verschwunden. 1973 hat dann das außerordentlich populäre Buch Der Exorzist, ebenso wie der gleichnamige Film, eine Flut von Büchern und Filmen über Besessenheit durch Dämonen nach sich gezogen, und das öffentliche Interesse an dem Verfahren stieg sprunghaft an. Seither haben sich eine Anzahl von Laienpredigern und charismatischen Personen als Exorzisten ausgegeben und führen an verhaltensgestörten Personen Exorzismus aus. In den meisten Fällen segnet der Exorzist die angeblich besessene Person, trägt Stellen aus der Bibel vor und befiehlt den bösen Geistern, den Körper zu verlassen (Fountain 2000). Oft ist zur Unterstützung eine Gruppe anwesend, um für die Person zu beten, während sie vielleicht aufschreit, um sich schlägt oder in Krämpfe verfällt. Während der 1990er Jahre schienen die Techniken mancher zeitgenössischer Exorzisten extremer zu werden, manchmal sogar gefährlich. Die Medien berichteten Todesfälle durch Exorzismus; eine New Yorker Mutter erstickte ihre jugendliche Tochter unbeabsichtigt während des Vorgangs, und ein Mann von Rhode Island stieß Stahlkreuze in den Schlund seiner Schwiegermutter (Fountain 2000). Zusätzlich begannen eine wachsende Anzahl von Priestern Zauberriten aus. Manchmal sollten sie durch lauten Lärm oder durch bittere Getränke, die die Betroffenen trinken mussten, in die Flucht geschlagen werden. Wenn alle diese Methoden fehlschlugen, wandte der Schamane extremere Formen des Exorzismus an, indem er die betreffende Person beispielsweise auspeitschte oder sie verhungern ließ. Griechische und römische Ansichten und Behandlungsweisen In den Blütejahren der griechischen und römischen Zivilisationen (zwischen 500 vor Christus und 500 nach Christus) beschrieben Philosophen und Ärzte eine Reihe psychischer Störungen. Die Liste wird angeführt von der Melancholie, einem Zustand unaufhebbarer spirituelle Reinigungszeremonien durchzuführen, die nicht von der katholischen Kirche sanktioniert worden waren. Um diesen innerhalb und außerhalb der Kirche wachsenden Bereich zu regulieren und akzeptablere Praktiken sicherzustellen, hat sich die katholische Kirche während der letzten Zeit aktiver am Exorzismus beteiligt. Die Anzahl der von der Kirche offiziell ernannten Vollzeitexorzisten stieg von einem in 1990 auf zehn in 2000 (Fountain 2000). Diese Beauftragten haben in Hunderten von Fällen, in denen die Betroffenen, ihre Verwandten oder Priester Exorzismus beantragten, nachgeforscht und bewertet, ob dieser anwendbar sei. 1999 hat die Kirche, zum ersten Mal seit 1614, eine revidierte Version des Exorzismusritus herausgegeben, welche die Regeln der Entscheidungsfindung und des Vorgehens festlegt. So kann ein kirchlicher Exorzismus nur durchgeführt werden, nachdem der offizielle Exorzist einen Arzt konsultiert hat, um psychische Störungen und körperliche Krankheiten auszuschließen. Auch muss der Exorzismus von einem Bischof genehmigt werden. Aufgrund dieser Verordnungen kommt es nur noch bei einer geringen Anzahl von möglichen Fällen zu kirchlich genehmigten Exorzismen. Doch sind auch die wenigen Fälle in den Augen von ausgebildeten Klinikern exzessiv. Sie erachten diese Intervention als eine fehlgeleitete „Behandlung“ psychischer Störungen. Ausgehend von der langen Geschichte und den tiefen Wurzeln des Exorzismus wird die Auseinandersetzung wohl auch in der nächsten Zeit nicht beigelegt werden. Traurigkeit; es folgen Manie, ein Zustand von Euphorie und hektischer Aktivität, Demenz, ein allgemeiner geistiger Abbau, Hysterie, körperliches Leiden ohne ersichtliche körperliche Ursache, Wahnvorstellungen, offensichtlich falsche Überzeugungen, und Halluzinationen, bei denen eingebildete Stimmen oder Visionen als real erlebt werden. Zwar waren dämonologische Erklärungen für psychische und körperliche Erkrankungen immer noch weit verbreitet, doch die Philosophen und Ärzte begannen in dieser Zeit, andere Erklärungen zu entwickeln. Hippokrates (460–377 vor Christus) wird oft als Vater der modernen Medizin bezeichnet, weil er lehrte, dass Krankheiten natürliche Ursachen haben – und nicht übernatürliche. Gestörtes Verhalten galt ihm als Krankheit, die inneren, medizinischen Problemen statt Konflikten zwischen Göttern oder Dämonen zuzuschreiben ist. Im Einzelnen glaubte er, dass ein patholo- 1 Comer01-02.qxd 1 13.08.2008 8 15:17 Uhr Seite 8 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart Körpersäfte in Aktion Hippokrates war der Ansicht, dass das Ungleichgewicht der vier Körpersäfte die Persönlichkeit beeinflusst. In diesen Abbildungen von zwei solchen bestimmenden Körpersäften bringt die gelbe Galle (links) einen Ehemann dazu, seine Frau zu schlagen, und die schwarze Galle (rechts) macht einen Mann melancholisch und schickt ihn in das Bett. gischer Zustand des Gehirns Schuld trägt und dass dieser – wie seiner Ansicht nach alle anderen Erkrankungen auch – auf einem Ungleichgewicht von vier Flüssigkeiten oder Körpersäften beruht, die den Körper durchströmen: gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim (Humoralpathologie). Ein Überschuss von gelber Galle beispielsweise verursacht ihm zufolge die Manie, ein Überschuss von schwarzer Galle die Melancholie (der Name leitet sich von melas khole, „schwarze Galle“, ab). Bei der Behandlung dieser psychischen Störungen versuchte Hippokrates, die zugrunde liegende körperliche Pathologie in Ordnung zu bringen. So glaubte er, dass sich der Fluss der Melancholie auslösenden schwarzen Galle durch ein ruhiges Leben, vegetarische Ernährung, Abstinenz, körperliche Bewegung, sexuelle Enthaltsamkeit und sogar Aderlass vermindert. Später übernahmen und erweiterten in manchen Fällen die großen griechischen Philosophen Platon (427–347 vor Christus) und Aristoteles (384–322 vor Christus) sowie einflussreiche griechische Ärzte Hippokrates’ Ansatz. Der Arzt Aretaeus (50–130) beispielsweise vertrat die Ansicht, dass auch emotionale Probleme gestörtes Verhalten verursachen können. Der römische Arzt griechischer Herkunft Galen (130–200) unterschied systematisch emotionale Ursachen (wie finanzielle Sorgen und Liebesentzug) von medizinischen (wie Kopfverletzungen und Alkoholmissbrauch). Die römischen Ärzte übernahmen diese Theorien, als Rom die Macht über die antike Welt erlangte. Aufgrund dieser Theorien behandelten die griechischen und römischen Ärzte psychische Erkrankungen mit einer Mischung aus medizinischen und psychologischen Methoden. Europa im Mittelalter: Die Dämonenlehre kehrt zurück Dass namhafte Ärzte und Gelehrte in griechisch-römischer Zeit dämonologische Ansichten ablehnten, genügte nicht, um den tief verwurzelten Glauben an Dämonen zu erschüttern. Entsprechende Ansichten und Praktiken verschwinden nie ganz, und mit dem Niedergang Roms erfreuten sie sich eines mächtigen Wiederaufschwungs (Exkurs 1.3). Mit dem Untergang des Römischen Reiches während der Völkerwanderung gingen auch die Kenntnis und das Wissen über psychische Störungen verloren. Der religiöse Glaube beherrschte alle Aspekte des Lebens. Astronomische Phänomene, irdische Ereignisse und persönliche Erfahrungen und Verhaltensweisen wurden in religiösen Begriffen interpretiert – häufig als Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und dem Teufel. Abweichendes Verhalten aller Art galt als Anzeichen eines Bundes mit dem Satan. Von den literarischen und bildlichen Zeugnissen zu schließen, waren jedoch Melancholie, Schuldgefühle und Angst im Mittelalter weit verbreitet. Comer01-02.qxd 13.08.2008 15:17 Uhr Seite 9 Frühere Ansichten und Behandlungsweisen 9 Exkurs 1.3 Mond und Psyche Primitive Gesellschaften glaubten, der Mond habe magische und mystische Kräfte und seine Phasen hätten vielfältige Vorbedeutungen. Der Mond sollte Frauen schwängern, Pflanzen wachsen lassen und Menschen verrückt machen können. Spätere Gesellschaften nahmen auch an, der Mond (luna) könne das Verhalten beeinflussen; in der englischen Sprache schlägt sich dies heute noch in den Bezeichnungen lunatic („verrückt“, „wahnsinnig“) und lunacy („Irresein“, „Wahnsinn“) nieder. Selbst heute vertreten viele angesehene Institutionen und Personen die Ansicht, dass Verhalten durch die Mondphasen beeinflusst wird (Kung & Mrazek 2005). Zahlreiche Anekdoten kursieren: Die Polizei von New York registriert bei Vollmond mehr Gewalttaten und bizarre Verbrechen, und die Krankenhäuser behaupten, es gäbe mehr Geburten. Man hat den Vollmond mit dem Ausbruch von Magengeschwüren und mit Herzanfällen in Verbindung gebracht. Ein Wall-Street-Börsianer benutzt seit Jahren den Mondkalender zur Investitionsberatung – erfolgreich (Gardner 1984). Eine Anzahl von Wissenschaftlern hat Hypothesen zum möglichen Einfluss des Mondes auf das menschliche Verhalten vorgeschlagen. Einige meinen, da der Mond die Gezeiten hervorrufe, sei die Annahme plausibel, er habe auch eine ähnliche Wirkung auf die Körperflüssigkeiten des Menschen (der zu mehr als 80 Prozent aus Wasser besteht). Die Erhöhung der Geburtenzahl könnte sich daher so erklären, dass der Mond auf das Fruchtwasser der zukünftigen Mutter wirkt. Ähnliche Gezeitenkräfte sollten das verstärkte Auftreten bizarren Verhaltens bei Menschen erklären, die vielleicht bereits aus dem Gleichgewicht geraten sind. Forscher haben die Geburtenzahlen, Verbrechenshäufigkeiten und Auftretensraten von bizarrem Verhalten bei Vollmond streng statistisch analysiert. Einige von ihnen fanden tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Vollmond und unbeabsichtigten Vergiftungen (Oderda & KleinSchwartz 1983), Fernbleiben vom Arbeitsplatz (Sands & Miller 1991) und der Verbrechensrate (Thakur & Sharma 1984). Andere fanden keine Beweise für einen Einfluss des Mondes auf Gewalttätigkeit in psychiatrischen Einrichtun- Viele alte dämonologische Therapien für psychische Störungen erlebten im Mittelalter eine Renaissance. Wieder war entscheidend für die Heilung, dass der Körper des oder der Besessenen vom Teufel befreit wurde, und die Exorzismusmethoden lebten wieder auf (Abbildung S. 10 oben links). Geistliche, denen zu dieser Zeit im Allgemeinen die Behandlung von Menschen mit psy- gen (Owen et al. 1998), Verkehrsunfälle (Laverty & Kelly 1998), Kindestod (de Leon et al. 2003) oder verstärkten Bedarf für Behandlung von Angststörungen und Depression (Kung & Mrazek 2005). Skeptiker bemerkten, dass – selbst wenn es einen Zusammenhang gäbe – dieser auf die Erwartungen der betreffenden Personen zurückzuführen ist. Wenn Menschen erwarten, vom Mond beeinflusst zu werden, schenken sie zur gegebenen Zeit dahingehenden Empfindungen mehr Aufmerksamkeit. Um diese Annahme zu testen, wurde die Wirkung von Mondphasen auf Tiere untersucht, die vermutlich keine Erwartungen haben. Tatsächlich wurde bei Vollmond eine erhöhte Anzahl von Personen mit Tierbissen in der Notaufnahmestation des Krankenhauses einer britischen Kleinstadt gefunden (Bhattacharjee et al. 2000), was auf ungewöhnliches Verhalten von Tieren in Abhängigkeit von Mondphasen schließen ließ. Allerdings fanden andere Forscher in anderen Städten keinen solchen Zusammenhang zwischen der Anzahl von Tierbissen und dem Vollmond (Chapman & Morrell 2000). Und so geht die Debatte weiter, während Wissenschaftler und Philosophen zu ergründen suchen, ob die Ursachen für Geisteskrankheiten im Himmel oder in unserem Verstand zu suchen sind. chischen Störungen oblag, versuchten den Teufel oder den bösen Geist mit Bitten, Singen oder Beten dazu zu bewegen auszufahren. Auch wandten sie Weihwasser oder bittere Getränke an, und falls das alles nichts half, versuchten sie, den Teufel zu beleidigen und in seinem Stolz zu kränken (die Schwachstelle des Teufels, wie man glaubte). Diese milderen Formen des Exorzismus wur- 1 Comer01-02.qxd 1 13.08.2008 10 15:17 Uhr Seite 10 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart Den Teufel austreiben Der Exorzismus, eine der frühesten Behandlungsweisen psychischer Störungen, lebte im Mittelalter wieder auf. In diesem Ausschnitt aus einem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert, Die Heilige Katharina exorziert eine besessene Frau, treibt die Heilige den Teufel aus dem Kopf der Frau aus. den manchmal ergänzt durch Folter in Form von Hungern, Auspeitschen, Verbrühen oder Strecken – weil man glaubte, so den Teufel aus dem Körper des Betroffenen austreiben zu können. Gegen Ende des Mittelalters verloren die Dämonenlehre und die aus ihr abgeleiteten Behandlungsformen allmählich an Bedeutung. Der arabisch-spanische Philosoph Averroes (1126–1198) machte mit seinen Kommentaren über Aristoteles dessen Werk wieder für Europa zugänglich und vermittelte damit erneut Kenntnisse der antiken Anschauungsweisen. Es wurden Hospitäler eingerichtet und Anweisungen für die Versorgung kranker Menschen, einschließlich der psychisch Kranken, erlassen. Medizinische Ansichten über psychische Störungen gewannen allmählich wieder die Oberhand. Zum Beispiel wurde in britischen Gerichtsverhandlungen des späten 13. Jahrhunderts, bei denen das Vorliegen von Geistesgestörtheit geprüft werden sollte, meist ein natürlicher Grund wie „ein Schlag auf den Kopf“ als Ursache für das Verhalten angegeben, das diese Menschen vor Gericht gebracht hatte (Neugebauer 1979, 1978). In eben dieser Zeit wurden viele der Menschen mit psychischen Störungen in psychiatrischen Krankenhäusern behandelt. Das Trinity Hospital in England beispielsweise widmete sich neben der Behandlung anderer Krankheiten ausdrücklich der des „Wahnsinns“ und hatte die Aufgabe, die Kranken „sicher zu verwahren, bis sie wieder zur Vernunft kamen“ (Allderidge 1979, S. 322). Irrenhaus Das Bethlehem Hospital oder Bedlam in London war typisch für die Irrenhäuser des 16. bis 19. Jahrhunderts. William Hogarth beschrieb im 18. Jahrhundert in seinem Werk A Rake’s Progress die Anstalt als chaotischen Ort, den modische Damen und Herren besuchten, um das seltsame Verhalten der Insassen zu bestaunen. Die Renaissance und das Aufkommen der Irrenhäuser Die dämonologischen Erklärungen für psychische Störungen verloren während der ersten Hälfte der Epoche kultureller und wissenschaftlicher Blüte der Renaissance (ungefähr von 1400 bis 1700) weiter an Popularität. In dieser Zeit spezialisierte sich als erster praktischer Mediziner der deutsche Arzt Johann Weyer (1515–1588) auf psychische Erkrankungen. Weyer lehnte die dämonologischen Theorien ab. Zwar zog er sich den Spott einiger Kollegen zu, da er die Ansicht vertrat, dass der Geist genauso wie der Körper anfällig ist für Krankheiten, doch in seiner Arbeit schlägt sich das erneuerte Interesse seines Zeitalters an Wissenschaft und kritischem Denken nieder. Weyer gilt heute als Begründer der modernen Psychopathologie. Im ausgehenden Mittelalter entstanden auch die ersten Krankenhäuser, die ausschließlich der Aufbewahrung geistig Gestörter gewidmet waren: die Asyle oder Irrenhäuser. Im 13. Jahrhundert wurde in London das Bethlehem Hospital gegründet, das im 16. Jahrhundert von König Heinrich VIII. großzügige Schenkungen erhielt und von nun an ausschließlich psychisch Gestörten diente. Das Irrenhaus wurde zu einem beliebten Ausflugsziel; die Leute zahlten bereitwillig für einen Blick auf die Insassen (Abbildung oben rechts). Auch im maurischen Spanien wurde ein Irrenhaus gegründet, ebenso wie in Paris (La Bicêtre). In Wien wurde im 18. Jahrhundert eine von der Bevölkerung als Narrenturm bezeich- http://www.springer.com/978-3-8274-1905-7