Jahrbuch 2016/2017 | Stühmer, W alter; Pardo, Luis A. | Die Rolle des Kaliumkanals Kv10.1 in Tumoren Die Rolle des Kaliumkanals Kv10.1 in Tumoren The role of Kv10.1 potassium channel in cancer Stühmer, W alter; Pardo, Luis A. Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen Korrespondierender Autor E-Mail: w [email protected] Zusammenfassung Ionenkanäle sind Membranproteine, die bei biologischen Steuerungsmechanismen eine w ichtige Rolle spielen. So verw undert nicht, dass sie auch bei Krebs eine Schaltfunktion besitzen. Der am besten untersuchte Kanal in dieser Hinsicht ist der Kaliumkanal Kv10.1, der in über 70% aller Tumorarten nachgew iesen w urde. Als Teil der Signalkaskaden, die an der Zellteilung und am Krebsgeschehen zentral beteiligt sind, w ird seine Expression w ährend der Zellteilung jew eils verstärkt oder gehemmt. Der Kaliumkanal bildet so einen neuen Angriffspunkt für die Entw icklung neuartiger Medikamente gegen Krebs. Summary Ion channels are membrane proteins that regulate cellular processes by transmitting signals across membranes. Thus it is not surprising that they are also involved in cancer. I n this respect, Kv10.1 is the most intensively studied potassium channel. It is overexpressed in over 70% of all cancer forms, and its expression level is up- and dow n-regulated during the cell cycle. This genetic regulation happens at the centre of signalling cascades involved in cancer and cell division regulation. Consequently, Kv10.1 represents a novel target for cancer treatment. Einleitung Die Zellmembran einer einzelnen Zelle trennt den Innenraum der Zelle von der Außenw elt ab, damit im Inneren alle w ichtigen Zellprozesse geschützt ablaufen können. Jedoch benötigen alle Zellen Verbindungen zur Außenw elt, um z. B. Signale zum Zellw achstum und zur Zellteilung zu erhalten. Viele dieser Signale w erden durch kleine Moleküle oder Proteine vermittelt, die als Botenstoffe an entsprechende Rezeptoren an der Zellmembran andocken. Das Andocken eines Botenstoffes an seinen Rezeptor bew irkt im Inneren der Zelle die Aktivierung von spezifischen biochemischen Signalkaskaden, die im Fall eines Zellteilungssignals zur Zellteilung führen. In Tumoren ist dieser Signalmechanismus gestört; sehr oft, w eil ein Rezeptor aktiv ist, obw ohl kein Zellteilungsbotenstoff angedockt ist. Die betroffene Zelle vermehrt sich ungehemmt und es entsteht ein Tumor. W ährend der Evolution haben sich jedoch Mechanismen entw ickelt, um derartige Fehlregulationen entdecken und verhindern zu können. Diese können aber ebenfalls defekt sein und zur Tumorbildung führen. Die gängigsten Medikamente, die aktuell zur Krebsbehandlung eingesetzt w erden, w irken durch eine © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/5 Jahrbuch 2016/2017 | Stühmer, W alter; Pardo, Luis A. | Die Rolle des Kaliumkanals Kv10.1 in Tumoren generelle Hemmung der Zellteilung. Als Nebenw irkung w erden Gew ebe mit schneller Zellteilung davon ebenfalls gehemmt. Deshalb fallen z.B. bei der Chemotherapie meist die Haare aus und Patienten können schw ere Magen- und Darm-Beschw erden haben, da sich sow ohl die Haarfollikelzellen w ie auch die Zellen in der Darmw and kontinuierlich teilen müssen. Poren in den Zellmembranen sind ein anderer Weg, Signale zw ischen Außenw elt und Zellinnerem zu vermitteln. Hierbei lassen Proteinkomplexe, die ihre Struktur ändern und sich öffnen können, gezielt geladene Teilchen durch die Membran fließen. Durch ein externes Signal w erden von einer Pore jedoch nur eine Art von Ionen (z.B. Kalium, Natrium oder Chlor) durchgelassen. Diese Signale können chemischer oder physikalischer Natur sein. Zu den letzteren gehören auch die spannungsgesteuerten Ionenkanäle, die für die Entstehung und Fortleitung der elektrischen Impulse im Gehirn und entlang erregbarer Zellen, w ie peripherer Nerven- oder Muskelzellen, verantw ortlich sind. Hier w ird auf einen besonderen Ionenkanal eingegangen, der kaliumselektiv und spannungsgesteuert ist und die Bezeichnung Kv10.1 trägt. Er ist einer von über 100 verschiedenen Kaliumkanälen, die in unserem Erbgut kodiert sind. Die Regelung der Zellteilung Der Prozess der Zellteilung ist eine streng kontrollierte Reihe von Ereignissen, die zur Erzeugung von zw ei Tochterzellen aus einer einzigen Mutterzelle führt. Wenn eine Zelle sich zu teilen beginnt, gibt es zw ei Zeiträume, in denen es relativ einfach ist, zu definieren, w elche Veränderungen stattfinden: Einerseits die Phase, in der das genetische Material verdoppelt w ird und die Zelle aktiv DNA synthetisiert, die so genannte SPhase oder Synthese-Phase; andererseits dann, w enn die Chromosomen kondensieren, sich trennen und zw ischen den beiden Tochterzellen verteilt w erden. Diese Phase nennt man Mitose oder M-Phase. Die Zeiten zw ischen diesen Phasen sind w eniger definiert und w erden deshalb gaps (Lücken) genannt, G1 vor der SPhase und die G2/M-Phase nach der S-Phase. Sobald der Prozess der Zellteilung abgeschlossen ist, fallen die meisten Zellen in einen Ruhezustand (G0), in dem die Zellen ihre Funktionen als reife Zellen erfüllen und sich nicht mehr teilen. In einem entw ickelten Organismus befindet sich eine überw iegende Mehrheit der Zellen in der G0-Phase und bleibt für die ganze Lebenszeit darin. Kv10.1- ein Ionenkanal mit besonderer Funktion In den G0-, G1- und S-Phasen findet keine oder eine nur sehr geringe Expression von Kv10.1 statt, w ährend Zellen in der G2/M-Phase Kv10.1 exprimieren [1]. Das heißt, eine deutliche Expression von Kv10.1 stammt von vielen Zellen, die sich alle in der G2/M-Phase befinden. Das ist normalerw eise von Tumorzellen zu erw arten, w eil sie sich sehr aktiv teilen. Im Gegensatz dazu befinden sich in normalen Gew eben nur sehr w enige Zellen in der G2/M-Phase des Zyklus. Es gibt jedoch einige außergew öhnliche Gew ebe, in denen die Anzahl der Zellen in der G2/M-Phase größer ist. In den Krypten des Dickdarms vermehren sich kontinuierlich nur die Zellen, die tief in den Krypten sitzen; die Zellen nahe der Oberfläche teilen sich nicht mehr. In solchen Gew eben sind die Zellen in der G2/M-Phase Kv10.1-positiv, w ährend die restlichen Zellen keine Kv10.1-Expression aufw eisen. © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/5 Jahrbuch 2016/2017 | Stühmer, W alter; Pardo, Luis A. | Die Rolle des Kaliumkanals Kv10.1 in Tumoren A bb. 1: Die Ex pre ssion von Kv10.1 und a nde re n Ge ne n, die a n de r Ze llte ilung be te iligt sind, wird durch m itotische Signa le im R a hm e n e ine r Signa lk a sk a de ge ste ue rt. © Ma x -P la nck -Institut für Ex pe rim e nte lle Me dizin/P a rdo Die Ursache dieser zeitlich beschränkten Expression ist die Steuerung der Kv10.1-Expression durch den Transkriptionsfaktor E2F1 (Abb. 1). E2F1 ist auch der w ichtigste Faktor für die Koordination des Zellzyklus in sich teilenden Zellen. Kv10.1 w ird erst hergestellt, nachdem E2F1 aktiviert w urde. E2F1 ist normalerw eise an das Protein Retinoblastom (Rb) gebunden, das dafür sorgt, dass der Transkriptionsfaktor inaktiv ist. Zusätzlich halten w eitere Faktoren w ie miRNAs (miR34a) oder das Tumor-Supressor-Protein p53 den Faktor E2F1 inaktiv und unterdrücken somit auch die Expression von Kv10.1. Andererseits verursachen einige krebserregende Faktoren, w ie z. B. das humane Papillomavirus, durch die Aktivierung von E2F1 eine vermehrte Expression von Kv10.1. Interessanterw eise zeigt ein großer Teil von Tumoren Veränderungen in den Genen von E2F1, Rb und/oder p53. Diese Tatsache erklärt, zusammen mit der verstärkten Proliferation und damit erhöhten Menge an Zellen in der G2-/M-Phase, w arum Kv10.1 in mehr als zw ei von drei Tumoren zu finden ist. Dennoch vermehren sich Zellen, die Kv10.1 exprimieren, schneller als Kv10.1-negative Zellen. Deshalb ist es möglich, Tumorw achstum durch eine Hemmung des Kaliumkanals zu reduzieren. Kv10.1 ist der einzig bekannte Ionenkanal mit dieser Eigenschaft; daher sollte der Grund dafür für Kv10.1 spezifisch sein. Bei fast allen ruhenden Zellen in der G0Phase ragt eine einzelne, haarförmige Struktur in die Umgebung, die als chemischer und mechanischer Detektor w irkt (Abb. 2). Diese Organelle, das primäre Cilium, erfüllt viele w ichtige Funktionen w ährend der Entw icklung. Es kommt nur in der G0-Phase vor, w eil es zurückgezogen und demontiert w erden muss, sobald die Zellteilung startet. © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/5 Jahrbuch 2016/2017 | Stühmer, W alter; Pardo, Luis A. | Die Rolle des Kaliumkanals Kv10.1 in Tumoren A bb.2: P rim ä re C ilie n (rot durch e ine n Antik örpe r ge ge n Mik rotubuli ge k e nnze ichne t) in e ine r Kultur von hum a ne n Ze lle n. Die Ze llk e rne sind bla u ge fä rbt. © Ma x -P la nck -Institut für Ex pe rim e nte lle Me dizin/Sa nche z Primäre Cilien sind aus Mikrotubuli aufgebaute Strukturen, die durch eine spezialisierte Membran an ihrer Basis zusammengehalten w erden. Diese komplexe Struktur des Basalkörpers w ird vorw iegend aus der Mutterzentriole gebildet und von Zelle zu Zelle w eitergegeben. Im Prozess der Zellteilung entsteht nach Einzug des Ciliums aus der Mutterzentriole, zusammen mit einem kleineren, als Tochterzentriole bezeichneten Baustein, ein Centrosom, w elches zum Polkörper w ird. Dieses Centrosom w ird ebenfalls unter kontrollierten Steuerungsmechanismen verdoppelt, um zusammen den für die Chromosomentrennung notw endigen Spindelapparat zu bilden. Nach der Teilung der Zellen w ird aus der Mutterzentriole w ieder ein Basalkörper für das Primärcilium aufgebaut. Die Funktionen dieser komplexen Struktur variieren, je nachdem, w o sich diese befindet. Überexpression von Kv10.1 löst die Bremse der Zellteilung Kv10.1 ist in vielen Zellen im Primärcilium exprimiert. W ird in Zellkulturen der Kv10.1 unterdrückt, ist die G0Phase und die Präsenz der Primärcilia verlängert, w ährend eine Überexpression diese so verkürzt, dass die Zellen keine Primärcilia besitzen und sich fortlaufend teilen [2]. Dies ist ein Vorteil in Bezug auf die Vermehrungsrate, den Kv10.1-exprimierende Zellen haben. Eine erniedrigte Expression hat nur sehr geringe Konsequenzen für den Organismus, im Gegensatz dazu führt jedoch die erhöhte Expression zu Ausw irkungen, die sow ohl neuronal als auch entw icklungsphysiologisch auf die Funktion des Kanals im Gehirn [3] und auf seine Rolle in der Kontrolle des primären Ciliums zurückzuführen sind. Kv10.1 w ird im Gehirn exprimiert, jedoch befinden sich diese Zellen in G0. W ie sich jedoch zeigte, ist eine übernormale Expression von Kv10.1 in Gehirntumoren von Patienten mit einer schlechteren Prognose gekoppelt [4]. Zusammenfassend kann man sagen, dass durch Veränderungen zahlreicher Faktoren, w ie z. B. p53, die Expression von Kv10.1 manchmal ausgelöst w ird, obw ohl der Kanal nicht exprimiert w erden sollte. Dies führt dazu, dass durch die Überexpression von Kv10.1 das primäre Cilium, die „Bremse der Zellteilung“, sozusagen gelöst w ird und die Zellteilung und das Gew ebew achstum begünstigt w erden. Auf diese Weise teilen sich die Zellen, die viel Kv10.1 exprimieren, schneller. Diese Zellpopulation w ird nach kurzer Zeit den größten Teil des Tumors bilden. Schließlich w ird sich ein Tumor gebildet haben, in dem die Mehrzahl der Zellen kontinuierlich Kv10.1 exprimiert. © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/5 Jahrbuch 2016/2017 | Stühmer, W alter; Pardo, Luis A. | Die Rolle des Kaliumkanals Kv10.1 in Tumoren Noch sind nicht alle Aspekte der Rolle dieses Kaliumkanals aufgeklärt, aber es ist ausreichend abgesichert, dass er eine w ichtige Rolle im Krebsgeschehen spielt [5]. Die leichte Nachw eisbarkeit des Kv10.1 durch seine extrazelluläre Zugänglichkeit für fluoreszierende Antikörper [6] und seine Präsenz in vielen Tumorarten erlauben die Verw endung dieses Proteins für diagnostische Zw ecke. Zudem stellt dies einen w eiteren Angriffspunkt für neue Medikamente gegen Krebs dar. Literaturhinweise [1] Urrego, D.; Tomczak, A.; Zahed, F.; Stühmer, W.; Pardo, L. A. Potassium channels in cell cycle and cell proliferation Philosophical Transactions of the Royal Society of London Series B 369, 20130094 (2014) [2] Sánchez, A.; Urrego, D.; Pardo, L.A. Cyclic expression of the voltage‐gated potassium channel Kv10.1 promotes disassembly of the primary cilium EMBO Reports 17, 708-723 (2016) [3] Mortensen, L. S.; Schmidt H.; Farsi Z.; Barrantes-Freer A.; Rubio M. E.; Ufartes R.; Eilers J., Sakaba T.; Stühmer W.; Pardo L. A. Kv10.1 opposes activity-dependent increase in Ca(2+) influx into the presynaptic terminal of the parallel-fibre Purkinjie cell synapse. Journal of Physiololgy 593, 181-196 (2015) [4] Martínez, R.; Stühmer, W.; Martin, S.; Schell, J.; Reichmann, A.; Rohde, V.; Pardo, L. A. Analysis of the expression of Kv10.1 potassium channel in patients with brain metastases and glioblastoma multiforme: impact on survival BMC Cancer 15, 839 (2015) [5] Pardo, L. A.; Stühmer, W. The roles of K+ channels in cancer Nature Review s Cancer 14, 39-48 (2014) [6] Napp, J.; Pardo, L. A.; Hartung, F.; Tietze, L. F.; Stühmer, W.; Alves, F. In v iv o imaging of tumour xenografts with an antibody targeting the potassium channel Kv10.1 European Biophysics Journal 45, 721-733 (2016) © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/5