Detailansicht Zurück zur Übersicht Erfahrungen bei der Behandlung von Flüchtlingen in einer kleinen Kommune Hermannsburg, 29. Oktober 2015 (Voss) - Wie funktioniert eigentlich die Versorgung von Flüchtlingen nach der Entlassung in die Gemeinden? In Hermannsburg konnte für jeden ein "Pate" gewonnen werden, der bei Behördengängen und Arztbesuchen als Begleiter zur Verfügung steht. Dr. med. Harten Voss. Foto: Bokelmann Es wird viel berichtet von der Arbeit und dem unermüdlichen Einsatz der ehrenamtlichen Helfer, die den Flüchtlingen bei ihrer Ankunft und in den Aufnahmelagern beistehen. Auf diese Leistung zum Wohle anderer kann die deutsche Bevölkerung stolz sein. Ohne die segensreiche und notwendige Arbeit der UN in ihren Flüchtlingslagern schmälern zu wollen, glaube ich, dass der Einsatz in Deutschland beispielhaft und in diesem Umfang vermutlich einzigartig ist. Die Flüchtlinge werden medizinisch betreut, sie erfahren persönliche Ansprache nach ihrer oft gefährlichen und entbehrungsreichen Flucht und sie erleben ein Gefühl der Sicherheit. Sie erhalten endlich das Gefühl, als Menschen akzeptiert zu werden und erfahren das Gefühl, nicht als Störfaktor angesehen zu werden. Ihnen wird ein Willkommen gegeben. Der Aufenthalt in den Aufnahmestationen, in denen die Flüchtlinge oft auf engstem Raum ohne Privatsphäre leben müssen, dauert unterschiedlich lange. Danach erfolgt die Verteilung auf die Gemeinden. Hier beginnt die eigentliche Integration. Hier werden die Flüchtlinge mit den Gebräuchen des täglichen Lebens konfrontiert. Einkaufen, Mülltrennung, eigenverantwortlich handeln, für sich selbst sorgen. Natürlich stehen ihnen hier engagierte Mitarbeiter der Kommunen zur Seite, besonders aber auch Mitbürger, die sich in den verschiedensten Komitees, Runden Tischen oder Patenschaften um die neuangekommenen Flüchtlinge kümmern. In Hermannsburg konnte bisher für jeden Flüchtling ein "Pate" gewonnen werden, der dem Flüchtling zur Seite steht, ihn bei Behördengängen und Arztbesuchen begleitet und ihm die Regeln unserer Lebensweise und unsere Sprache beizubringen versucht. Auch dieses permanente Engagement ist segensreich und besonders nachhaltig und sollte nicht unterschätzt werden. Ich als "langgedienter" Landarzt möchte nur einen Aspekt aus der gesamten Integration herausgreifen, nämlich den der ärztlichen Versorgung der Flüchtlinge nach Entlassung in die Gemeinden. Diese gestaltet sich aus verschiedenen Gründen teilweise schwierig. Es bestehen Sprachschwierigkeiten. Wir Ärzte/innen sprechen außer Deutsch noch Englisch, vielleicht Französisch. Das ist bei den Flüchtlingen oft anders. Sie sprechen Amharisch oder Tigrinisch, für uns exotische Sprachen, für die wir auch keine Dolmetscher herzaubern können. So wird die Aufnahme der Anamnese und der Symptome schon zum Problem. Ganz abgesehen davon, dass wir auch wieder mal an Krankheiten denken müssen, mit denen wir sonst weniger konfrontiert waren, z.B. unklare Infekte oder Thalassämie. Zu einer erfolgreichen Therapie gehört aber auch die Compliance der Patienten. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Verschreibung verstanden, geschweige denn durchgeführt wird. Nüchtern und zum vereinbarten Termin zur Blutabnahme zu erscheinen, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Verständigung ist äußerst schwierig. Hier erweist es sich als sinnvoll, wenn ein "Pate" bei der Behandlung zugegen ist, was wiederum als ein Vergehen gegen die Schweigepflicht verstanden werden könnte. Doch auch die persönlichen Anschauungen der "Paten" spielen eine Rolle. Wer kennt sie nicht, die Diskussion mit Eltern, die für ihre Kinder keineswegs ein Antibiotikum, aber morgen schon eine Heilung haben wollen, die den theoretischen Nebenwirkungen von Medikamenten mehr Beachtung schenken als dem zu erwartenden Nutzen, für die Impfungen zu riskant sind und die den epidemiologischen Sinn der Impfungen nicht akzeptieren - der den Flüchtlingen infolge mangelnder sprachlicher Kommunikation schon gar nicht zu erläutern ist. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Reihe von Vorschriften zu beachten sind. Die Behandlungsausweise der Sozialämter erhalten den Aufdruck, dass der Behandlungsausweis nur für den Hausarzt und nur für den Akutfall gilt. Ist ein Husten, der seit 6 Monaten besteht ein Akutfall? Ist eine seit Jahren immer wieder auftretende Fistelung in der Achsel und eine weitere am Unterschenkel nach vor Jahren geschehener Schussverletzung ein Akutfall? Ich habe diese Fälle erlebt. Auch die medizinisch erforderliche Grundimmunisierung entsprechend der STIKO-Empfehlung ist als präventive Maßnahme sicher nicht als ein Akutfall anzusehen. Glücklicherweise werden diese Probleme zumindest in unserer Gemeinde und im Landkreis erkannt. Die Flüchtlinge können die Standardimpfungen erhalten und die Impfung kann über das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbwLG) abgerechnet werden. Auch die Bevölkerung ist verunsichert. Ein im Wartezimmer hustender Flüchtling wird gleich mit Tuberkulose, jemand, der sich am Ohr kratzt, mit Skabies oder Läusen in Zusammenhang gebracht. Teilweise sind die Ängste zu verstehen, unsere Aufgabe im Gespräch mit unseren Patienten ist es dann, Vorurteilen und teilweise hysterischen Betrachtungsweisen entgegenzutreten. Ein weiteres Problem für uns Mediziner ist die unterschiedliche Vorgehensweise bei der medizinischen Betreuung in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Teilweise sind Impfungen durchgeführt worden, teilweise nicht. Impfausweise werden nicht zur Verfügung gestellt sondern müssen gekauft werden. Wir behelfen uns mit dem Ersatzformular der STIKO zur Impfdokumentation. Ein Vertrauensverhältnis zwischen Flüchtling und Arzt baut sich sehr langsam auf. Oft braucht es mehrerer Kontakte, bis die Flüchtlinge von Ihren Erlebnissen vor, während und nach der Flucht erzählen. Oft gewinnt man kaum Zugang und es scheint so, als ob sie Angst haben, von ihrer Flucht zu sprechen. Dass die Trennung von der Familie, die Flucht selbst und die Ungewissheit hinsichtlich der eigenen Zukunft sich auch psychosomatisch auswirkt, liegt auf der Hand. Häufig höre ich Klagen über Magen- oder Kopfschmerzen. Die Zähne sind oft in schlechtem Zustand. Auch die Zubereitung der Speisen stellt ein Problem dar. Oft wissen die Flüchtlinge nicht, wie sie mit den hiesigen Nahrungsmitteln umgehen sollen. Auf jeden Fall stellt die ärztliche Betreuung von Asylbewerbern eine Herausforderung für uns dar, der wir uns stellen müssen. Dr. med. Harten Voss ist Allgemeinmediziner und langjährig in der Humanitären Hilfe aktiv. Unter anderem war er für die Hilfsorganisation humedica in Somalia im Einsatz. Zurück zur Übersicht