- Universität Wien

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DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit
„Die k.u.k. Außenpolitik während und nach der
Annexionskrise 1908/1909“
verfasst von
Mihriban Acikalin
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag.phil.)
Wien, 2014
Studienkennzahl lt. Studienblatt:
A 190 347 313
Studienrichtung lt. Studienblatt:
Lehramtsstudium UF Französisch und UF Geschichte,
Sozialkunde und Politische Bildung
Betreuer:
Univ.-Doz. Dr. Bertrand Michael Buchmann
Eidesstaatliche Erklärung
Ich, Mihriban Acikalin, erkläre hiermit an Eides Statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit
selbstständig und lediglich unter Benutzung der angegebenen Quellen und Hilfsmittel verfasst
habe.
Die Diplomarbeit wurde bisher weder in gleicher noch ähnlicher Form einer anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht.
Wien, am 07.Jänner 2014
Unterschrift
(Mihriban Acikalin)
Danksagung
Die Erstellung einer Diplomarbeit verlangt nicht nur viel Geduld und Zeit, sondern auch
tatkräftige Unterstützung. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei all denen bedanken,
die mir bei der Anfertigung meiner Forschungsarbeit und auf dem Weg dorthin geholfen
haben.
An erster Stelle möchte ich ganz besonders meinen Eltern danken, die nicht nur mein Studium
finanziert haben, sondern mich auch über die gesamte Dauer meiner Hochschulausbildung
mental unterstützt haben. Ich möchte die vorliegende Arbeit meinen Eltern Melahat und
Kenan Müldür widmen.
Sehr bedanken möchte ich mich außerdem bei meinem Ehemann Yunus Acikalin, ohne
dessen emotionalen Beistand und hilfreichen Anregungen ich niemals fertig geworden wäre.
Einen ganz herzlichen Dank möchte ich Herrn Professor Bertrand Michael Buchmann
aussprechen, der mir jederzeit bei Fragen und Anliegen zur Verfügung stand und mich
während des gesamten Verlaufes der Arbeit mit seiner fachlichen Kompetenz aufgeschlossen
unterstützt hat.
Bedanken möchte ich mich außerdem bei meinem Bruder Mazlumi für die konstante
Unterstützung und für das Interesse an meiner Arbeit.
Und schließlich danke ich dem Rest meiner Familie und meinen FreundInnen, die immer für
mich da waren und jederzeit ein offenes Ohr für mich hatten, wenn ich Kraft tanken wollte.
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ............................................................................................................................ 1
2
Bosnien und Herzegowina in der Donaumonarchie ........................................................... 4
2.1
2.1.1
Aufstand von 1875 ............................................................................................... 4
2.1.2
Serbisch-Türkischer Krieg ................................................................................... 5
2.1.3
Russisch-Türkischer Krieg ................................................................................... 6
2.1.4
Berliner Kongress ................................................................................................. 6
2.2
3
4
Balkankrise .................................................................................................................. 4
Okkupation von Bosnien-Herzegowina....................................................................... 9
2.2.1
Artikel XXV des Berliner Vertrages .................................................................... 9
2.2.2
Militärische Besetzung und Verwaltung ............................................................ 10
Die Entstehung der Jungtürkischen Bewegung ................................................................ 13
3.1
Die Jungosmanen ....................................................................................................... 13
3.2
Die Anfänge der Jungtürken ...................................................................................... 14
3.3
Die Jungtürkische Revolution ................................................................................... 15
3.3.1
Mürzsteger Programm ........................................................................................ 15
3.3.2
Jungtürkische Erhebung 1908 ............................................................................ 16
Reaktion der Donaumonarchie auf die Jungtürkische Revolution.................................... 18
4.1
Kaiser ......................................................................................................................... 18
4.1.1
Franz Joseph I..................................................................................................... 18
4.1.2
Reaktion des Kaisers .......................................................................................... 22
4.2
Thronfolger ................................................................................................................ 23
4.2.1
Franz Ferdinand von Österreich-Este ................................................................. 23
4.2.2
Reaktion des Thronfolgers ................................................................................. 26
4.3
Außenpolitik .............................................................................................................. 27
4.3.1
Alois Lexa von Aehrenthal ................................................................................ 27
4.3.2
Reaktion des Außenministers ............................................................................. 31
4.4
4.4.1
Max Wladimir Freiherr von Beck ...................................................................... 41
4.4.2
Reaktion Becks ................................................................................................... 42
4.4.3
Sándor Wekerle .................................................................................................. 45
4.4.4
Reaktion Wekerles ............................................................................................. 47
4.5
Stephan Burián ................................................................................................... 49
4.5.2
Reaktion des Finanzministers............................................................................. 50
Militär ........................................................................................................................ 52
4.6.1
Franz von Schönaich .......................................................................................... 52
4.6.2
Reaktion des Kriegsministers ............................................................................. 53
4.6.3
Franz Conrad von Hoetzendorf .......................................................................... 54
4.6.4
Reaktion des Generalstabchefs ........................................................................... 57
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina ................................................................. 59
5.1
Gründe der Annexion ................................................................................................ 59
5.2
Annexionserklärung................................................................................................... 60
5.2.1
Annexionserklärung in Österreich-Ungarn ........................................................ 60
5.2.2
Annexionsverkündung an die europäischen Herrscher ...................................... 61
5.2.3
Mitteilung an die k.u.k. Botschaften .................................................................. 62
5.2.4
Annexionserklärung an das Osmanische Reich ................................................. 63
5.2.5
Proklamation an die annektierten Gebiete.......................................................... 64
5.3
6
Finanzministerium ..................................................................................................... 49
4.5.1
4.6
5
Ministerpräsidenten ................................................................................................... 41
Völkerrechtliche Begriffserklärung und Beurteilung der Annexion ......................... 64
5.3.1
Begriff der Annexion ......................................................................................... 64
5.3.2
Beurteilung der Annexion von Bosnien und der Herzegowina.......................... 66
Die Annexionskrise ........................................................................................................... 69
6.1
Internationale Reaktionen .......................................................................................... 69
6.1.1
England............................................................................................................... 70
6.1.2
Russland ............................................................................................................. 70
6.1.3
Frankreich........................................................................................................... 71
6.1.4
Italien .................................................................................................................. 71
6.1.5
Deutschland ........................................................................................................ 72
6.1.6
Serbien ................................................................................................................ 73
6.1.7
Türkei ................................................................................................................. 74
6.2
7
Die Beilegung der Krise ............................................................................................ 75
6.2.1
Konferenzpläne Russlands ................................................................................. 75
6.2.2
Österreichisch-türkische Einigung ..................................................................... 76
6.2.3
Österreichisch-serbischer Konflikt ..................................................................... 79
6.2.4
Beendigung der Krise ......................................................................................... 80
Zusammenfassung............................................................................................................. 82
ANHANG................................................................................................................................. 84
8
9
Quellen-und Literaturverzeichnis ..................................................................................... 85
8.1
Quellen....................................................................................................................... 85
8.2
Literatur ..................................................................................................................... 86
Internetquellen .................................................................................................................. 89
10 Abbildungsverzeichnis ...................................................................................................... 92
11 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... 94
12 Abstract ............................................................................................................................. 95
13 Lebenslauf ......................................................................................................................... 96
1
Einleitung
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina 1 durch Österreich-Ungarn am 5.Oktober
legt den Keim für die Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts, wie der Historiker George F.
Kennan den Ersten Weltkrieg genannt hat. 2
Das Vorspiel des Ersten Weltkrieges begann mit der Ankündigung der Annexion von Bosnien
und der Herzegowina, „eines der markantesten Ereignisse der Geschichte der Monarchie im
ersten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts“ 3, durch Kaiser Franz Joseph I. im Jahre 1908.
Die vorliegende Forschungsarbeit wird die Annexion der beiden Gebiete und die unmittelbar
daran anschließende Annexionskrise, die den europäischen Kontinent ein halbes Jahr lang
beschäftigte, behandeln und soll somit einen wichtigen Beitrag zur Vorgeschichte des Ersten
Weltkrieges leisten.
Zum vorliegenden Themenkomplex liegt eine umfangreiche Quellen- und Literaturauswahl
vor. Deshalb war es anfangs sehr schwierig und zeitaufwändig das Material einzugrenzen. Da
in dieser Arbeit in erster Linie mit österreichischen Materialien gearbeitet wird, kann wenig
über die türkische Sichtweise gesagt werden.
Der erste Teil meiner Arbeit behandelt, um die historische Entwicklung näher zu bringen und
den Zeitraum vor der Annexion im Jahre 1908 zu skizzieren, die Balkankrise im
19.Jahrhundert. Diese kurze Betrachtung soll den LeserInnen vor allem darlegen, wie
Österreich-Ungarn überhaupt das Verwaltungs- und Okkupationsrecht über BosnienHerzegowina erhielt. Auch ist es wichtig zu veranschaulichen, dass Österreich-Ungarn nicht
als einzige europäische Macht Interesse am Balkan hatte.
Als Hilfe zum Verfassen dieses Kapitels dienten die wissenschaftlichen Arbeiten - um nur
einige zu nennen - „Das Osmanische Reich“ von Josef Matuz (Darmstadt 1996), „Österreich
und das Osmanische Reich“ von Bertrand Michael Buchmann (Wien 1999) und „Annexion
und Erwerb Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahre 1908“ von
1
Im gesamten Text wird diese Schreibweise verwendet.
Johannes Ebert, Die Chronik- Geschichte des 20.Jahrhunderts bis heute, Gütersloh (u.a.) 2006, 65.
3
Géza Andreas von Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, Die politische Biographie eines ungarischen
Staatsmannes der Donaumonarchie, R.Oldenbourg Verlag, München 1993, 289.
2
1
Heinz-Georg Kamler (Wien 1967) Das folgende Kapitel enthält einen historischwissenschaftlichen Teil über die Entstehungsgeschichte der Jungtürken. Es wird untersucht,
wie die Jungtürken überhaupt entstanden sind und warum es zu einem jungtürkischen
Aufstand im Osmanischen Reich gekommen ist.
Das Hauptaugenmerk der Arbeit, das im vierten Kapitel bearbeitet wird, basiert auf den
Reaktionen der verschiedenen Funktionsträger und Politiker in der Donaumonarchie vom
Moment der jungtürkischen Revolution (Juli 1908) bis zum Beschluss der Annexion (Oktober
1908). Die Untersuchung ist dabei ausschließlich auf der außenpolitischen Ebene angesiedelt.
Die Reaktion des Kaisers Franz Joseph I., des Thronfolgers Franz Ferdinand, der beiden
Ministerpräsidenten Beck und Wekerle, des Außenministers Aehrenthal, des Kriegsministers
Schönaich, des Finanzministers Burián und des Generalstabchefs Conrad, werden
quellenkritisch analysiert.
Der Quellenschwerpunkt dieses Kapitels basiert auf den Protokollen des gemeinsamen
Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie und auf den Aktenstücken aus „Die
Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914“, herausgegeben von Johannes Lepsius,
Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme und aus „Österreich-Ungarns
Aussenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch“, herausgegeben von
Ludwig Bittner und Hans Uebersberger.
Im Anschluss daran werden die Gründe der Annexion und der völkerrechtliche Status von
Bosnien und der Herzegowina nach der k.u.k. Annexionserklärung am 5.Oktober 1908
untersucht. Die Frage der Geltung und des Inhalts des Effektivitätsprinzips im klassischen
Völkerrecht wird ausführlich behandelt.
Als Hilfe für die Analyse, inwieweit die Annexion Bosnien und Herzegowinas völkerrechtlich
akzeptabel war, wurden in erster Linie die Dissertationen „Okkupation und Annexion
Bosniens und der Herzegowina in historischer und völkerrechtlicher Sicht“ von Peter
Krämmer (Wien 1971) und „Annexion und Erwerb Bosniens und der Herzegowina durch
Österreich-Ungarn im Jahre 1908“ von Kamler herangezogen.
In den letzten beiden Teilen dieser Arbeit wird genauer auf die Folgen der Einverleibung und
die Beilegung der Annexionskrise eingegangen. Welche Konsequenzen ergaben sich durch
das Vorgehen der Donaumonarchie? Wie reagierten die europäischen Mächte (England,
Russland, Frankreich, Italien, Deutschland) bzw. die Länder des Balkans (Türkei, Serbien)
2
auf die Annexion? Abschließend werden die diplomatischen Bemühungen des k.u.k.
Außenministers Aehrenthal, eine Beendigung der Annexionskrise herbeizuführen, behandelt.
3
2
Bosnien und Herzegowina in der Donaumonarchie
2.1
2.1.1
Balkankrise
Aufstand von 1875
Von allen Provinzen des Osmanischen Reiches war die Lage in Bosnien und der Herzegowina
am schlimmsten. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen katholischen
Kroaten, orthodoxen Serben, moslemischen „Bosniaken“ (das sind Serben und Kroaten) und
Türken. Eine wichtige Rolle spielten auch panslawistische Bewegungen, - deren Zentrum in
Moskau war - die eine breite Propaganda für die Einigung aller Slawen unter russischer
Führung entfaltet hatten. Unter der christlichen Bevölkerung, deren Lage sich im Laufe des
19.Jahrhunderts in religiöser wie auch wirtschaftlicher Hinsicht drastisch verschlechtert hatte,
brach am 9.Juli 1875 ein Aufstand in der Herzegowina aus. Der Kampf weitete sich zunächst
auf die gesamte Provinz, dann auf Bosnien und schließlich auf den europäischen Teil der
Türkei aus. 4
Der Versuch des Osmanischen Reiches, den Aufstand eigenhändig und ohne fremden Einfluss
niederzuschlagen, scheiterte von Anfang an. Obwohl der bosnische Aufstand eine interne
Angelegenheit der Osmanen war, mischten sich die europäischen Mächte Österreich-Ungarn
und Russland ein. 5
Unmittelbar nach dem Aufstand der christlichen Bevölkerung kam der Gedanke in Österreich
hoch, die beiden Provinzen in Österreichs Einflussbereich zu ziehen. Doch man wartete
zunächst ab und schlug Reformen vor, die aber nicht durchgeführt werden konnten, weil
weder die Christen noch die Moslems zustimmten. Die christliche Bevölkerung lehnte den
Reformplan ab, weil sie nicht daran glaubten, dass das Osmanische Reich die Reformen
4
Vgl. Heinz-Georg Kamler, Annexion und Erwerb Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn im
Jahre 1908 (Dissertation), Wien 1967, 7ff.
5
Vgl. Karl Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie 1848-1918. In: Adam Wandruszka/
Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band 6/2, Verlag der österreichischen
Akademie der Wissenschaften, Wien 1993, 257.
4
durchführen werde. Die Angehörigen des Islam stimmten nicht zu, weil sie eine
Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung verhindern wollten. 6
2.1.2
Serbisch-Türkischer Krieg
Nach den erfolglosen Friedensbemühungen weitete sich der Aufstand aus, und Anfang Mai
1876 lehnte sich auch die bulgarische Bevölkerung auf. Als im selben Jahr auch die Serben in
den Konflikt eintraten, war der gesamte Balkan betroffen und man sprach von einer
allgemeinen „Balkankrise“. 7
Die Serben schickten den Osmanen ein Ultimatum, in welchem sie verlangten, dass Bosnien
unter serbische und Herzegowina unter montenegrische Verwaltung gebracht werden solle.
Serbien erklärte daraufhin, ohne auf die Antwort des türkischen Reiches zu warten, der Pforte
am 2.Juli 1876 den Krieg und marschierte in die beiden Provinzen ein. 8 Beide Mächte erlitten
Niederlagen, weshalb Russland Serbien bereits im Herbst drängte, Frieden zu schließen.
Im Dezember 1876 traten die europäischen Staaten zur Besprechung der brisanten Lage auf
dem Balkan in Konstantinopel zusammen. Kurz vor Verhandlungsbeginn schaffte Sultan
Abdülhamid II 9, um ein Entgegenkommen von den europäischen Großmächten zu erhalten,
den Absolutismus ab und führte den Parlamentarismus ein. 10 Die während der
Konstantinopler Konferenz erarbeiteten Bestimmungen zur Lösung der Balkankrise wurden
1877 im sogenannten „Londoner Protokoll“ formuliert, darunter war auch ein autonomer
Status für Bosnien und Herzegowina vorgesehen. 11 Doch die im Dezember 1876 begonnene
Konferenz endete im Jänner 1877 ohne Ergebnis, weil die Osmanen den zwei wichtigsten
Grundsätzen des Protokolls nicht zugestimmt hatten 12:
•
Mitwirkung der Großmächte bei Ernennung der Gouverneure in den christlichen
Provinzen
6
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 10f.
Vgl. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Primus Verlag, Darmstadt3 1996,
235.
8
Vgl ebd., 12.
9
Im gesamten Text wird diese Schreibweise verwendet.
10
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 235.
11
Ebd. 238.
12
Vgl. Bertrand Michael Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, WUVUniv.-Verlag, Wien 1999, 224.
7
5
•
Einsetzung einer aus Bevollmächtigten der Großmächte bestehenden
Aufsichtskommission 13
2.1.3
Russisch-Türkischer Krieg
Das Zarenreich schloss noch vor Kriegsbeginn mit Kaiser Franz Joseph eine
Geheimkonvention in Budapest ab, die den österreichischen Monarchen zur Neutralität
verpflichtete, falls es zu einem Krieg zwischen der Pforte und den Russen kommen sollte. Als
Gegenleistung würde Österreich-Ungarn, das Recht, Bosnien und Herzegowina zu besetzen,
erhalten. 14
Kurz nach diesem Vertrag folgte am 24.April 1877 die Kriegserklärung der Russen an das
Osmanische Reich. Noch am selben Tag passierten die Truppen die Grenze. Wider Erwarten
hatte das Zarenreich kein leichtes Spiel. Es gelang ihnen erst nach langen Kämpfen, die
Osmanen im Dezember 1877 zu besiegen. 15 Die Russen, die im Zuge des Krieges die Vororte
der osmanischen Hauptstadt erreichten, zwangen das Osmanische Reich, am 3.März 1878 den
Frieden von San Stefano (heute: Yeşilköy/Istanbul), der den Verlust fast aller europäischer
Territorien bedeutete, zu unterzeichnen. 16 Der Friedensvertrag bestimmte die Unabhängigkeit
Serbiens und Montenegro. Während Montenegro um das Dreifache wuchs, erhielten die
Serben kaum Gebietserweiterung. Außerdem führte der Vertrag von San Stefano zu einem
Gebietszuwachs für Bulgarien und Rumänien. Bosnien und Herzegowina sollten zu einer
selbständigen Provinz vereinigt werden, welche unter Österreich-Ungarns Verwaltung gestellt
werden solle. 17
2.1.4
Berliner Kongress
Die Reaktion Europas auf den Vertrag von San Stefano war alles andere als erfreulich: „Ganz
Europa, ausgenommen Bulgarien und Montenegro, waren über seinen Inhalt empört [...].“18
13
Vgl. ebd.
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 224.
15
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 20.
16
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 238.
17
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 23f.
18
Ebd. 26.
14
6
Die europäischen Mächte, die sich in ihren eigenen Interessen bedroht fühlten, leisteten
Widerstand. Um die drohende Kriegsgefahr zu beseitigen, vermittelte der deutsche
Reichskanzler Otto von Bismarck zwischen den Großmächten. 19 Er berief alle am Konflikt
beteiligten Mächte zu einer Konferenz in Berlin zusammen. An dem Kongress, der am
13.Juni 1878 begann, nahmen zweiundzwanzig Vertreter aus sieben Ländern (England,
Deutschland, Russland, Italien, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich) teil. Der Friede von
San Stefano wurde artikelweise bearbeitet. Die Besprechungen lassen sich in drei Teile
gliedern. Zuerst wurde das Problem Bulgarien behandelt. Die zweite größere Frage betraf
Bosnien und Herzegowina. In der letzten Etappe der Beratungen wurden verschiedene
Probleme behandelt. Nach dreißig Tagen endete der Kongress am 13.Juli 1878 mit der
Unterzeichnung des Berliner Vertrages. 20 Der Berliner Kongress brachte schließlich die
Beendigung der Balkankrise.
Der Berliner Kongress wurde auf Wunsch des Berliner Magistrates vom Künstler Anton von
Werner bildlich festgehalten. Auf Bitte Bismarcks ließ der Maler, der Sonderbefugnisse
erhielt, um an den Sitzungen teilzunehmen, die Kongressteilnehmer in ihren offiziellen
Kleidungen erscheinen. 21
19
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 225.
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 29f.
21
Vgl. Der Berliner Kongress
WWW: http://kunstkommtvonkoennen.blogspot.co.at/2009_04_01_archive.html [Zugriff am: 29.08.2013].
20
7
Abb.1: Anton von Werner, „Der Berliner Kongress von 1878“, Erste Skizze.
WWW: http://kunstkommtvonkoennen.blogspot.co.at/2009_04_01_archive.html [Zugriff
am:29.08.2013]
Dieser Entwurf enthält alle Elemente, die auch auf dem fertiggestellten Gemälde am 22.März
1881 enthalten sind. Der Hofmaler Anton von Werner hatte den Auftrag zu diesem Gemälde
frühzeitig erhalten und war bei der letzten Sitzung des Berliner Kongresses am 13.Juli 1878,
die hier dargestellt ist, anwesend. 22 Den Mittelpunkt des Bildes stellt das Trio im Vordergrund
dar, genauer genommen der Handschlag zwischen Bismarck und dem russischen Diplomaten
Schuwalow. Der österreichisch-ungarische Außenminister Andrássy schaut den beiden
Politikern zu. 23
22
Vgl. Der Berliner Kongress (Entwurf)
WWW : http://antonvonwerner.blogspot.co.at/2010/02/1878-der-berliner-kongress-entwurf.html [Zugriff am:
29.08.2013].
23
Vgl. Bilder-Militär und internationale Beziehungen
WWW:http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_image.cfm?image_id=1419&language=german [Zugriff am:
23.08.2013]
8
2.2
Okkupation von Bosnien-Herzegowina
2.2.1
Artikel XXV des Berliner Vertrages
Viele wichtige Entscheidungen wurden auf dem Berliner Kongress getroffen, darunter die
Okkupation Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn in Artikel XXV:
Die Provinzen Bosnien und Herzegowina werden durch Österreich-Ungarn besetzt und
verwaltet. Da die österreichisch-ungarische Regierung nicht den Wunsch hegt, auch die
Verwaltung des Sandschak 24 Novi Pazar 25, der sich zwischen Serbien und Montenegro in
südöstlicher Richtung bis über Mitrovitza hinaus erstreckt, zu übernehmen, wird dort die
ottomanische Verwaltung weiterdauern. Um aber für die Fortdauer des neuen politischen
Zustandes sowie für die Freiheit und Sicherheit der Verkehrswege Gewähr zu leisten,
behält sich Österreich-Ungarn das Recht vor, im ganzen Bereich dieses Teils des
vormaligen Vilajets von Bosnien Garnisonen zu halten und Militär-und Handelsstraßen zu
besetzen. Zu diesem Zwecke behalten sich die Regierungen von Österreich-Ungarn und
der Türkei vor, sich über die Einzelheiten zu verständigen. 26
Der Artikel 25 gab der Donaumonarchie das Recht der Besetzung und Verwaltung der beiden
osmanischen Provinzen. Novi Pazar hingegen blieb weiterhin unter der Verwaltung der
Osmanen. 27 Hier hatte aber Österreich-Ungarn das Recht, Truppen aufzustellen und
Handelswege zu errichten. 28 Der Artikel 25 enthält aber keinerlei zeitliche oder inhaltliche
Eingrenzung: „Er gibt also weder darüber Aufschluss, ob dieser Zustand als provisorisch oder
endgültig zu betrachten ist, noch ob die Monarchie die diesbezüglichen Rechte und Pflichten
in eigenem Namen ausüben solle.“ 29 Um den Berliner Akten zuzustimmen, stellten die
Türken eine Bedingung auf: Österreich-Ungarn soll schriftlich erklären, dass die Okkupation
nur provisorisch sei. In einer Geheimkonvention, die am 13.Juli 1878 zwischen Wien und
24
Im gesamten Text wird diese Schreibweise verwendet.
Im gesamten Text wird diese Schreibweise verwendet.
26
Otto Frass, Quellenbuch der österreichischen Geschichte. Von Joseph II. bis zum Ende der Großmacht, Band
3, Birken-Verlag, Wien 1962, Nr.181, 279.
27
Vgl. W.M. Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise. Russische und
österreichisch-ungarische Balkanpolitik 1906-1908,Uppsala 1955, 2.
28
Vgl. Leopold von Chlumecky, Erzherzog Franz Ferdinands Wirken und Wollen, Verlag für Kulturpolitik,
Berlin 1929, 95.
29
Kamler, Annexion und Erwerb, 54.
25
9
Konstantinopel abgeschlossen wurde, wurde seitens der Monarchie nochmals der
provisorische Charakter der Provinzen bestätigt. In der „Konstantinopeler Konvention“ vom
21.April 1879 wurde die Souveränität des Sultans gesichert. 30
Zusammenfassend ist zu sagen, dass „Österreich-Ungarn auf Grund der völkerrechtlichen
Vereinbarungen von 1878 und 1879 die volle Ausübung der Staatsgewalt - nicht aber letztere
selbst - in Bosnien und der Herzegowina eingeräumt worden war.“ 31
2.2.2
Militärische Besetzung und Verwaltung
Österreich rechnete mit einer sofortigen Inbesitznahme Bosniens. Als aber die ersten Truppen
am 29.Juli 1878 nach Bosnien einmarschierten, stand die österreichisch-ungarische Armee
vor einem großen Widerstand. Moslemische Gruppen, unterstützt von den Osmanen, lieferten
den Österreichern blutige Kämpfe. Daraufhin verdoppelte die Habsburgermonarchie ihre
Truppen von 72.000 auf 155.000 Mann. 32 Die Auseinandersetzungen waren sehr schwierig,
und erst nach vielen Gefechten wurde am 6.August 1878 Mostar und zwei Wochen später
Sarajewo eingenommen. Nach Erhöhung der Truppen auf 160.000 Mann konnte auch die
Okkupation der Herzegowina am 23.September 1878 abgeschlossen werden. Bosnien fiel am
20.Oktober. 33 Der Monarchie gelang es also erst nach drei Monaten, das osmanische
Staatsgebiet Bosnien-Herzegowina, wie es in der folgenden Karte zu sehen ist, zu okkupieren.
30
Vgl. Rubina Möhring, Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich 1908-1912
(Dissertation), Wien 1978, 1f.
31
Kamler, Annexion und Erwerb, 58.
32
Vgl. Buchmann, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, 227.
33
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 46f.
10
Abb.2: Zerfall der europäischen Türkei (vor 1878).
Vgl. Brzobohaty/ Salmeyer/Zellhofer (u.a.), Zeitfenster 6. Lehrbuch für Geschichte,
Sozialkunde und Politische Bildung für AHS, Wien 2013, 111.
WWW:
http://www.hoelzel.at/einzelnews.html?&cHash=727b94a6fdf552fecec6cd2ad7932afb&tx_ttn
ews[sViewPointer]=1&tx_ttnews[tt_news]=73 [Zugriff am: 13.11.2013]
Zwischen dem Osmanischen Reich und Bosnien-Herzegowina bestand nach 1878 kaum
politischer Bezug mehr. Der einzige Zusammenhang war, dass in den Moscheen für den
11
Sultan als Landesherrn gebetet wurde und dass das religiöse Oberhaupt der Moslems die
Investitur in Konstantinopel beantragen musste. 34
Die neue Provinz wurde wie eine Kolonie vom gemeinsamen k.u.k. Finanzministerium
verwaltet. Sie wurde weder in die österreichische, noch in die ungarische Reichshälfte
eingegliedert. Obwohl Bosnien und Herzegowina formal dem Osmanischen Reich
angehörten, wurde den Bewohnern die rechtliche Gleichstellung mit den Bewohnern der
Donaumonarchie gewährt. Österreich hatte ein „Einrichtungswerk“ zu vollbringen: Das sich
selbst überlassene Gebiet musste neu gestaltet werden. Das Leben in der von der Pforte völlig
ruinierten Provinz wurde an das übrige Leben in der Monarchie angepasst. Es wurde mit der
agrarischen Urbarmachung begonnen. Schulen, Spitäler, Waisenhäuser und Pflegeheime
wurden errichtet. Die Verkehrsinfrastruktur wurde von Null begonnen: Straßen und Bahnen
wurden angelegt.
Der Neuaufbau der Kolonie kostete Unsummen an Geld. Die Donaumonarchie musste
aufgrund der desolaten Lage von Bosnien und Herzegowina sehr viel in das Einrichtungswerk
investieren. 35
34
Vgl. Freiherr von Musulin, Das Haus am Ballhausplatz. Die Erinnerungen eines österreichisch-ungarischen
Diplomaten, Verlag für Kulturpolitik, München 1924, 164.
35
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 227ff.
12
3
3.1
Die Entstehung der Jungtürkischen Bewegung
Die Jungosmanen
Im langsam zusammenbrechenden Osmanischen Reich kam im 19.Jahrhundert unter einem
bestimmten Teil der Bevölkerung der Gedanke hoch, das Reich der europäischen Welt
anzupassen. Besonders nach dem Krimkrieg fing man an, den europäischen Einfluss im
Osmanischen Reich zu spüren. Es bildete sich eine gewisse Intellektuellenschicht heraus, die
begann, Begriffe wie „Parlament“, „Vaterland“ oder „Verfassung“ zu verwenden. 36
Konservative Gegner des Sultans im Osmanischen Reich vermehrten sich, darunter die in den
60er-Jahren des 19.Jahrhunderts entstandene Bewegung der „Jungosmanen“ (türk. „Genç
Osmanlilar“), die sich 1865 geheim konstituiert hatten. Zu den wichtigsten
Gründungsmitgliedern gehörten der berühmte Dichter Namik Kemal, Ziya Bey und Ali Suavi.
Die Gruppe richtete sich gegen die Tanzimat-Reformen des Sultans, die nach Ansicht der
Jungosmanen keine Demokratie herbeischafften, sondern vielmehr den Absolutismus des
Herrschers absicherte. 37 Um das erwünschte Ziel zu erreichen, musste der absolutistische
Regierungsstil des Sultans abgeschafft werden. Denn dieser stellte ein Hindernis für die von
den Jungosmanen geforderte Europäisierung dar. 38 Als die im Untergrund gegründete
Bewegung 1867 von der osmanischen Regierung entdeckt wurde, mussten alle (inzwischen
umfasste die Bewegung ungefähr 250 Mitglieder) nach Paris emigrieren. Im Exil gaben die
Jungosmanen verschiedene Zeitschriften heraus, darunter die noch heute in der Türkei
existierende Zeitung „Hürriyet“. 1870 konnten die Exilanten heimkehren. Sie setzten in
Konstantinopel ihre publizistische Tätigkeit fort. Da aber das gesellschaftliche Fundament
fehlte, konnten sie keinen Erfolg erzielen. 39
Sultan Abdülhamid II. beseitigte in den 70er-Jahren des 19.Jahrhunderts, in der sogenannten
„zulüm dönemi“ (d.h. „Unterdrückungsära“), alle ihm politisch gefährlich erscheinenden
36
Vgl. Mehmet Hacisalihoglu, Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890-1918), Oldenbourg Verlag
GmbH, München 2003, 58f.
37
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 237.
38
Vgl. Metin Yildirim, Türkischer Nationalismus Gestern und Heute, Die Auswirkungen des nationalistischen
Diskurses auf die türkische Gesellschaft vom 19.Jahrhundert bis zur Gegenwart (Magisterarbeit), Freiburg 2010,
24.
WWW:http://books.google.at/books?id=jIu73oRDhNgC&pg=PT30&lpg=PT30&dq=jungosmanen&source=bl&
ots=jG4GCill45&sig=sqthEkTHnY_JkdWinUOLLnNkjYs&hl=de&sa=X&ei=G7EcUprIPKrP4QSTwIFI&sqi=
2&ved=0CF4Q6AEwCQ#v=onepage&q=jungosmanen&f=false [Zugriff am: 27.08.2013].
39
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 237.
13
Personen und Gruppen. In dieser Zeit fanden auch die Jungosmanen ihr Ende: Sie wurden
verbannt, kamen ins Gefängnis oder übernahmen verschiedene staatliche Ämter. 40
3.2
Die Anfänge der Jungtürken
Nach der Vernichtung der Jungosmanen dauerte es zwei Jahrzehnte, bis sich die Opposition
gegen den absolutistisch und ohne Parlament herrschenden Sultan Abdülhamid II. 41 neu
bilden konnte. 1885 wurde in Paris von Emigranten die Zeitschrift „La Jeune Turquie“ (dt.
„Die Junge Türkei“) gegründet, die namensgebend für die spätere Erneuerungsbewegung im
Osmanischen Reich, der „Jungtürkischen Bewegung“, wurde. Nicht nur im Ausland, sondern
auch in der Heimat wurden die Stimmen der Opposition laut. Die Welle der Verhaftungen und
Verfolgungen begann - wie schon zuvor bei den Jungosmanen. Doch diesmal konnte der
Terror des Sultans nicht viel bewirken. Die Opposition war erstarkt. 1889 wurde das
Geheimkomitee „Ittihat ve Terakki“ (d.h. Einheit und Fortschritt) von Studenten der
Militärärztlichen Akademie in Istanbul gegründet. Bald traten dieser politischen Gruppierung
auch Studenten anderer Universitäten, sowie Beamte, Intellektuelle und Offiziere bei. 42 Auch
die Mitglieder dieser Gruppe waren Abdülhamid II. ein Dorn im Auge, weshalb viele ins
Ausland emigrieren mussten (v.a. nach Westeuropa) und dort „in verschiedenen
Gruppierungen Front machten und eine rege publizistische Tätigkeit entfalteten“. 43 Das
Hauptziel aller Gruppen war die Wiederherstellung der Verfassung von 1876.
1902 misslang das gemeinsame Vorgehen der Exilgruppen, und es bildeten sich zwei Parteien
heraus: die „Liberalen“ und die „Nationalisten“. Die Nationalisten unter Ahmet Riza fanden
in der Heimat größeren Beifall bei den Intellektuellen als die liberalistische Fraktion des
Prinzen Sabaheddin. 44
40
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 240.
Abdülhamit II. hatte 1878 das Parlament wieder aufgelöst.
42
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 249.
43
Ebd. 249.
44
Vgl. ebd. 250.
41
14
3.3
Die Jungtürkische Revolution
3.3.1
Mürzsteger Programm
Die weitgehende Unwirksamkeit der bisherigen Reform- und Friedensversuche der
europäischen Großmächte am Balkan veranlasste den Zaren Nikolaus II. und den
österreichisch-ungarischen Kaiser Franz Joseph I., einander zu treffen. 45 Die beiden kamen
am 30.September 1903 im steirischen Mürzsteg zusammen, um die Lage des Balkans zu
besprechen - „zum letzten Mal fanden die beiden Mächte zu einer gemeinsamen Regelung.“ 46
Die Verhandlungen dauerten bis 3.Oktober 1903. In den Beratungen erarbeiteten
Goluchowski und Lambsdorff, die Außenminister beider Reiche, eine Reihe von Reformen,
die als „Mürzsteger Programm“ in die Geschichte eingingen. Die in Mürzsteg entworfenen
Ideen dienten bis 1908 als Grundlage in der mazedonischen Reformfrage. Um nur die
wichtigsten Punkte zu nennen:
•
Reorganisation der Justiz-und Finanzverwaltung
•
Reorganisation der Gendarmerie
•
Einführung von Kontrollinstanzen
•
Ernennung eines österreichisch-ungarischen und eines russischen Zivilagenten. Deren
Aufgabe war es, den türkischen Generalinspektor der drei makedonischen Wilajets
Üsküp (Skopje), Monastir und Saloniki zu beraten und zu kontrollieren 47
Da mit der Forderung, die im letzten Punkt vorkommt, die Souveränität des Sultans verletzt
wurde, lehnte Abdülhamid II. die Beschlüsse des Mürzsteger Abkommens zunächst strikt ab.
Der osmanische Herrscher akzeptierte erst am 24.November 1903 „nach fast vierwöchigem
Sträuben“ 48 das „Mürzsteger Programm“. Das makedonische Reformprogamm dauerte bis
zum Jahre 1908. 49
Die durch innere Unruhen und Aufstände geschwächten Osmanen zeigten gerade in der
mazedonischen Frage, „wie wenige Bereiche der Handlungsfreiheit das Osmanische Reich
45
Vgl. Isabel F. Pantenburg, Im Schatten des Zweibundes, Probleme österreichisch-ungarischer Bündnispolitik
1897-1908, Böhlau, Wien [u.a.] 1996, 330.
46
Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 245.
47
Vgl. Pantenburg, Im Schatten des Zweibundes, 331.
48
Ebd. 345.
49
Vgl. Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, 266.
15
sich noch zu bewahren imstande war, alle wichtigen Fragen wurden in erster Linie von den
Großmächten entschieden, und die Türken konnten darauf nur in einem sehr bescheidenen
Umfang reagieren.“ 50
3.3.2
Jungtürkische Erhebung 1908
„Gegen all diese Verfallserscheinungen im Reiche“ 51 bildeten sich nach 1905 nun auch im
Osmanischen Reich oppositionelle Gruppen, um das autokratische Regime des Sultans zu
stürzen. Das Zentrum der Jungtürken war die makedonische Stadt Thessaloniki. Seit dem
Jahre 1906 waren hier die Mitglieder des „Ittihat ve Terraki“ im Untergrund tätig. 52
Das Mürzsteger Reformprogramm, das von Russland und der Habsburgermonarchie
beschlossen wurde, „brachte der jungtürkischen Opposition einen weiteren Auftrieb“. 53 Sie
hatte nun freien Kontakt zu europäischen Streitkräften und konnten somit ihr abendländisches
Gedankengut erweitern.
Nicht nur in Makedonien, sondern auch in den anderen Teilen des Reiches war die
revolutionäre Bewegung der Jungtürken im Gange. 1907 fassten die verschiedenen
Gruppierungen der Jungtürkischen Bewegung in Paris den Entschluss, den Kampf für die
konstitutionelle Monarchie zu starten und begannen dieses Ziel ein Jahr später offen zu
vertreten. Abermals reagierte der Herrscher des Osmanischen Reiches mit harten
Sanktionen. 54
Die Unruhen in Makedonien zum Anlass nehmend, kam es Anfang Juni 1908 zu einem
Treffen des englischen Königs Eduard VII. und des russischen Herrschers Nikolaus II. in
Reval (heute: Tallin). Das Treffen behandelte tatsächlich in erster Linie die Mazedonische
Frage. Großbritannien, das bis 1906 den Balkan vor russischem Einfluss schützen wollte,
begann sich für die Unabhängigkeit Mazedoniens einzusetzen. Mitte Juni wurde ein
Reformprogramm erarbeitet, das zunächst den anderen Großmächten, dann dem Sultan
vorgelegt werden wollte. 55
50
.Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, 266.
Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, 266.
52
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 251.
53
Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 247.
54
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 251.
55
Vgl. Hacisalihoglu, Die Jungtürken und die Mazedonische Frage, 164.
51
16
Über dieses Vorhaben waren die Jungtürken sehr beunruhigt. Denn das Treffen kündigte ihrer
Ansicht nach den baldigen Verlust Makedoniens an. Die Inlandzentrale der Jungtürken, die
aus Talaat Bey, Hakki Bey, Ismail Bey, Cemal Bey und Enver Bey bestand, zog einen
Aufstand in Betracht. Am 25.Juni 1908 wurde in Saloniki die Entscheidung getroffen: Enver
Bey sollte in die Berge gehen und von dort den Aufstand anzetteln. Auch Ahmed Niyazi Bey,
ein Offizier albanischer Herkunft, zog mit 200 Männern am 3.Juli 1908 in die Berge. Somit
begann die „Jungtürkische Revolution“. 56
Als die jungtürkische Vereinigung mit einem Marsch in die makedonische Hauptstadt drohte,
war der Sultan Abdülhamid II. gezwungen am 24.Juli 1908 die Verfassung von 1876
wiedereinzuführen. 57
Abb.3: Sultan Abdülhamid II. nach der Wiedereinführung der Verfassung auf dem Weg in die
Moschee zum Freitagsgebet.
Vgl. Ebert, Die Chronik-Geschichte des 20.Jahrhunderts bis heute, 67.
56
57
Vgl. Hacisalihoglu, Die Jungtürken und die Mazedonische Frage, 163f.
Matuz, Das Osmanische Reich, 251.
17
4
Reaktion der Donaumonarchie auf die Jungtürkische Revolution
Mit dem Inkrafttreten der Verfassung kam der Parlamentarismus im Osmanischen Reich zu
Kräften. Aus allen Provinzen sollten Delegierte gewählt und in das Zentralparlament nach
Konstantinopel geschickt werden. In Bosnien gab es noch keine Verfassung. Da stellte sich
nun folgende Frage: „Was konnte die österreichisch-ungarische Regierung dagegen tun, wenn
ein Teil der Bosnier sich dem türkischen Parlament unterordnet und Abgeordnete nach
Stambul [Istanbul, Anm.d.V.] schickte?“58 Österreich-Ungarn war durch diesen Wandel
verängstigt und musste sofort reagieren. Denn ansonsten wäre die langjährige Aufbauarbeit in
Bosnien-Herzegowina vergebens gewesen. 59
Nicht nur die Furcht, die Interessen auf dem Balkan könnten durch die Jungtürken
beeinträchtigt werden, sondern auch Gegensätze zu Serbien 60 veranlassten die
Regierungsstellen der k.u.k. Monarchie zu verschiedenen Beurteilungen.
Im Folgenden wird daher versucht, nach einer biographischen Darstellung der k.u.k.
Funktionäre auf die Reaktion der einzelnen Regierungsstellen einzugehen. Dabei wird der
Zeitabschnitt vom Ausbruch der Revolution im Juli 1908 bis zur Durchführung der Annexion
im Oktober 1908 behandelt.
4.1
4.1.1
Kaiser
Franz Joseph I.
Am 18.August 1830 kam das erste Kind der Erzherzogin Sophie und des Erzherzogs Franz
Karl in Wien auf die Welt. Es erhielt den Namen des Vaters und des Großvaters, des Kaisers
Franz. Obwohl Sophie noch drei Söhne gebar, bildete Franz den Mittelpunkt des Lebens der
Erzherzogin Sophie. 61 Sie erzog den Erzherzog, auf dessen glanzvolle Zukunft hoffend,
gezielt zum Thronfolger, wie Redlich in der Biographie des Kaisers Franz Joseph schreibt.
„Früh muß sie sich mit dem Entschluss vertraut gemacht haben, die Thronfolgerechte ihres
58
Hantsch Hugo, Geschichte Österreichs, Band 2, Verlag Styria, Graz; Wien (u.a.) 1953, 522.
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 248.
60
Zwischen der Donaumonarchie und dem serbischen Reich herrschten seit dem „Schweinekrieg“ im Jahre
1906 zollpolitische Gegensätze und somit eine feindliche Stimmung.
61
Vgl. Joseph Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1928, 17f.
59
18
Gatten und ihre eigene Hoffnungen auf den Rang der Kaiserin zu Gunsten ihres Sohnes
zurücktreten zu lassen.“ 62
Der Erzherzog Franz hatte eine anstrengende Kindheit und Knabenzeit gehabt. Er bekam eine
sorgfältige und vielseitige Erziehung. Aufgrund seines Sprachtalentes lernte Franz viele
Sprachen: er sprach Deutsch, Magyarisch, Tschechisch, Italienisch, Französisch und Latein.
Obwohl er streng religiös erzogen wurde, war Franz Joseph nie ein Frömmler. 63 Nebst
sprachlicher, kultureller und musikalischer Erziehung erhielt er als erster Thronfolger auch
eine militärische Ausbildung zum Offizier. 64
Nach der Niederschlagung der Oktoberrevolution und der Abdankung des Kaisers Ferdinand
I. am 2.12.1848 in Olmütz folgte Erzherzog Franz im Alter von 18 Jahren seinem Onkel auf
dem Thron. 65 Bei der Thronbesteigung nahm er den Namen Franz Joseph I. an, um an den
„Volkskaiser“ Joseph II. zu erinnern. 66 Da Franz den Thron in einer Zeit der Wirren
(Revolution, Nationalitätenproblem, u.a.) bestieg, mussten baldigst politische Veränderungen
im Reich erfolgen:
Ausgestattet mit manchen Talenten, getragen von einer hohen Anschauung von seiner
kaiserlichen Würde und Macht, beseelt von einem tatendurstigen guten Willen,
gefestigt in Selbstdisziplin und Pflichtbewußtsein, ging Franz Joseph mit dem feurigen
Eifer eines jugendlichen Optimismus daran, die durch die Revolution schwer
erschütterte Monarchie in jeder Weise zu regenerieren, vor allem die kaiserliche
Autorität und die Integrität seines Reiches wieder herzustellen. 67
Doch weder das gut funktionierende Polizeisystem noch die Verwaltung waren imstande, die
innere Probleme, die das Jahr 1848 gebracht hatte, gänzlich zu beseitigen. 68
62
Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, 18.
Vgl. ebd. 31.
64
Vgl. Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, 34.
65
Vgl. Hugo Hantsch, Franz Joseph. In: Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie,
Band 5, Berlin 1961, 361-364.
WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118535013.html [Zugriff am: 27.10.2013]
66
Vgl. Martin Mutschlechner, Franz Joseph I.
WWW: http://www.habsburger.net/de/personen/habsburger-herrscher/franz-joseph-i [Zugriff am: 30.10.2013]
67
NDB 5, Franz Joseph.
68
Vgl. ebd.
63
19
1853 überlebte der Kaiser das Attentat des ungarischen Schneidergesellen János Libényi.
Zum Gedenken an diese unglückliche Begebenheit wurde die Votivkirche in Wien errichtet. 69
Noch im selben Jahr lernte Franz Joseph in Ischl die Tochter des Herzogs Max von Bayern
und der Herzogin Ludovika, Elisabeth von Bayern kennen, die er schließlich am 12.April
1854 heiratete. 70 Aus der Ehe entstammten vier Kinder: Sophie Friederike, Gisela, Rudolf und
Marie Valerie.
Obwohl Franz Joseph wenig kunstinteressiert war, waren seine kulturellen Taten dennoch so
treffend, dass bis heute noch Zeugnisse erhalten sind, wie zum Beispiel die Anlage der
Ringstraße und die Stadterweiterung Wiens im Jahre 1857. 71 Das folgende Relief, das im
Kunsthistorischen Museum in Wien zu sehen ist, bildet ein „Denkmal“ der Ringstraße bzw.
der Stadterweiterung:
Abb.4: Werke und Taten des Kaisers, KHM.
WWW: http://www.viennatouristguide.at/Ring/KHM/Stiegenhaus/khmarch.htm [Zugriff am:
30.10.2013]
Nach zehn Regierungsjahren hatte der Kaiser seine wichtigsten politischen Ziele erreicht:
Die Monarchie stand auf festen Füßen, die Autorität wurde nicht mehr in Frage
gestellt, Ansehen und Machtstellung waren anerkannt, wirtschaftliches und geistiges
69
Vgl. Stephan Gruber, Franz Joseph, der oberste Bürokrat.
WWW: http://www.habsburger.net/de/kapitel/franz-joseph-der-oberste-buerokrat [Zugriff am: 30.10.2013]
70
Vgl. Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, 152.
71
Vgl. NDB 5 Franz Joseph.
20
Leben waren in sichtbarem Aufschwung begriffen. Es waren wahrscheinlich die
glücklichsten Jahre eines noch lange währenden Lebens. 72
Seit den militärischen Niederlagen 1859 73 und 1866 74, die das politische Selbstbewusstsein
des Kaisers Franz Joseph I. geschwächt haben, begannen die Unruhen im Reich wieder.
Österreich schied nach der verlorenen Schlacht bei Königgrätz aus dem Deutschen Bund
aus. 75 Im Jahre 1867 kam es zum Ausgleich mit Ungarn: „Von nun an hielt Franz Joseph
unverbrüchlich am Dualismus fest, und neben den gemeinsamen Angelegenheiten
(Außenpolitik, Armee, Reichsfinanzen) bildete seine Person als Kaiser von Österreich und
König von Ungarn das stärkste einigende Band der Monarchie.“ 76
Trotz der tiefen Kluft zwischen Franz Joseph und seinem Sohn Rudolf - im Gegensatz zu
seinem Vater, sympathisierte Rudolf mit dem Liberalismus und mit der ungarischen
Opposition - war der Selbstmord des Kronprinzen am 30.1.1889 der schwerste Schlag im
Leben des Kaisers. Ca. zehn Jahre später, am 10.9.1898, wurde die Gemahlin Franz Josephs,
Kaiserin Elisabeth, von einem italienischen Anarchisten ermordet. 77
Franz Joseph zog sich mit zunehmendem Alter immer mehr aus dem politischen Geschehen
zurück. Nach der Annexion Bosnien und Herzegowinas im Jahre 1908 war Österreich-Ungarn
stark isoliert. Im europäischen Raum herrschte eine sehr brisante Lage. Als in dieser
gefährlichen Zeit der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin von dem Serben
Gavrilio Princip ermordet wurden, erklärte Österreich dem serbischen Reich den Krieg. Es
folgten weitere Kriegserklärungen und somit begann im Jahre 1914 der Erste Weltkrieg. 78
Der Kaiser starb am 21.November 1916, inmitten des Weltkrieges, an den Folgen einer
Lungenentzündung. 79
72
NDB 5, Franz Joseph.
Nach der verlorenen Schlacht bei Solferino musste Franz Joseph die Lombardei, die reichste Provinz des
Landes, abtreten.
74
Österreich verlor die Schlacht bei Königgrätz gegen Preußen und wurde de facto aus Deutschland
ausgeschlossen.
75
Vgl. Wandruszka, Österreich-Ungarn vom ungarischen Ausgleich bis zum Ende der Monarchie (1867-1918).
386.
76
NDB 5, Franz Joseph.
77
Vgl. Wandruszka, Österreich-Ungarn vom ungarischen Ausgleich bis zum Ende der Monarchie (1867-1918).
386.
78
Vgl. Mutschlechner, Franz Joseph I.
79
Vgl. Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, 462.
73
21
4.1.2
Reaktion des Kaisers
Kaiser Franz Joseph I. konnte den neuen Ereignissen in der Türkei nicht tatenlos zusehen.
Denn die Jungtürken beabsichtigten nach der wiedereingeführten Verfassung die Provinzen
wieder unter die osmanische Herrschaft zu bringen und Vertreter aus allen Provinzen - auch
aus Bosnien und Herzegowina - ins neue Parlament nach Konstantinopel zusammenzurufen. 80
Als Aehrenthal dem Kaiser die Annexion der beiden Provinzen und die Räumung des
Sandschaks von Novi Pazar vorschlug, um die Mission in diesem Einrichtungswerk zu
vollenden, stimmte Franz Joseph dem Vorhaben zu. Der k.u.k. Außenminister brachte bei der
Ministerratsversammlung vom 19.August 1908 die Billigung des Monarchen bezüglich der
Annexion von Bosnien und der Herzegowina zum Ausdruck: „Seine Majestät habe diesem
Vorschlag mit dem Auftrage allergnädigst zuzustimmen geruht, behufs Vorbereitung dieser
Aktion mit den beiden Ministerpräsidenten das Einvernehmen zu pflegen […].“ 81
Nach den beiden Ministerratsversammlungen, die am 19.August und am 10.September
stattfanden, um die Annexion der beiden osmanischen Provinzen vorzubereiten, verständigte
Kaiser Franz Joseph in Privatschreiben die europäischen Mächte über die Einverleibung von
Bosnien und der Herzegowina und das Zurückziehen der Truppen aus dem Sandschak von
Novi Pazar. 82
80
Vgl. Francis Roy Bridge, Österreich (-Ungarn) unter den Grossmächten. In: Adam Wandruszka/ Peter
Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie, Band 6/1, Verlag der österreichischen Akademie der
Wissenschaften, Wien 1989, 314f.
81
GP, Nr.40,42.
82
Siehe Kapitel 5.2
22
4.2
4.2.1
Thronfolger
Franz Ferdinand von Österreich-Este
Franz Ferdinand - seit 1875 „von Österreich-Este“ - kam am 18.Dezember 1863 in Graz auf
die Welt. Er genoss eine vorbildliche Erziehung in humanitären und militärischen
Gegenständen. Nachdem er bei den oberösterreichischen Dragonern und der böhmischen
Infanterie gedient hatte, wurde er als Oberst-Regimentskommandant nach Ungarn geschickt.
Er konnte keine Bindung zu den ungarischen Soldaten aufbauen, von daher rührt seine
Abneigung gegenüber den Magyaren. 83
Nach dem Selbstmord des Kronprinzen (1889) wurde Erzherzog Franz Ferdinand, der Neffe
Franz Josephs, im Jahre 1894 zum Thronfolger. Auch zwischen Onkel und Neffe herrschte,
wie zwischen dem Kaiser und seinem Sohn Rudolf, eine tiefe Kluft. Franz Ferdinand war
streng konservativ und katholisch. Seine Beziehung mit der Gräfin Sophie Chotek
verschlechterte das Verhältnis Franz Josephs und des Thronfolgers noch mehr. 84 Franz
Ferdinand hatte sich in die Gräfin Sophie Chotek verliebt und beschloss sie zu heiraten. Die
an Franz Joseph gerichtete Bitte, diese Ehe zu bewilligen, regte den Kaiser äußerst auf. Denn
der Monarch war strikt gegen diese Heirat, „weil das alte Geschlecht der böhmischen Grafen
nicht zu jenen Familien gehörte, denen aufgrund der deutschen Bundesakte 1814 […] das
Connubium mit den regierenden Häusern zuerkannt war.“ 85 Der Kaiser gab schlussendlich
der Ehe seine Zustimmung, aber mit der Bestimmung der nicht standesgemäßen Heirat. Der
Thronfolger musste vor der Vermählung den Thronverzicht für seine Kinder in einem
offiziellen Akt bestätigen:
Bevor wir aber zur Schließung des ehelichen Bundes schreiten, fühlen Wir Uns
veranlaßt, unter Berufung auf die oberwähnten Hausgesetze des durchlauchtigsten
Erzhauses, deren Bestimmungen Wir noch ganz besonders im Hinblick auf die
gegenwärtige von Uns einzugehende Ehe vollinhaltlich und als bindend erklären,
festzustellen, daß Unsere Ehe mit Gräfin Chotek nicht eine ebenbürtige, sondern eine
83
Vgl. Rudolf Kiszling, Franz Ferdinand. In: Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.), Neue Deutsche
Biographie, Band 5, Berlin 1961, 364-365. WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118535005.html
[Zugriff am: 27.10.2013]
84
Vgl. Wandruszka, Österreich-Ungarn vom ungarischen Ausgleich bis zum Ende der Monarchie (1867-1918),
386.
85
Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, 422.
23
morgantische Ehe […] ist, demzufolge weder Unserer Frau Gemahlin, noch den mit
Gottes Segen aus dieser Unserer Ehe zu erhoffenden Kindern und deren Nachkommen
jene Rechte […] zustehen […].86
Am 1.Juli 1900 erfolgte die Eheschließung auf dem Schlosse Reichstadt. 87
Die Außenpolitik Franz Ferdinands war gekennzeichnet durch die enge Freundschaft mit dem
deutschen Kaiser Wilhelm II. Der Thronfolger war stets bemüht, den Frieden zu erhalten. Aus
diesem Grunde lehnte er beispielsweise den Krieg gegen Serbien im Jahre 1909 ab.
Im Sommer 1913 ernannte Franz Joseph seinen Neffen zum „Generalinspektor der gesamten
bewaffneten Macht“. Am 28.Juni 1914 war Franz Ferdinand als Generalinspektor der
österreichisch-ungarischen Armee zusammen mit seiner Gattin Sophie an den Manövern in
Bosnien beteiligt. Der serbische Geheimdienst sah den Besuch des Thronfolgerpaares als
Provokation an und organisierte mit jungen Nationalisten ein Attentat, dem der Thronfolger
samt seiner Gemahlin am 28.Juni zum Opfer fiel. 88
Einen Tag nach dem Attentat wurden die ersten Berichte in den Zeitungen veröffentlicht. Bis
die ersten Fotos aber publiziert werden konnten, dauert es eine Woche. Denn diese wurden
damals mit der Bahn zu den Redaktionen übermittelt. Am 5. Juli erscheint das erste Bild in
„Wiener Bilder“ und am 9. Juli erscheint dasselbe Bild im „Interessanten Blatt“. Der
Fotograf des Bildes wird in beiden Zeitungen nicht angegeben. 89
86
Frass, Quellenbuch 3, Nr.198, 303.
Vgl. ebd. 423.
88
Vgl. NDB 5, Franz Ferdinand.
89
Anton Holzer, Der Mörder, der keiner war. In: Die Presse. 15.06. 2012.
WWW: http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/766288/Der-Morder-der-keiner-war [Zugriff am:
27.10.2013]
87
24
Abb. 5.: Attentat von Sarajewo. In: Das Interessante Blatt, 9.Juli 1914.
WWW: http://www.habsburger.net/de/medien/attentat-von-sarajewo-zeitungsillustration-1914
[Zugriff am: 12.11.2013]
25
4.2.2
Reaktion des Thronfolgers
Dass eine Annexionsabsicht der osmanischen Provinzen bestand, erfuhr Franz Ferdinand
erstmals im August 1908. 90 Daraufhin richtete er am 6.August 1908 ein Schreiben an den
Außenminister Aehrenthal, in welchem er seine Ablehnung gegen die Annexion zum
Ausdruck brachte:
Im allgemeinen bin ich überhaupt bei unseren desolaten inneren Verhältnissen gegen
alle solche Kraftstückeln.- Meiner Ansicht nach kann sich solche Sachen nur ein
konsolidierter, kräftiger Staat erlauben; […] Sollten aber die Räte der Krone doch die
Annexion für unbedingt notwendig halten, so bin ich für keine Mobilisierung, da
dieselbe zu ganz unnötigen Deutungen Anlaß geben könnte, sondern bloß für eine
Standeserhöhung, die ganz gut ohne Befragung der Parlamente durchzuführen ist. Hat
man den Mut zur Annexion, muß man auch den Mut haben, dies ohne Befragen der
Parlamente zu tun.[…] also ich resumiere: keine Annexion… Muß Annexion sein, für
die ich nicht bin, dann Reichsland unbedingt. Absolut nicht für Stephanskrone […] 91
Das Schreiben Franz Ferdinands zeigt, dass er keine „außenpolitische Risiken in einer Phase
der inneren Schwäche und Zerrissenheit des Habsburgerreiches“ 92 eingehen wollte. Er
betrachtete die Außenpolitik der Monarchie aus einer innen- und verfassungspolitischen
Perspektive. Den Rechten der ungarischen Krone bezüglich Bosniens, die Wekerle bei der
Ministerratssitzung vom 10.September 1908 in Erwägung zieht, sollten auf keinen Fall
zugestimmt werden. 93
Auf Wunsch des Außenministers und mit Billigung des Kaisers, wusste Ende August der
Erzherzog noch immer nicht, dass der Beschluss der Annexion bald bevorstand. Denn es
bestand einerseits die Gefahr, dass der Thronfolger dem deutschen Kaiser Wilhelm II.
Informationen weitergeben könnte. 94 Andererseits zeigt die Haltung Franz Josephs I. und
Aehrenthals, dass Franz Ferdinand „kein Mitspracherecht in außenpolitisch brisanten
Angelegenheiten zugebilligt wurde.“ 95
90
Vgl. Günther Kronenbitter, Krieg im Frieden. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik
Österreich-Ungarns 1906-1914,R.Oldenbourg Verlag, München 2003, 337.
91
Frass, Quellenbuch 3, Nr. 205 , 310
92
Kronenbitter, Krieg im Frieden, 337.
93
siehe Kapitel 4.4.4
94
Vgl. Kronenbitter, Krieg im Frieden, 338.
95
Ebd. 338
26
Der Außenminister erhielt am 26.August 1908 von Schiessl, dem Kabinettsdirektor Franz
Josephs, die Mitteilung, dem Thronfolger Anfang September die Annexionsabsicht
bekanntzugeben, damit der Erzherzog nicht in eine unangenehme Lage gerät: 96
Ich halte es für möglich, daß Erzherzog Franz als zum Oberbefehle der Armee
gehörend militärische Einsichtsstücke erhält, die ihm klar machen müssen, was
vorgeht. […] Welches ist dann die Position des Erzherzogs, wenn er ahnungslos zu
den Manövern kommt und dort Eröffnungen [über die Entscheidung der Annexion,
Anm. d. V.] erhält? Und wie ist die Position des Allerhöchsten Herrn und die deine
gegenüber dem Erzherzog, wenn er von Berufenen oder Unberufenen oder gar durch
den fremden Monarchen von der Sache hören sollte? 97
Von Aehrenthal über den bevorstehenden Schritt benachrichtigt, stimmte er schließlich
widerwillig der Einverleibung zu und griff von nun auch in den außenpolitischen Prozess ein.
Für Franz Ferdinand war die „Friedenswahrung ohne Prestigeverlust“ das wichtigste Ziel.
Dies entsprach auch dem Wunsch des Außenministers. 98
Der Thronfolger musste im Oktober 1908 die Annexion als fait accompli akzeptieren. Da
nichts mehr zu ändern war, rechtfertigte er sie den anderen Mächten gegenüber. Innerlich war
Franz Ferdinand aber mit dem Schritt der Annexion niemals einverstanden gewesen entgegen der herrschenden Meinung, dass Franz Ferdinand der geistige Anstifter der
Annexion war. 99 Denn der Plan der Annexion ist dem Reichsfinanzminister Burián
zuzuschreiben. 100
4.3
4.3.1
Außenpolitik
Alois Lexa von Aehrenthal
Alois Lexa Freiherr von Aehrenthal ist am 27.November 1854 in Groß-Skal geboren worden.
Er war der zweite Sohn des Freiherrn Johann Baptist Lexa von Aehrenthal und der Gräfin
96
Vgl. ebd.
NL Ae, Nr.458, 617.
98
Vgl. Kronenbitter, Krieg im Frieden, 338.
99
Vgl. Chlumecky, Erzherzog Franz Ferdinands Wirken und Wollen, 102.
100
Siehe Kapitel 4.5.2
97
27
Marie von Thun-Hohenstein. 101 Aehrenthal, der einem niederen Adelsgeschlecht entstammte,
hatte aufgrund der Herkunft seiner Mutter und seiner Gattin Gräfin Széchenyi Kontakte zum
böhmischen und ungarischen Hochadel. 102
Nach dem Studium der Rechtswissenschaften begann er im Jahre 1877 im österreichischungarischen Ministerium des Äußeren zu arbeiten und wurde als Gesandtschaftsattaché nach
Paris geschickt. 103 Ein Jahr später wurde er der Botschaft in St.Petersburg zugeteilt. Dort
hatte er verschiedene Funktionen inne, bis er 1899 Botschafter in St.Petersburg wurde. 104
Aehrenthal, der als Privatsekretär des österreichisch-ungarischen Außenministers Kálnoky in
den Achtzigerjahren als Gesandter in Bukarest und Diplomat in Russland gearbeitet hatte 105,
wurde im Jahre 1906 von Franz Joseph I. als Nachfolger Goluchowskis zum österreichischungarischen Außenminister ernannt. Alois Lexa von Aehrenthal selbst wollte nicht das Amt
des Außenministers innehaben und willigte nur ein, weil der Kaiser es verlangte. 106
Die Außenpolitik der Donaumonarchie musste in Einigkeit und mit der Zustimmung der
österreichischen und der ungarischen Regierung geführt werden. Denn das außenpolitische
Handeln, das Kriegs- und Finanzwesen gehörten zu jenen Angelegenheiten, die für beide
Reichshälften als gemeinsam erklärt wurden:
Unter den drei gemeinsamen Ministern -, Aussen-, Kriegs-, und Finanzminister- nahm
der Außenminister den ersten Platz ein und hatte das Präsidium in dem gemeinsamen
Ministerrat, an dessen Sitzungen ausser den drei genannten Ministern auch die
Ministerpräsidenten der beiden Regierungen in Wien und Budapest teilnahmen,
mitunter auch andere österreichische und ungarische Regierungsmitglieder oder
höhere Beamte wie Repräsentanten der gemeinsamen Kriegsmacht, in erster Linie der
Generalstabschef. 107
101
Vgl. Berthold Molden, Alois Graf Aehrenthal. Sechs Jahre äußere Politik Österreich-Ungarns, Deutsche
Verlags-Anstalt, Stuttgart und Berlin 1917, 15.
102
Vgl. Bridge, Österreich (-Ungarn) unter den Grossmächten, 310.
103
Vgl. Molden, Alois Graf Aehrenthal, 15.
104
Vgl. Ludwig Bittner, Aehrenthal, Aloys Leopold Johann Baptist Graf Lexa von. In: Otto Graf zu StolbergWernigerode (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, Band 1, Berlin 1953, 89.
WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119182033.html [Zugriff am: 27.10.2013]
105
Vgl. Bridge, Österreich (-Ungarn) unter den Grossmächten, 310.
106
Vgl. Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise. Russische und österreichischungarische Balkanpolitik 1906-1908, 100.
107
Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise, 124 f.
28
Unter Alois Lexa Graf Aehrenthal betrieb die k.u.k. Monarchie eine bestimmtere
Balkanpolitik. Aber auch Aehrenthals russischer Gegenspieler Iswolski 108 suchte nach
Erfolgen auf dem Balkan. Dies konnte nur zu Österreichs Lasten geschehen und trug daher
wesentlich zum Aufbau von Spannungen in dieser sensiblen Zone bei. 109 Außerdem wollte
der k.u.k. Außenminister unbedingt die Abhängigkeit Österreichs von Deutschland
verringern. 110
108
Im gesamten Text wird diese Schreibweise verwendet.
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 246f.
110
Bridge, Österreich(-Ungarn) unter den Grossmächten, 311.
109
29
Abb.6. Alois Graf Aehrenthal.
Vgl. Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise, 112.
30
Der größte politische Misserfolg des Freiherrn Aehrenthals war die nicht genügend
vorbereitete Annexion Bosniens und der Herzegowina im Oktober 1908. Die Einverleibung
der beiden osmanischen Provinzen löste eine internationale Krise aus, und somit verlor die
Monarchie an Vertrauen: „Verschärfte Feindschaft Rußlands und Serbiens, offene
Gegnerschaft Englands, ein Abgleiten Italiens aus dem Dreibundverhältnis, somit also eine
Förderung des Zusammenschlusses der künftigen Gegner im Ersten Weltkrieg waren die
Folge.“ 111 Nach zahlreichen Verhandlungen kam es schließlich im Februar 1909 zur
friedlichen Lösung mit der Türkei. 112
1911 kam es zu einem Konflikt zwischen dem k.u.k. Außenminister und dem Generalstabchef
Conrad, im Zuge dessen Hoetzendorf aus dem Amt entlassen wurde. 113
Ein Jahr später musste Aehrenthal aufgrund seiner fortschreitenden Krankheit - er war an
Leukämie erkrankt - vom Dienst enthoben werden und starb am 17.Februar 1912 in Wien. 114
4.3.2
Reaktion des Außenministers
Als der Reichfinanzminister Burián Anfang Juli dem k.u.k. Außenminister seinen Plan über
die Annexion Bosnien und Herzegowinas bekanntgab, nahm Aehrenthal diesen mit
Wohlwollen auf. 115 Denn der österreichisch-ungarische Außenminister war schon seit
längerem der Überzeugung, „dass über kurz oder lang die Annexion der okkupierten
Provinzen sich als unabweisliche Notwendigkeit darstellen würde.“ 116 Der Vorschlag des
k.u.k. Finanzministers fiel zeitlich zusammen mit der jungtürkischen Revolution und mit der
Aide-mémoire des russischen Außenministers Iswolski vom 2.Juli 1908, der einerseits über
die Meerengenfrage, andererseits über die Annexionsfrage erörterte. Der Vorschlag Buriáns
und das Schreiben Iswolskis mussten den österreichisch-ungarischen Außenminister zutiefst
angeregt haben, so dass er keine Sekunde zögerte und sofort mit den Vorbereitungen für die
förmliche Einverleibung begann. 117
111
NDB 1, Aehrenthal.
Aehrenthal, Aloys Gf Lexa von. In: Österreichisches Biographisches Lexikon, Band 1, 8f.
WWW: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_A/Aehrenthal_Aloys_1854_1912.xml [Zugriff am: 27.11.2013]
113
vgl. ebd.
114
Vgl. ebd.
115
Vgl. Musulin, Das Haus am Ballhausplatz, 164.
116
Ebd. 165.
117
GP, 15, siehe Kommentar.
112
31
Wie der Diplomat Musulin in seinem Werk Das Haus am Ballhausplatz bekanntgab, „hätte er
noch im Juli von Aehrenthal den Auftrag erhalten, nach den von ihm gegebenen Direktiven
die beiden Noten zu verfassen, in denen zu Beginn des Oktobers 1908 der Türkei und den
anderen Mächten des Berliner Vertrages die Ausdehnung der Souveränitätsrechte des Kaisers
Franz Joseph auf die okkupierten Provinzen mitgeteilt werden sollte.“ 118 Am 12.August legte
Musulin die beiden Entwürfe Aehrenthal in Ischl vor, die genauestens besprochen wurden.
Auf Basis dieses Gespräches schrieb der k.u.k. Außenminister Iswolski eine Antwort auf
seine Aide-mémoire vom 2.Juli 1908.119
Am 7.August 1908 schrieb der k.u.k. Außenminister an den österreichischen
Ministerpräsidenten Beck anlässlich der veränderten Lage nach der jungtürkischen
Revolution:
Der Sieg der jungtürkischen Revolution hat zunächst eine Détente in dem Verhältnis
der Mächte untereinander bewirkt. Die englischen und russischen Vorschläge sind
theils zurückgezogen theils suspendirt […] Welches soll nun die Haltung ÖsterreichUngarns gegenüber den kommenden Ereignissen sein? Ich denke, darüber kann eine
wesentliche Meinungsverschiedenheit nicht bestehen […] Die strikte Durchführung
des Nicht-Interventionsprinzip ist aber insolange gefährdet, als wir im Sandschak von
Novi Pazar unsere Garnisonen stehen […] der Ausbruch einer anarchischen
Bewegung oder ein Christenmassacre in diesen Gegenden kann eine Intervention
unsererseits mit ansehnlichen militärischen Kräften gegen unseren Willen und gegen
unser Interesse zu Folge haben. 120
Aehrenthal sah deshalb als letzte Maßnahme die Annexion Bosniens und Herzegowinas, die
„sich aus der unhaltbaren Lage der Gemeinsamen Regierung in der Frage der Gewährung
einer bosnischen Autonomie mit einem Provincial-Landtage“ 121 ergab. Um über den
Annexionsplan zu sprechen, schlug der Außenminister dem österreichischen
Ministerpräsidenten vor, sich zu versammeln: „Aus diesen Erwägungen heraus habe ich mich
entschlossen, bei seiner Majestät um die Ermächtigung einzukommen, mit den beiden Herren
118
Musulin, Das Haus am Ballhausplatz, 166.
Vgl. GP, 15, siehe Kommentar
120
ÖUAP, Nr. 29, 24.
121
Ebd.
119
32
Ministerpräsidenten und mit den Collegen im gemeinsamen Ministerium über die
Vorbereitungen zur Durchführung der Annexion in Verhandlung zu treten.“ 122
Aehrenthal führte folgende drei Aspekte im Privatschreiben an Beck an, die oberste Priorität
für ihn hatten:
•
Notwendigkeit der Zurückziehung der Truppen aus dem Sandschak Novi Pazar
•
Mission Österreich-Ungarns durch Einführung einer Autonomie vollenden
•
Angliederung Bosniens an ein anderes Staatsgebiet nicht möglich 123
Der Außenminister gab außerdem im Brief an, dass er den ungarischen Ministerpräsidenten
Dr. Wekerle mündlich über die Ministerratssitzung informiert habe und dieser möchte, dass
sie am 19. oder 20.August in Wien zusammentreffen und über diese wichtigen
Angelegenheiten sprechen. 124
Was die internationale Situation betraf, beabsichtigte er, den verletzten türkischen Stolz der
Osmanen durch die Rückgabe des Sandschaks zu entschädigen. 125 Aehrenthal entschied sich
für den Verzicht Novi Pazars, da dessen Verteidigung auf Dauer zu kostspielig wäre.
Außerdem hätte die Rückgabe des Sandschaks als Kompensation für das Osmanische Reich
angesehen werden können. 126 Wenn die Türken die Annexion nicht als Teil einer
Expansionspolitik betrachten, sondern als letzten Schritt, eine notwendige Abgrenzung
zwischen österreichischem und türkischem Gebiet, so hätte das sogar die Beziehungen
verbessern können. 127
Unter dem Vorsitz des österreichisch-ungarischen Außenministers Aehrenthal kamen der
ungarische Ministerpräsident Dr. Wekerle, der österreichische Ministerpräsident Dr. Freiherr
von Beck, der Reichskriegsminister Freiherr von Schönaich, der Reichsfinanzminister
Freiherr von Burián und der Generalstabchef Conrad von Hoetzendorf am 19.August 1908 in
Wien zusammen, um die „Auswirkungen der neuen Ereignisse in der Türkei auf Bosnien und
Herzegowina und Annexion dieser Provinzen bei gleichzeitiger Zurückziehung der Truppen
aus dem Sandschak Novi Pazar“ 128 zu besprechen. Aehrenthal, den Gegenstand der
122
Ebd.
Vgl. ÖUAP, Nr.29, 24f.
124
ÖUAP, Nr.29, 24f.
125
Vgl. Bridge, Österreich(-Ungarn) unter den Grossmächten, 315.
126
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 248.
127
Bridge, Österreich(-Ungarn) unter den Grossmächten,315
128
ÖUAP, Nr.40, 41.
123
33
Versammlung als bekannt voraussetzend, sprach über die internationale Lage, die sich nach
der jungtürkischen Revolution verändert hatte. Durch die Umgestaltungen im Osmanischen
Reich mussten zwei wichtige Fragen baldigst besprochen werden:
Die eine dieser Fragen sei die der Monarchie von den Mächten im Berliner Vertrage
übertragene Besetzung und Verwaltung von Bosnien und Herzegowina, die zweite die
ebenfalls auf Grund des genannten Traktates erfolgte Besetzung des Sandschaks von
Novi Pazar. 129
Seit 29 Jahren waren Garnisonen im Limgebiet (Nordteil des Sandschaks) stationiert. Doch
nun war der Zeitpunkt gekommen, diese zurückzuziehen. Denn es konnte dort jederzeit zu
Zwischenfällen kommen, die Österreich-Ungarn in eine sehr schwierige Lage gebracht hätten.
Um die Annexion aber durchzuführen, mussten zunächst die beiden Regierungen in der
Monarchie ein Einvernehmen erzielen. 130 Aehrenthal hatte bis zum Zeitpunkt der
Ministerratssitzung vom 19.August noch keine Verhandlungen mit den anderen europäischen
Mächten durchgeführt, doch war er sich beispielweise der Unterstützung Deutschlands sicher.
Auch Russland würde ihn nicht im Stich lassen. Denn das russische Reich hatte der
Monarchie mehrmals den Besitz der beiden Provinzen in geheimen Verträgen zugesichert.
Italien, England und Frankreich waren auch nicht besorgniserregend. 131 Aehrenthal glaubte
im Gegensatz zu Hoetzendorf nicht, dass Italien ein Problem darstellen werde, weil aufgrund
des Dreibundvertrages Italien sogar verpflichtet war, Bosnien und Herzegowina zu
verteidigen. 132 Der Vorsitzende des Ministerrates rechnete einzig mit dem Widerstand der
Türkei.
In den Vorschlag Wekerles, dass die Annexion in Bezug auf die ungarischen Rechte erfolgen
sollte, willigte der Außenminister nicht ein. Denn dies könnte den Anschein erwecken, dass
die Monarchie weitere Ansprüche erheben will. 133
Der Anregung Wekerles, dass die diplomatischen Vorbereitungen sehr genau erfolgen
mussten, stimmte der österreichisch-ungarische Außenminister zu. Doch der Ansicht
Aehrenthals nach reichte es, wenn Russland diesem Vorhaben zustimmte.
129
ÖUAP, Nr.40, 41.
Ebd. 42.
131
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 43.
132
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 50.
133
Vgl. Anatol Schmied-Kowarzik, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der ÖsterreichischUngarischen Monarchie, Band 6: 1908-1914, Verlag der Österreichischen Akademie, Budapest 2011, 186.
130
34
Außerdem sei keine weitere Zwangslage nötig - wie der österreichische Ministerpräsident
Beck verlangte -, da „für die Monarchie sowohl nach innen wie nach außen eine Zwangslage“
134
bestand.
Der k.u.k. Außenminister schloss die Sitzung mit dem Vorschlag, am 10.September 1908 in
Budapest zusammenzutreffen, um die Frage der Annexion wieder zu erörtern und vor
vollendeten Tatsachen zu stehen.
Aehrenthal antwortete am 27.August 1908 - wie schon oben angeführt - auf die Aidemémoire Iswolskis. Hier ein Auszug aus der Antwort Aehrenthals: „Si toutefois des
circonstances impérieuses obligaient l’autriche-Hongarie, à s’annexer la Bosnie et
l’Herzégovine, le Gouvernement Impérial donnerait l’assurance de vouloir observer à l’égard
de cette mésure une attitude bienveillante et amicale.“ 135 Übersetzung : Wenn unabweisliche
Umstände Österreich-Ungarn dazu zwingen, Bosnien und Herzegowina zu annektieren,
versichert das Kaiserreich, dass in dem Fall eine wohlwollende und freundliche Haltung
eingenommen wird. 136
Ende August bestand zwar offensichtlich der Wunsch der Annexion, wie sowohl den
Ministerratsprotokollen aus August 1908 als auch aus der Antwort an den russischen
Außenminister zu entnehmen ist, doch war die Annexionsabsicht noch nicht fest beschlossen.
In einem Brief des deutschen Grafen Brockdorff-Rantzau, der am 1.September 1908 an
Bülow, den Reichskanzler des deutschen Reiches, verfasst wurde, erfahren wir, dass
Aehrenthal keinerlei Berichterstattungen in der Presse über eine Annexion wünschte:
Bevor ich mich verabschiedete, ersuchte der Minister [Aehrenthal, Anm. d .V.] mich,
Euere Durchlaucht zu bitten, nach Möglichkeit auf die Presse dahin wirken lassen zu
wollen, daß die Frage der Annexion Bosniens und Herzegowina nicht gerade in
diesem wenig günstigen Augenblick des langen und breiten erörtert werde. Die
Regierung beabsichtige jetzt nicht, an die Lösung der Frage heranzutreten, und Baron
Aehrenthal wünscht offenbar, Erörterungen in der Presse vermieden zu sehen […].137
Dem Schreiben des deutschen Staatssekretärs von Schoen vom 5.September an Fürst Bülow
entnimmt man recht deutliche Anspielungen über die Annexionspläne Aehrenthals. Von
134
ÖUAP, Nr.40, 47.
GP, siehe Kommentar,15.
136
Übers. d. V.
137
GP, Nr.8924, 21
135
35
Schoen hatte sich vor dem Verfassen des Briefes in Berchtesgarden mit dem k.u.k
Außenminister getroffen, und es wurde unter anderem auch über die Balkanfragen
gesprochen. Aehrenthal versicherte von Schoen gegenüber, dass sich Österreich Ungarn
solange ruhig verhalten werde, bis keine ungewöhnlichen Umstände auftreten, doch „werde
Österreich-Ungarn nicht umhin können, mit der Zeit einer endgültigen Regelung des
Verhältnisses von Bosnien und der Herzegowina näherzutreten, und diese Lösung könne und
werde keine andere sein können als die der Annexion.“ 138 Auf den Sandschak werde die
Donaumonarchie hingegen verzichten. Denn mit der dort stationierten „schwachen Brigade
würde Österreich-Ungarn eine nationalistische Bewegung nicht unterdrücken können; das
Hineinwerfen weiterer Truppen aber würde nur Öl ins Feuer gießen.“ 139 Wenn Russland
diesen Bedingungen zustimmen würde, „was er annehme, aber noch nicht bestimmt wisse, so
sei er bereit, über die Frage der Öffnung der Meerengen für russische Kriegsschiffe mit sich
reden zu lassen.“ 140
Wie das Treffen mit dem deutschen Diplomaten zuvor, verlief auch die Unterredung
Aehrenthals mit dem italienischen Außenminister Tittoni am 5.September 1908 in Salzburg,
sehr freundschaftlich und es trat keinerlei Widerstand hinsichtlich der Annexionsfrage auf.
Tittoni versicherte dem österreichisch-ungarischen Außenminister seine positive Haltung und
betonte, dass Bosnien und Herzegowina der Donaumonarchie gehören. 141
Am 10.September 1908 wurde die bei der Sitzung vom 19.August angekündigte
Ministerratsversammlung abgehalten. Es nahmen wieder mit Ausnahme Conrads alle bei der
letzten Sitzung anwesenden österreichisch-ungarischen Funktionäre teil. Der Gegenstand
dieses Ministerrates war die Besprechung der Maßnahmen zur Vorbereitung der Annexion
Bosniens und der Herzegowina. 142 Aehrenthal gab im Laufe der Sitzung den
Konferenzteilnehmern einen Überblick über die bisher getätigten diplomatischen und
staatsrechtlichen Vorbereitungen der Annexion 143:
•
Antwortschreiben an Iswolski: Aehrenthal hatte am 27.August dem russischen
Außenminister ein Memorandum geschickt, in welchem er die Annexion der beiden
okkupierten Provinzen zum Ausdruck brachte. Iswolski nahm das Schreiben
wohlwollend auf. Deshalb erwartete er sich keine Schwierigkeiten seitens der Russen.
138
ÖUAP, Nr.32, 27.
Ebd.
140
ÖUAP, Nr. 32, 27.
141
Vgl. ÖUAP, Nr.67, 73.
142
Vgl. ÖUAP, Nr.75, 78.
143
Vgl. ÖUAP, Nr.75, 78f.
139
36
•
Treffen mit von Schoen: Auch kam es zu einem Treffen mit dem deutschen
Staatssekretär von Schoen in Berchtesgaden, welchem er auch seine
Annexionsabsichten mitteilte. Von Schoen zeigte vollkommenes Verständnis, und
auch dieser versprach Beistand.
•
Treffen mit Tittoni: Nach dem Gespräch mit dem italienischen Außenminister Tittoni
in Salzburg ist Aehrenthal überzeugt, dass auch Italien keine Schwierigkeit bereiten
wird.
•
Pallavincis Gespräch mit Ferid Pascha: Des Weiteren hatte Aehrenthal den
Markgrafen Pallavicini dazu veranlasst, den Großwesir Ferid Pascha zu besuchen und
zu erfahren, wie die Türkei im Falle einer Annexion reagieren würde. Der türkische
Regierungschef betrachtete das Zurückziehen der Truppen aus dem Sandschak als
große Konzession, dennoch würde er von einer Annexion abraten, da es keine
Regierung in der Türkei gab, mit der die Donaumonarchie verhandeln könnte. 144
•
Aehrenthal kündigte die Konstantinopeler Konvention vom 21.April 1879, um die
Freiheit hinsichtlich Bosnien und Herzegowina wieder zurückzuerlangen. Er ließ die
Note während der Sitzung vorlesen. 145
Aehrenthal fügte darüber hinaus in der Versammlung vom 10.September hinzu, dass er nur
einen Abbruch der diplomatischen Kontakte mit der Türkei befürchtet. Doch nach der
„Annexion und nachdem der erste Lärm sich gelegt haben werde, würden dann aber die
Beziehungen zur Türkei aller Voraussicht nach wieder wesentlich besser werden als vor dem
Abbruche, weil dann zwischen der Türkei und der Monarchie ein klares Verhältnis hergestellt
sein werde.“ 146
Der Außenminister der Donaumonarchie nannte drei wesentliche Gründe, die ein rasches
Vorgehen verlangten 147:
•
Türkisches Parlament kann einen Beschluss bezüglich Bosnien fassen
•
Gefahr der Konstituierung eines Parlaments in Bosnien
•
Sofortiger Auszug der Truppen aus dem Sandschak kennzeichnet Akt der
Großzügigkeit
144
Vgl. ÖUAP, Nr.75, 80.
Vgl. ÖUAP, Nr.75, 82.
146
ÖUAP, Nr.75, 81.
147
Vgl. ebd.
145
37
Der Vorsitzende der Ministerratssitzung schloss die Versammlung mit der Anmerkung, dass
zur Beseitigung aller offenen Fragen in nächster Zeit nochmals eine Konferenz notwendig
wäre, ab. 148
„Um nun die Frage der Annexion mit dem geringsten Risiko zu verbinden“ 149 - wie der
Außenminister in seinem Brief vom 26.September 1908 an Bülow schrieb - traf sich
Aehrenthal am 16.September mit Iswolski. Sie haben sich als Gäste des Botschafters Graf
Berchtold auf Schloss Buchlau getroffen. 150 Es gibt keine schriftliche Aufzeichnung des
Gespräches. Iswolski wollte eine Niederschrift des Vereinbarten anfertigen und diese dem
Wiener Kabinett zusenden. Doch diese Aufzeichnung kam nie in Wien an. Das Fehlen eines
Schriftstückes führte später zu erheblichen Auseinandersetzungen und Beschuldigungen. 151
Über die Einzelheiten des Treffens erfahren wir in Aehrenthals Schreiben an den Fürst Bülow
vom 26.September 152 und durch Iswolskis Unterredungen mit von Schoen vom 26.September
1908 153.
Aehrenthals teilte Bülow Folgendes über das Treffen mit dem russischen Außenminister mit:
Iswolski hat natürlich die Gelegenheit wahrgenommen, um die Rückwirkung der
Annexion Bosniens und der Herzegowina auf die Balkanverhältnisse zur Erörterung
zu bringen. […] Iswolski denkt sich auch den Augenblick gekommen, wo er auf sein
großes Ziel - eine Modifizierung der Bestimmungen betreffend die Meerengenfragezusteuern könnte. […] Die Meerengen bleiben somit nach wie vor unter der
Herrschaft der Türkei. Die Änderung würde sich bloß auf die Einführung des Rechtes
an die Uferstaaten des Schwarzen Meeres beziehen, daß Kriegsschiffe einzeln die
Meerengen passieren dürfen. Als Gegenleistung für die freundschaftliche Haltung
Rußlands bei der Durchführung der Annexion Bosniens habe ich Iswolski eine gleich
freundschaftliche Haltung der Monarchie in Ansehung des erwähnten russischen
Petites in Aussicht gestellt […].154
Es wurde folglich bei dem Treffen vereinbart, dass sich Russland nur dann ruhig verhalten
wird, wenn die Monarchie den Russen die Durchfahrt durch die Dardanellen gestattet.
148
Vgl. ÖUA, Nr.75, 83.
GP, Nr.8934, 36.
150
Vgl. ebd., 30.
151
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 81.
152
Vgl.GP, Nr.8934, 35-39.
153
Vgl. ebd., Nr.8935, 39-43.
154
GP, Nr.8934, 36f.
149
38
Aehrenthal stimmte aber der Abmachung zu „nur unter der ausdrücklich betonten
Voraussetzung, daß die an den geltenden Bestimmungen vorzunehmenden Änderungen die
Selbständigkeit und die Sicherheit des Sultans nicht tangieren zu dürfen.“ 155
In Iswolskis Äußerungen zum deutschen Staatssekretär erfahren wir, dass Aehrenthal dem
russischen Außenminister nicht nur den Annexionsplan bekanntgab, sondern dass Iswolski
auch den Eindruck erhielt, dass die Annexion bald durchgeführt wird. Von Schoen berichtet
Folgendes an den Fürsten von Bülow:
Herr Iswolski hat den Eindruck, daß Baron Aehrenthal, vielleicht mehr durch
innerpolitische wie durch äußere Erwägungen gedrängt, schon bald an die Lösung
dieser Probleme heranzutreten wünsche. Ohne bestimmte Angaben in dieser Richtung
von Baron Aehrenthal erlangt zu haben, neigt er der Annahme zu, daß der
österreichisch-ungarische Minister bereits den bevorstehenden Delegationen den Plan
der Annexion vorlegen möchte. 156
Damit schien auch mit Russland die Annexionsfrage geklärt zu sein. Da es nur eine
mündliche Abmachung war, wie schon oben erwähnt, hielt sich - im fünften Kapitel wird
darauf näher eingegangen - das Zarenreich nicht an die Vereinbarung. 157
Im Telegramm Tschirschkys, des deutschen Botschafters in Wien, das am 28.September 1908
an das Auswärtige Amt des deutschen Kaiserreiches verfasst wurde, wird deutlich, dass
Aehrenthal die Annexion in naher Zukunft durchführen wird. Einerseits drängten die
Verhältnisse im Sandschak infolge der serbischen Hetzerei, andererseits vermutete der
österreichisch-ungarische Außenminister, dass Bulgarien die Unabhängigkeit erklären wird.
Aehrenthal sah die Räumung des Sandschaks als wertvolle Entschädigung für die Türken. 158
Außerdem würde sich das Verhältnis zwischen der Türkei und der Donaumonarchie bessern,
denn „die militärische Besetzung des Sandschak durch österreichische Truppen sei bisher ein
Element steter Gefahr gewesen.“ 159 Die Annexion der Provinzen sollte auch gleichzeitig
Antwort auf die großserbische Propaganda, die von Belgrad aus betrieben wurde, sein. Über
die Art der rechtlichen Verhältnisse in den Provinzen hat sich Aehrenthal nicht geäußert.
155
Ebd. 37.
GP, Nr.8935, 40.
157
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 249.
158
Vgl. GP, Nr.8936, 43f.
159
Ebd. 44
156
39
Doch Tschirschky vermutete, dass die beiden Provinzen weder zu Österreich noch zu Ungarn
gehören, sondern dem gemeinsamen Finanzministerium unterstellt werden. 160
Aehrenthal teilte vom 25.September bis zum 30.September 1908 in geheimen Briefen den
Außenministern der Großmächte schriftlich mit, dass Österreich-Ungarns Annexion von
Bosnien-Herzegowina und der Rückzug aus dem Sandschak Novi Pazar bevorstehe. Er
nannte aber kein genaues Datum. 161
Aehrenthal kündigte am 25.September dem italienischen Außenminister Tittoni die
bevorstehende Räumung des Sandschaks und die Annexion der beiden osmanischen
Provinzen an:
Je puis aujourd’hui Vous annoncer que la question du Sandjak a formé tout
dernièrement l’objet de délibérations dans les conseils des Ministres de Sa Majesté
Impériale et Royale Apostolique et que l’opinion a prévalu, non pas de renfoncer les
troupes […] mais au contraire de les retirer et renoncer [...] mon auguste Maître se
verra en même temps obligé de s’occuper d’une autre question, celle de la Bosnie et
de l’Herzégovine dont l’annexion devra être prononcée. 162 Übersetzung : Heute kann
ich Ihnen mitteilen, dass die Frage des Sandschaks den Gegenstand der gemeinsamen
Ministerratssitzung gebildet hat und es hat sich die Meinung durchgesetzt, die Truppen
nicht zu verstärken […] sondern im Gegensatz diese zurückzuhalten und
zurückzuziehen […] Mein Herr, der Erhabene, fühlte sich zugleich gezwungen sich
mit einer anderen Frage zu beschäftigen, und zwar jener von Bosnien und der
Herzegowina, deren Annexion verkündet werden muss. 163
Dem Reichskanzler Bülow versicherte der k.u.k. Außenminister im Privatschreiben vom
26.September, dass die Annexion die beste Lösung sei, die er hinsichtlich der beiden
osmanischen Provinzen Bosnien-Herzegowina treffen konnte. Denn Aehrenthals Ansicht nach
wird die förmliche Einverleibung erstens den eigenen Interessen der Monarchie gerecht und
zweitens hat sie am wenigsten Auswirkung auf die Stellung der anderen Mächte. Er entschied
sich daher, die „Truppen aus dem Sandschak herauszuziehen, auf eine Okkupation jener
Gebiete definitiv zu verzichten, gleichzeitig aber die Annexion der beiden Provinzen als fait
160
Vgl. ebd. 44f.
Kamler, Annexion und Erwerb, 81f.
162
ÖUAP, Nr.88, 98.
163
Übers. d. V.
161
40
accompli auszusprechen.“ 164 Aehrenthal beendete das Schreiben, indem er äußerte, dass er in
dieser Gelegenheit mit der Unterstützung Deutschlands rechnet. Franz Joseph I. wird dem
Kaiser Wilhelm vor der Annexion schreiben und ihm die Beweggründe genau schildern. 165
Zwei Tage nach dem Schreiben an Bülow kündigte Aehrenthal dem englischen Auswärtigen
Amt die bevorstehende Annexion an. Er nannte die Beweggründe, die die Monarchie dazu
führten, die beiden okkupierten Provinzen zu annektieren und den Sandschak zu räumen.
Aehrenthal äußerte am Ende des Schreibens, dass der Verzicht auf den Sandschak der Türkei
einen Beweis ihrer vertrauensvollen Freundschaft erbringen sollte: „En agissant ainsi et en
retirant nos troupes du Sandjak nous donnons à la Turquie une preuve éclatante de notre
confiante amitié […].“ 166 Übersetzung: Indem wir unsere Truppen aus dem Sandschak
zurückziehen, beweisen wir der Türkei unsere vertrauensvolle Freundschaft. 167
4.4
4.4.1
Ministerpräsidenten
Max Wladimir Freiherr von Beck
Max Wladimir Freiherr von Beck wurde am 6.September 1854 in Wien geboren. Er war der
Sohn des Direktors der Hof- und Staatsdruckerei Anton von Beck. 168
Nach abgeschlossenem Studium der Rechtswissenschaften begann er im Jahre 1878 in der
Finanzprokuratur zu arbeiten. Er war von 1880 bis 1906 als Ackerbauminister tätig. Beck war
der wichtigste Berater des Thronfolgers Franz Ferdinand, sowohl in politischen als auch in
persönlichen Angelegenheiten. 169
1906 kam es aufgrund des ungarischen Ausgleiches zu einer Krise im Parlament,
infolgedessen Beck zum neuen Ministerpräsidenten ernannt wurde. Bis 1908 hatte er das Amt
des Ministerpräsidenten inne. 1907 führte Max Wladimir Freiherr von Beck in der Hoffnung
164
Ebd., 100.
Vgl. ebd.
166
ÖUAP, Nr.92, 104.
167
Übers. d. V.
168
Vgl. Beck, Max Wladimir von. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 1, Verlag der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1957, 61.
WWW: www.biographien.ac.at/oebl_1/61.pdf [Zugriff am:27.11.2013]
169
Vgl. ebd.
165
41
auf Frieden zwischen den Deutschen und Tschechen das allgemeine gleiche Wahlrecht in
Österreich ein.
170
. An der Politik Becks fand nicht jeder Gefallen. Der Ministerpräsident
versuchte immer den Mittelweg zu finden, was im Vornhinein zum Scheitern verurteilt ist:
Denn „der goldene Mittelweg verläuft im Niemandsland.“ 171 Sowohl Aehrenthal als auch der
Thronfolger Franz Ferdinand taten alles, um die Politik Becks zu bekämpfen, mit der sie nicht
zufrieden waren. Beck wurde am 15.November 1908 entlassen. Franz Ferdinand erreichte die
Entlassung Becks zu einem Zeitpunkt, als sich Monarchie wegen der Annexion Bosniens und
der Herzegowina in einer außenpolitischen Krise befand 172
Weitere Funktionen Becks waren: 1919-1938 Präsident des Roten Kreuzes und 1915-1934
Präsident des Obersten Rechnungshofes. 173
Am 20.Jänner 1943 starb jener Mann, der sich immer bezüglich „einer Politik des Ausgleichs
auf der Grundlage gegenseitigen Verstehens“ 174 eingesetzt hatte.
4.4.2
Reaktion Becks
Als Aehrenthal während der Ministerratssitzung vom 19.August 1908 auf eine baldige
Annexion drängte, vertrat Beck eine gegenteilige Meinung. Der Ansicht des k.k.
Ministerpräsidenten nach waren die Aufschlüsse über die Annexion zwar interessant, aber er
hatte dennoch Bedenken, was die diplomatische Durchführung betraf. Er konnte nicht zur
Gänze die Gefahr eines Konfliktes mit einer anderen europäischen Macht ausschließen. Denn
der österreichische Ministerpräsident glaubte, dass die Mächte Forderungen stellen würden,
um dem geplanten Schritt der Monarchie zuzustimmen. Auch wenn es zu keinem
Zusammenstoß mit einer anderen Macht komme, sei ein Konflikt mit der Türkei
unumgänglich. 175
170
Vgl. Hellmuth Rößler, Beck, Max Wladimir Freiherr von. In: Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.),
Neue Deutsche Biographie, Band 1, Duncker & Humblot, Berlin 1953, 706f.
WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118654373.html [Zugriff am: 27.10.2013]
171
Johann Christoph Allmayer-Beck, Ministerpräsident Baron Beck, Ein Staatsmann des alten Österreich, Verlag
für Geschichte und Politik, Wien 1956, 286.
172
Vgl. Wandruszka, Österreich-Ungarn vom ungarischen Ausgleich bis zum Ende der Monarchie (1867-1918).
385.
173
Vgl. ÖBL 1, Beck.
174
Allmayer-Beck, Ministerpräsident Baron Beck, 286.
175
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 45.
42
Beck richtete sich außerdem gegen den von Wekerle vorgeschlagenen für die Annexion
geltend zu machenden Rechtstitel und bezeichnete
die historischen Ansprüche Ungarns auf Bosnien und die Herzegowina als für einen
solchen keineswegs geeignet, das hiedurch dem Auslande gegenüber der Anschein
hervorgerufen werden würde, als ob Ungarn mit Beihilfe Österreichs die Annexion
vollziehen würde, während tatsächlich doch nur die Monarchie als solche die
Annexion vornehmen könne. 176
Der österreichische Ministerpräsident beurteilte die Einverleibung der beiden Provinzen als
vollkommene Verletzung des Berliner Vertrages. Die Annexion sollte, seiner Auffassung
nach, erst dann erfolgen, wenn ein zwingender Grund bestand:
Wenn man unter dem Drucke einer Zwangslage zur Annexion schreiten würde, würde
man sogar überhaupt keines Rechtstitels hierzu bedürfen, da eine solche Lage ihre
innere Rechtfertigung in sich trage und man sich auf dieselbe nicht nur dem Auslande,
sondern auch den eigenen Legislativen gegenüber berufen könnte. Die erforderliche
Zwangslage könne eventuell durch einen die kaiserlichen und königlichen Truppen im
Sandschak betreffenden Zwischenfall oder auch durch den Eintritt anarchischer
Zustände in der Türkei entstehen. 177
Dr. Freiherr von Beck erklärte sich zwar gegen Ende der Sitzung bereit, eine Gesetzesvorlage
mit Wekerle zu erarbeiten, doch wäre er keinesfalls mit der Annexion in eigenem Namen
einverstanden. Er werde die Sache, um im Namen der österreichischen Regierung
zuzustimmen, den Gegenstand der Annexion im österreichischen Ministerrat besprechen.
Der österreichische Ministerpräsident, der anfänglich gegen eine Annexion war, hatte seine
Meinung nach Erhalt der Berichte des 9.Gebirgsbrigadekommandos in Plevje, die ihm
Aehrenthal zukommen ließ, vollkommen geändert. Denn seit der Wiederherstellung der
Verfassung im Osmanischen Reich attackierte die muslimische Bevölkerung des Sandschaks
176
Vgl. Schmied-Kowarzik, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie, 6, 188.
177
ÖUAP, Nr.40,. 46.
43
von Novi Pazar österreichisch-ungarische Soldaten. 178 Das Schreiben des Brigadekommandos
vom 20.August führte die missliche Lage deutlich vor Augen:
Seit der Verkündung der Verfassungsherstellung in der Türkei hat sich eine Erhitzung
der Leidenschaften im Sandschak entwickelt, deren Spitze sich nun mehr […]
ausschließlich gegen die österreichisch-ungarischen Besetzungstruppen […] richtet
und sich bis zur Erbitterung steigert. Schon vor 14 Tagen, gelegentlich des Einzuges
der Abgesandten des jungtürkischen Kommitees, welche die Bevölkerung auf die
jungtürkischen Ideen vereidigten, kam es zu ziemlich unverblümten Äußerungen des
Hasses gegen uns. […] ;Dolje sa Svabom‘ (Nieder mit den Schwaben), welche Ruf
fortwährend wiederholt und fortgepflanzt und nunmehr zum ständigen Losungswort
wurde. […] Von da ab begannen Provokationen unserer Soldaten. Man schmähte
hinter ihnen, spuckte vor ihnen aus und endlich begannen […] Steinwürfe von
halbwüchsigen Burschen und Kindern (auch Mädchen), hinter denen aber stets
Erwachsene in Bereitschaft standen. 179
Nach Erhalt dieser schlechten Nachrichten aus dem Sandschak schrieb Beck am 1.September
1908 an Aehrenthal und stimmte in diesem Schreiben der Bedrohung der Situation in den
Okkupationsgebieten - somit der Annexion - zu: „Ich verkenne den Ernst der Lage daselbst
keinen Augenblick und erkenne an, daß dieser ein ernster Motiv für die hinsichtlich des
Okkupationsgebietes zu fassenden Entschließungen bildet.“ 180
Am 10.September 1908 äußerte Beck folglich bei der Ministerratssitzung, dass er die
Annexion als erforderlich betrachte und es keiner weiteren Zwangslage bedarf. Doch war er
gegen die vorgeschlagene Teilmobilisierung. Diese sollte vermieden werden und erst dann
erfolgen, wenn eine Zwangslage eintritt. 181
178
Vgl. ebd. 53f
ÖUAP, Nr.40, 53f.
180
Solomon Wank (Hrsg.), Aus dem Nachlaß Aehrenthal, Briefe und Dokumente zur österreichisch-ungarischen
Innen- und Aussenpolitik 1885-1912, Zweiter Teil, Wolfgang Neugebauer Verlag, Graz 1994, Nr.461, 619.
181
Vgl. ÖUAP, Nr.75, 83.
179
44
4.4.3
Sándor Wekerle
Sándor Wekerle (dt. Alexander Wekerle) ist am 14.November 1848 in Mór (Ungarn) auf die
Welt gekommen. Er stammte aus einer gehobenen bürgerlichen Familie, die im schwäbischen
Raum ihre Wurzel hat. Seine Eltern waren Sándor und Antónia Wekerle. 182
Nach der Absolvierung seines juristischen Staatsexamens im Jahre 1872 trat er verschiedene
Auslandsreisen an. Nachdem er einige Jahre im Finanzministerium gearbeitet hatte, war er
seit 1877 als Universitätsdozent an der Universität Budapest tätig. Noch im selben Jahr
heiratete er Gizella Molnár, die einer wichtigen ungarischen Adelsfamilie entstammte. Die
Familie Gizellas akzeptierte die Ehe aus zweierlei Gründen: einerseits aus dem Grund, dass
die Wekerles trotz ihrer Abstammung ein hohes Ansehen hatten, andererseits, weil Sándor
hervorragende persönliche Eigenschaften besaß. 183
1887 wurde er zum Staatssekretär im Finanzministerium ernannt. Noch im selben Jahr erhielt
er ein Mandat in der Liberalen Partei. Nach zweijährigem Dienst im Finanzstaatssekretariat
wurde er im Jahr 1889 zum Finanzminister nominiert. Zum ersten Mal bekleidete jemand als
„Beamter“ diese Funktion. Ansonsten sind es immer Parlamentarier gewesen, die zu diesem
Amt berufen worden sind. 184
Am 17.November 1892 wurde Sándor Wekerle zum Ministerpräsidenten ernannt. Wekerle
war der erste bürgerliche Ministerpräsident des Landes. Da er über ein ausgezeichnetes
Fachwissen in der Finanzpolitik und genügend politische Erfahrungen verfügte, war er für
dieses Amt geeignet. Bis 1895 hatte Dr. Wekerle die erste Ministerpräsidentschaft inne und
von 1906 bis 1910 die zweite. Seine dritte Übernahme, die 1917 erfolgte, dauerte nur ein
Jahr. 185
182
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, 27ff.
Vgl. ebd. 59ff.
184
Vgl. ebd. 88ff.
185
Vgl. ebd. 124ff.
183
45
Abb.7: Sándor Wekerle, offizielles Portraitfoto, um 1906. Nachlass Wekerle.
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle, 224.
46
Im Oktober 1918 fand ein politischer Umbruch, die sogenannte „Asternrevolution“, in Ungarn
statt. Im Zuge der neuen Regierung, die anschließend an diese Revolution gebildet wurde,
kam es zur Verhaftung Wekerles. Nach viereinhalb Monaten ging seine Gefangenschaft zu
Ende.
186
Wekerle starb am 26.August 1921. Er wurde im Kerepeser Friedhof in Budapest bestattet. 187
4.4.4
Reaktion Wekerles
Wekerles Rolle beim Zustandekommen der Einverleibung ist nicht unerheblich. Da es sich bei
der Annexion um eine außenpolitische Angelegenheit handelte, musste auch der königlich
ungarische Ministerpräsident seine Zustimmung zur Einverleibung geben.
Am 22.Juli 1908 bat Wekerle den ungarischen Politiker Thalloczy, ihm ein Memorandum
über den bosnisch-herzegowinischen Sachverhalt vorzubereiten, da er am 19.September die
Annexionsfrage im ungarischen Ministerrat besprechen wollte. 188
Nachdem Wekerle im August 1908 die Denkschrift des Reichsfinanzministers Burián, die den
ursprünglichen Plan der Annexion beinhaltete, zum ersten Mal las, schloss er sich der
Konzeption an. 189
Bei der Ministerratssitzung vom 19.August 1908 meinte Wekerle, dass Österreich-Ungarn
weder finanziell noch militärisch in der Lage sei, „sich einem Konflikte mit einer fremden
Macht auszusetzen.“ 190 Er sprach sich aber dennoch unter zwei Voraussetzungen für eine
Annexion aus:
•
Der österreichisch-ungarische Dualismus sollte nicht gefährdet werden. 191
•
Die beiden Provinzen sollten nach dem ungarischen Recht „wiederangegliedert“
werden: Wekerle schlug als Rechtstitel das Recht der ungarischen Krone vor, auf
186
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, 441ff.
Vgl. ebd. 473.
188
Vg. ebd. 291.
189
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, 291.
190
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 44.
191
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, 292
187
47
dessen Grundlage die ehemals zu Ungarn gehörigen Provinzen zurückerobert und an
die ungarische Krone angeschlossen werden sollten. 192
Weiters vertrat er die Ansicht, dass die Donaumonarchie durch das Zurückziehen der Truppen
aus Novi Pazar nach außen beweisen konnte, dass sie kein weiteres Interesse auf dem
türkischen Territorium habe. Außerdem war er fest entschlossen, dass die Annexion eine
„Konsolidierung der Zustände“ in den beiden Provinzen herbeiführen werde. Nur mit der
Durchführung der Annexion könne die Provinzialverfassung eingeführt und die Frage der
Staatsbürgerschaft der Bewohner der beiden Provinzen geregelt werden. Auch würde die
Annexion den Gewalttätigkeiten der Serben in Bosnien und Herzegowina ein Ende setzen. 193
Im Gegensatz zu Beck stufte Wekerle das Abwarten auf eine Zwangslage als zu gefährlich
ein. Das sofortige Zurückziehen der Truppen aus dem Sandschak würde erstens dem Prestige
der Monarchie nicht schaden und zweitens würde sie eine friedliche Haltung
demonstrieren. 194
Wekerle stimmte im Gegensatz zu dem österreichischen Ministerpräsidenten Beck nur aus
eigener Überzeugung zu und musste die Annexionsfrage in seiner Regierung besprechen. 195
Am 10.September 1908 vertraten der k.k. Ministerpräsident Beck und der kgl. ungarische
Ministerpräsident ähnliche Meinungen, doch Beck hielt weiterhin die Forderung Wekerles,
die Annexion im Namen der Ungarischen Krone durchzuführen, als inakzeptabel. Es wurde
vereinbart, die Einverleibung spontan zu verwirklichen. 196
Um die Annexion durchzuführen, arbeiteten Beck, Wekerle, Aehrenthal und Burián an einem
Gesetzesentwurf. Ende September akzeptierte die österreichische Hälfte den Text. Da sich
aber die ungarische Regierung gegen die Konzeption auflehnte, musste mit Wekerle eine
Übereinkunft getroffen werden. Deshalb traf der Reichsfinanzminister am 1.Oktober 1908 in
Budapest ein, und erst nach mühsamen Verhandlungen konnte am 3.Oktober 1908 die
definitive Proklamation nach Wien geschickt werden. 197
192
Vgl. Schmied-Kowarzik, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie, 6, 185.
193
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 44f.
194
Vgl. ebd. 46.
195
Vgl. ebd. 49
196
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle, 292.
197
Vgl. ebd.293.
48
4.5
4.5.1
Finanzministerium
Stephan Burián
Stephan Burián von Rajecz ist am 16.Jänner 1851 in Stampfen bei Preßburg geboren. 198
Nach der Absolvierung der Konsularakademie versah er diplomatische Dienste in Alexandria,
Bukarest, Sofia und Belgrad. In den Jahren 1882 bis 1886 war er Leiter des Generalkonsulats
in Moskau. Von 1887 an war er in verschiedenen Städten Europas als Gesandter tätig, so in
Sofia, Stuttgart und Athen. 199
1903 wurde er zum gemeinsamen Finanzminister („Reichsfinanzminister“) ernannt. Dieses
Amt hatte er bis 1912 inne. Als Minister der Finanzen war er nach der förmlichen Annexion
Bosnien und Herzegowinas mit der Zivilverwaltung dieses Staatsgebietes betraut worden. Er
wurde trotz der Reformen, die er dort durchführte, wie zum Beispiel Durchführung von
Landtagswahlen, sehr kritisiert. 200
Burián fungierte von 1915 an, nach dem Rücktritt Berchtolds, als österreichisch-ungarischer
Außenminister. Während des Ersten Weltkrieges konnte er trotz großer Bemühungen weder
Italiens noch Rumäniens Eintritt in den Krieg verhindern. Er trat auch vehement gegen den UBootkrieg auf. 201
Ein Jahr nach seiner Ernennung zum Außenminister wurde er 1916 wieder Finanzminister.
Am 18. April 1918 trat er neuerlich als Nachfolger Czernins den Dienst im Außenministerium
an. 202 Mehrmals unternahm er erfolglos Schritte, um dem Krieg ein friedliches Ende zu
setzen. Deshalb dankte er am 24.Oktober 1918 ab. 203
198
Vgl. Burian von Rajecz, Stefan Graf. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 1,
Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1957, 129.
WWW: http://www.biographien.ac.at/oebl_1/129.pdf [Zugriff am: 27.11.2013]
199
Vgl. ebd.
200
Vgl. Reinhold Lorenz, Burián von Rajecz, Stephan Graf. In: Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (Hrsg.),
Neue Deutsche Biographie, Band 3, Berlin 1957, 52.
WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd124541755.html [Zugriff am: 27.10.2013]
201
Vgl. ebd.
202
Vgl. ebd.
203
Vgl. ebd.
49
Er starb am 20.10.1922 in Wien. 204
4.5.2
Reaktion des Finanzministers
Burián, der Reichsfinanzminister war, hatte im Jahre 1908 die Verwaltung der beiden
osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina inne. Es gab zahlreiche Probleme in
diesem Verwaltungsgebiet.
In Bosnien und Herzegowina lebten die drei Bevölkerungsgruppen Serben, Moslems und
Kroaten zusammen. Die Hauptaufgaben Buriáns bestanden darin, die okkupierten Gebiete mit
abendländischem Geist zu führen, eine Assimilation zwischen der Bevölkerung BosnienHerzegowinas und den anderen Ländern der Monarchie herzustellen und die serbischen
Aufwiegler zu bekämpfen. 205
Nach der jungtürkischen Revolution ergaben sich neue Schwierigkeiten für Burián. Es
bestand die Gefahr, dass Bosnien-Herzegowina nach der Revolution in der Türkei auch am
parlamentarischen Geschehen teilhaben könnte. Deshalb machte der Reichsfinanzminister
Aehrenthal den Vorschlag,
daß eine diplomatische Aktion unternommen werde, um die, wenn auch unbefristete,
so doch provisorische Okkupation von Bosnien und der Herzegowina in eine definitive
Annexion zu verwandeln. Durch die Annexion, die definitive staatsrechtliche
Einverleibung der okkupierten Provinzen, sollte die Möglichkeit geboten werden, die
Bewohner derselben zu staatlichem Patriotismus zu erziehen, es sollte die
Voraussetzung geschaffen werden, der serbischen Werbearbeit auf rechtlicher
Grundlage mit mehr Erfolge entgegenzutreten, es sollte endlich die Vorbedingung
erbracht werden für die Konstituierung eines bosnisch-herzegowinischen Landtages,
für die autonome Selbstverwaltung der beiden Provinzen und für die Beteiligung des
heimischen Elementes an der Regierung des eigenen Landes. 206
204
Vgl. NDB 3, Burian von Rajecz.
Vgl. Musulin, Das Haus am Ballhausplatz, 163.
206
Musulin, Das Haus am Ballhausplatz, 165.
205
50
Burián, der Anfang Juli - gleichzeitig mit der Aide-mémoire Iswolskis, in welchem der
russische Außenminister über die Annexionsfrage einerseits, über die Meerengenfrage
andererseits erörtert - an Aehrenthal mit der Idee herangetreten ist, die Okkupation von
Bosnien-Herzegowina in eine definitive Einverleibung zu verwandeln, schrieb in seinem
Tagebucheintrag vom 5.August 1908 Folgendes: „Aehrenthal hat meine Idee der Annexion,
wie ich sie in meiner Denkschrift vom April 1908 dargelegt habe, völlig angenommen.“ 207
Burián gab auf der Ministerratsversammlung vom 19.August bekannt, dass er schon vor der
Revolution der Jungtürken dem Kaiser in einem Mémoire eine baldige Ausführung der
Annexion angeraten habe. Die neuen Umstände in der Türkei stellten seiner Ansicht nach eine
Zwangslage dar und es bedarf keiner anderen. Er hatte schon seit einem längeren Zeitpunkt
ein Programm für die „Errichtung von Vertretungskörpern“ in Bosnien und der Herzegowina
ausgearbeitet, das möglichst bald in die Tat umgesetzt werden muss. Die Bewohner der
beiden Provinzen würden durch die Annexion nicht überrascht sein, und es würden außer
einzelnen Protesten einiger Moslems und Anhängern der Idee des großserbischen Reiches
keine Probleme entstehen. Seiner Ansicht nach waren die Gefahren, die durch die Annexion
entstehen könnten viel geringer, als jene, die sich aus dem jetzigen Zustand ergeben
können. 208
Bei der Versammlung am 10.September 1908, die in Budapest zustande kam, war Burián wie
der österreichische Ministerpräsident Beck gegen eine Mobilisierung. Der k.u.k.
Reichsfinanzminister schlug vor, dass die Mobilmachung a posteriori erfolgen soll, „wenn
man etwa sehen werde, dass die Sache nicht ganz ruhig abläuft, wodurch dann ein grosser
moralischer Effekt erzielt werden würde.“ 209
207
Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, 291.
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 48f.
209
ÖUAP, Nr.75, 83.
208
51
4.6
4.6.1
Militär
Franz von Schönaich
Franz von Schönaich ist am 27.Februar 1844 in Wien geboren. Er war der Sohn des Hofrates
Franz Schönaich. Er stammte von einer bedeutenden Patrizierfamilie ab. 210 Nach dem Tode
des Vaters wuchs er bei seinem Stiefvater Josef Standthartner auf, wo Schönaich mit
wichtigen Vertretern des Kunstlebens Bekanntschaft machte, so zum Beispiel mit Richard
Wagner. 211
Nach dem Besuch der Militärerziehungs- und Bildungsanstalt wurde er im Jahre 1862
Leutnant und absolvierte dann die Ausbildung zum Generalstabsoffizier. 212 Bevor er 1876
Major wurde, begann er im Kriegsministerium in der 5.Abteilung zu arbeiten. Im Jahre 1887
erfolgte die Zuteilung Schönaichs zur persönlichen Dienstleistung bei
Generaltruppeninspektor Erzherzog Albrecht von Österreich. Diese Tätigkeit war ein
wichtiger Wendepunkt in seinem Leben. Schönaich war bis zum Jahre 1895 im Dienste des
erfolgreichen Erzherzogs Albrecht. Noch im selben Jahr stieg er zum Feldmarschall-Leutnant
auf. 1899 nahm er seine Tätigkeit im Reichskriegsministerium wieder auf, diesmal als
Sektionschef. Am 19.12.1902 wurde er Korpskommandant und 1905 erfolgte sein Amtsantritt
als k.k. Minister für Landesverteidigung. 213 Im Jahre 1906 wurde Freiherr von Schönaich
zum k.u.k. Reichskriegsminister ernannt. 214
1908 heiratete er die Witwe Mathilde und adoptierte auch ihre beiden Söhne, „die seinen
Namen und das Adelsprädikat erhielten.“ 215
210
Vgl. Walther Hetzer, Franz von Schönaich, Reichskriegsminister von 1906-1911 (Dissertation), Wien 1968,
3.
211
Vgl. Peter Broucek, Schönaich, Franz Xaver Freiherr von. In: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Neue Deutsche
Biographie, Band 23, Berlin 2007, 382-383.
WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd129442577.html [Zugriff am: 27.10.2013 ]
212
Vgl. ebd.
213
Vgl. Hetzer, Franz von Schönaich, 4f.
214
Vgl. NDB 23, Schönaich.
215
Hetzer, Franz von Schönaich, 7.
52
Im September 1911 erfolgte die Absetzung vom Amt des Kriegsministers. Freiherr von
Schönaich beschäftigte sich nach seiner Entlassung mit karitativen Organisationen: Er
errichtete beispielsweise im Jahre 1914 den Militär-, Witwen-, und Waisenfonds. 216
Er starb am 26. Jänner 1916 in Wien. 217
4.6.2
Reaktion des Kriegsministers
Bei der Ministerratssitzung vom 19.August 1908, die die Besprechung der Annexionsfrage
zum Gegenstand hatte, erwiderte Schönaich auf die Frage Becks, welche militärischen
Vorbereitungen für die Annexion getätigt werden müssen, dass es reiche, die Zahl der
Truppen in den okkupierten Provinzen zu erhöhen. 218
Am 24.August 1908 schrieb Schönaich nach Erhalt des Schreibens des Generalstabchefs dem
Kaiser. 219 Er verharmloste aber in seinem Vortrag im Gegensatz zu Conrad die Dringlichkeit
der Mobilisierungsmaßnahmen, verlangte aber eine Erhöhung der Truppenzahlen des
15.Korps. 220 Der Kriegsminister ließ Franz Joseph wissen, dass er dem Kommandanten des
15.Korps nach der Sitzung vom 19.Juli streng geheim angeordnet habe, über „alle
Eventualitäten vorzudenken und [über; Anm. d. Verf.] Forderungen, [mit; Anm. d. Verf.]
denen er mit den im Okkupationsgebiete [vorhandenen; Anm. d. Verf.] Mitteln nicht genügen
könnte“ 221, ihn zu verständigen. Auch teilte Schönaich dem k.u.k. Monarchen mit, dass er den
Außenminister Aehrenthal über das Inkrafttreten einer Verschlechterung in den beiden
Provinzen informiert habe und eine Zusammenkunft diesbezüglich wünsche. Schönaichs
Ansicht nach sind folgende militärische Vorbereitungen unbedingt nötig: „Einstellung aller
Beurlaubungen, Stärkung der Stände, Vorsorgen für die Verfügungen über die
9.Gebirgsbrigade, aber insbesondere eine amtliche Instruktion für den kommandierenden
General und [die; Anm. d. Verf.] isolierten höheren und Truppenkommandanten.“ 222 Nach
216
Vgl. NDB 23, Schönaich.
Vgl. ebd.
218
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 49.
219
Vgl. Conrad, AMD 1, 110f.
220
Vgl. Kronenbitter, Krieg im Frieden, 336.
221
Conrad, AMD 1, 111.
222
Ebd.
217
53
einer Einverständniserklärung Aehrenthals wird er dem Kaiser die für Bosnien erarbeiteten
Erlassentwürfe zukommen lassen. 223
Als der Außenminister auf der Versammlung vom 10.September 1908 von den militärischen
Schritten sprach, schlug Schönaich die Teilmobilisierung des 15.Korps vor - obwohl er die
Sorge trug, dass diese Maßnahme einen schlechten Eindruck in der Öffentlichkeit verursachen
würde. Die Truppenstände sollten von 20000 auf 64000 Mann erhöht werden. Die
Mobilisierung würde im ersten Monat 48 Millionen Kronen kosten. Pro Monat würden 6
Millionen dazu kommen. Da die Truppen bis zum Frühjahr 1909 stehen müssten, würden sich
die Gesamtkosten auf 100 Millionen Kronen belaufen. 224
Er legte aber nach dem Gespräch Becks nahe, dass man vorläufig ohne Mobilmachung
auskommen und erst dann mobilisieren sollte, wenn der Landeschef ein Gesuch stellt. 225
4.6.3
Franz Conrad von Hoetzendorf
Franz Conrad von Hoetzendorf ist am 14.November 1852 in Wien geboren. 226
Nach der Absolvierung der Theresianischen Militärakademie, wurde er Jägeroffizier und
anschließend besuchte er die Generalstabsschule in Wien. Er nahm in den Jahren 1878-1879
als Generalstabsoffizier bei der Okkupation Bosnien und Herzegowinas teil. 227
Nach diversen Generalstabsdiensten befand er sich im Frühjahr 1899 als Oberst und
Regimentskommandant in Schlesien. Am 9.April 1899 wurde er zum Brigadier in Triest
ernannt. Drei Wochen später wurde er Generalmajor. 228
Im Herbst 1903 wurde er Kommandant der 8.Infanterie-Division in Innsbruck. 1906 reiste er
auf Einladung des Erzherzogs Franz Ferdinand nach Wien. Der Thronfolger schlug dem
Kaiser Conrad von Hoetzendorf als Chef des Generealstabes vor. Hoetzendorf lehnte aber ab,
denn es fiel ihm schwer, sich von seiner Tätigkeit in Tirol zu trennen. Im November 1906
223
Vgl. ebd.
Vgl. ÖUAP, Nr.75, 82f.
225
Vgl. ebd., 83.
226
Vgl. Oskar Regele, Conrad von Hötzendorf, Franz Xaver Josef Freiherr, Graf. In: Otto Graf zu StolbergWernigerode (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, Band 3, Berlin 1957, 336-339.
WWW: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118676768.html [Zugriff: 27.10.2013]
227
Vgl. ebd.
228
Vgl. Feldmarschall Conrad: Aus meiner Dienstzeit 1906–1918. Erster Band: Die Zeit der Annexionskrise
1906–1909. Rikola Verlag. Wien/Berlin/Leipzig/München 1921-1925, 29.
224
54
erfolgte eine abermalige Einladung nach Wien. 229 Diesmal musste sich Franz Conrad seinem
Schicksal fügen:
Ich hatte mich also abermals im Belvedere eingefunden; diesmal gab es für mich
keinen Ausweg […] und mir erübrigte nichts, als mich zu fügen. Ich verließ das
Belvedere, wie ich offen gestehen muß, in nachdenklichster, eigentlich gedrückter
Stimmung; […] Tags darauf wurde ich von Sr. Majestät Kaiser Franz Joseph in
Audienz empfangen und mit kurzen Worten zum Chef des Generalstabes ernannt. Ein
Handschreiben vom 18.November 1906 veröffentlichte die Ernennung. Mein Schicksal
war entschieden. 230
Am 3.Dezember 1911 wurde Conrad des Amtes enthoben, weil es zu
Meinungsverschiedenheiten mit dem Außenminister kam. Als Italien und Serbien territoriale
Ansprüche auf österreichisches Gebiet erhoben, schlug Conrad einen Präventivkrieg vor.
Doch Aehrenthal, der Zeit seines Lebens immer eine friedliche Lösung suchte, lehnte diesen
Vorschlag vehement ab und so kam es zur Entlassung Hoetzendorfs. Nur ein Jahr später aber
trat er seinen Dienst wieder an und blieb bis 1.März 1917 Generalstabschef.
231
Conrad von Hoetzendorf, der 1916 zum Feldmarschall ernannt wurde, starb am 25.August
1925 in Bad Mergentheim, wo er sich auf Kur befand. Er wurde auf dem Hietzinger Friedhof
in Wien bestattet. 232 Am 2.September 1925 fand- wie auf der folgenden Abbildung zu sehen
ist- eine pompöse Begräbnisfeier für den Feldmarschall in Wien statt.
229
Vgl. Conrad, AMD 1, 31f.
Conrad, AMD 1, 35.
231
Vgl. NDB 3, Conrad von Hoetzendorf.
232
Vgl. ebd.
230
55
Abb. 8: Feldmarschalls Conrad von Hoetzendorfs letzte Fahrt, Gebrüder Knozer, Wien. In:
Wiener Bilder, 6.September 1925, 1.
WWW: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=wrb&datum=19250906&seite=1.
[Zugriff am: 11.12.2013]
56
4.6.4
Reaktion des Generalstabchefs
Als Conrad am 19.August 1908 bei der gemeinsamen Ministerratsversammlung zu Wort kam,
äußerte er Aehrenthal gegenüber seine vollkommene Zustimmung bezüglich der Annexion
der beiden Provinzen. Im Gegensatz zu Beck war der Generalstabchef der Ansicht, dass die
Zwangslage durch die jungtürkische Revolution schon in Kraft getreten sei. Wider dem k.k.
Ministerpräsidenten vertrat Hoetzendorf die Meinung, dass das Zurückziehen der Garnison
erst nach Eintritt eines Zwischenfalles dem Ansehen der Donaumonarchie Schaden zufügen
würde. Nicht nur ist es wichtig, die Gefahren zu besprechen, die durch die Annexion
entstehen würden, sondern es soll auch vor Augen gehalten werden, „welche sich ergeben
würden, wenn man sich nicht rechtzeitig zur Annexion entschlösse.“ 233 Dieser Vermutung
Hoetzendorfs widersprach der Außenminister, indem er ihn auf den Dreibundvertrag
aufmerksam machte. 234
Als Beck im Weiteren die Frage aufwarf, wie die militärische Bereitschaft ÖsterreichUngarns im Falle eines Konfliktes mit einer anderen europäischen Macht sei, beruhigte der
Generalstabchef die Konferenzteilnehmer: Russland sei nicht in der Lage einen Krieg zu
führen und Deutschland komme nicht in Frage. Einzig mit Italien könne die Monarchie in
eine militärische Auseinandersetzung geraten. 235 In seinem Werk „Aus meiner Dienstzeit“
schreibt Conrad folgendes: „Schließlich bemerkte ich, daß ich Tittoni im Vorjahre bei den
Rennen des 6.Husarenregiemtes in Klagenfurt kennen gelernt hätte und er mir den Eindruck
eines sehr gewandten Politikers gemacht habe, dem gegenüber Vorsicht am Platze sei.“ 236
Das Ergebnis der Ministerratssitzung vom 19.August 1908 war „die Anerkennung der
Notwendigkeit der Annexion Bosniens und der Herzegowina.“ Es war die Aufgabe Conrads,
die Einverleibung militärisch vorzubereiten. Deshalb richtete er gleich nach dem Ministerrat
am 22.August ein Schreiben an den Kriegsminister Schönaich. Conrad gab in diesem Brief
bekannt, dass der Zeitpunkt der Durchführung der Annexion gekommen sei, und deshalb
mussten folgende militärische Maßnahmen getroffen werden:
•
Standeserhöhung des 15.Korps (Sarajevo)
•
Vorbereitung der Mobilisierung des 7. und 15.Korps
233
ÖUAP, Nr.40, 47.
Vgl. Kronenbitter, Krieg im Frieden, 336.
235
Vgl. ÖUAP, Nr.40, 49f.
236
Conrad, AMD 1, 106.
234
57
•
Kommandant des 15.Korps soll dazu verpflichtet werden, jeden Aufstandsversuch
niederzuschlagen
•
Heranziehung der 9.Gebirgsbrigade (Plevlje) 237
Die Kommandanten sollten von diesen Maßnahmen erfahren, damit sie diesbezüglich Anträge
stellen.
Noch am selben Tag verfasste Conrad dem Außenminister ebenfalls ein Schreiben, in
welchem er die sofortige Annexion als unbedingt notwendig erachtet:
Ich bin nach wie vor der Ansicht, daß es höchste Zeit ist, den gedachten Schritt,
nämlich die Annexion zu vollführen. Jedes Zögern könnte dazu führen, daß wir in
Komplikationen verwickelt werden, welche diesen Schritt dann nur immer schwieriger
gestalten würden. 238
Conrad fügte dem Schreiben an Aehrenthal außerdem hinzu, dass bevor es zu gröberen
Ausschreitungen zwischen österreichisch-ungarischen Soldaten und dem muslimischen Volk
im Lim-Gebiet komme, Überlegungen angestellt werden sollen, „was geschehen soll, wenn
das provokatorische Auftreten der Bevölkerung im Lim-Gebiet noch größere Dimensionen
annehmen sollte.“ 239
Anfang Oktober erteilte Conrad Befehle an das Generalstabsbüro, um mit der Mobilisierung
und dem Aufmarsch gegen Serbien zu beginnen. Er setzte sich aber nicht durch. Denn
Aehrenthal wollte den Krieg vermeiden. 240
237
Conrad, AMD 1, 110
NL Ae, 615.
239
NL Ae, 615.
240
Kronenbitter, Krieg im Frieden, 339.
238
58
5
5.1
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina
Gründe der Annexion
Bosnien-Herzegowina hatte als okkupiertes Gebiet einen temporären und somit unsicheren
Status. Mehrmals gab es Annexionsbestrebungen der Monarchie, so 1887, 1892 und 1896. 241
Warum kam es aber ausgerechnet im Jahre 1908 zur Annexion der beiden Provinzen?
Der Außenminister Aehrenthal erklärte in der Versammlung der österreichischen Delegation
vom 16.Oktober 1910 die Gründe für die Einverleibung mit folgenden Worten: „Bestimmend
für die Annexion war die Einführung der Konstitution in der Türkei und das unzweifelhafte
Vorhandensein einer auf die Lostrennung der beiden Provinzen von der Monarchie
gerichteten, vom Ausland aus genährten und unterstützten Bewegung.“ 242 Die Annexion
richtete sich folglich einerseits gegen den osmanischen Staat - die Interessen Österreichs auf
dem Balkan könnten durch die Jungtürken beeinträchtigt werden. Unter den Jungtürken
erhoben sich bald Stimmen, die die Rückgabe von Bosnien und der Herzegowina forderten.
Überhaupt schien es von nun an schwierig, dass Österreich die beiden Provinzen autoritär
regiert, da alle anderen Teile der Türkei eine parlamentarische Körperschaft erhalten hatten.
Es bestand die Wahrscheinlichkeit (und auch Möglichkeit), dass die Pforte die beiden
Provinzen auffordert, Abgeordnete nach Konstantinopel zu entsenden. Verhandlungen mit
dem Osmanischen Reich schienen bei den herrschenden Machtverhältnissen und wegen der
allgemeinen Unsicherheit der türkischen Politik unmöglich. 243Andererseits gegen die Serben,
weil sie die treibende Kraft für die Einheitsbestrebungen der Balkanslawen waren. 244 Die
panslawistische Propaganda erreichte im Frühjahr 1908 ihren Höhepunkt. Sie hatte ihr
geistiges Zentrum in Belgrad, erblickte seit dem Jahr 1903 ihre Ziele in einem Großserbischen
Reich und drohte durch Benutzung der vorhandenen Unzufriedenheit mit der österreichischen
Verwaltung zu einer ersten Gefahr für die Monarchie zu werden. 245
241
Vgl. Geyr, Sándor Wekerle 1848-1921, 289.
Theodor von Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart,
Berlin 1914, Band 2, 229.
243
Vgl. Kamler Heinz-Georg, Annexion und Erwerb Bosniens, 78f.
244
Vgl. Matuz, Das Osmanische Reich, 252.
245
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 78.
242
59
Dieser ganze Komplex an Erwägungen veranlasste die österreichisch-ungarische Monarchie
den Entschluss zu fassen, die provisorische Okkupation von Bosnien und der Herzegowina in
eine definitive Annexion umzuwandeln. 246
5.2
5.2.1
Annexionserklärung
Annexionserklärung in Österreich-Ungarn
Am 5.Oktober 1908 erklärte Kaiser Franz Joseph I. die seit 1878 okkupierten Provinzen
Bosnien und Herzegowina für annektiert und ordnete gleichzeitig den Abzug der Truppen aus
dem Sandschak Novi Pazar an. Der Akt erfolgte in Form von vier Schreiben an den
Außenminister, an den Reichsfinanzminister und an die beiden Ministerpräsidenten, welche
das Datum 5.Oktober trugen und am 6.Oktober veröffentlicht wurden. 247 In dem die
Annexion betreffenden kaiserlichen Handschreiben an Aehrenthal stand Folgendes:
Lieber Freiherr von Aehrenthal! Durchdrungen von der unerschütterlichen
Überzeugung, daß die hohen kulturellen und politischen Zwecke, um derentwegen die
österreichisch-ungarische Monarchie die Besetzung und Verwaltung Bosniens und der
Herzegowina übernommen hat, und die mit schweren Opfern erzielten Erfolge der
bisherigen Verwaltung nur durch Gewährung von ihren Bedürfnissen entsprechenden
verfassungsmäßigen Einrichtungen dauernd gesichert werden können, für deren
Erlassung aber die Schaffung einer klaren und unzweideutigen Rechtstellung der
beiden Länder die unerläßliche Voraussetzung bildet, erstrecke ich die Rechte meiner
Souveränität auf Bosnien und die Herzegowina und setze gleichzeitig die für Mein
Haus gültige Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit. Zur
Kundgebung der friedlichen Absichten, die Mich bei dieser unabweislichen Verfügung
geleitet haben, ordne Ich gleichzeitig die Räumung des Sandschaks von Novi Pazar
von den dahinverlegten Truppen Meiner Armee an. 248
246
Vgl. Peter Krämmer, Okkupation und Annexion Bosniens und der Herzegowina in historischer und
völkerrechtlicher Sicht (Dissertation), Wien 1971, 107.
247
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 85.
248
Frass, Quellenbuch 3, Nr.206, 311.
60
5.2.2
Annexionsverkündung an die europäischen Herrscher
Am 29.September verkündete Franz Joseph I. den Kaisern von Deutschland und Russland,
dem italienischen und englischen König und dem französischen Präsidenten durch
eigenhändige Schreiben die bevorstehende Annexion. Die Handschreiben gelangten erst am
6.Oktober 1908 zu den Machthabern. 249
Der österreichisch-ungarische Herrscher teilte dem deutschen Kaiser Wilhelm II. den
geplanten Schritt mit und nannte ihm zugleich die Gründe, die ihn zu dieser Entscheidung
geführt haben. Da die Einführung der Verfassung in der Türkei auch Rückwirkung auf die
von Österreich-Ungarn okkupierten Provinzen haben könnte, sah sich der Kaiser gezwungen
die Annexion von Bosnien und Herzegowina auszusprechen. 250 Als Beweis der friedlichen
Absicht sprach der Kaiser den Verzicht auf den Sandschak aus:
Wir verständigen von dieser Sachlage die Kaiserliche Ottomanische Regierung und
eröffnen ihr gleichzeitig, daß wir zum Beweise unserer eminent friedlichen und jeden
Gedanken einer territorialen Erwerbung am Balkan abweisenden Politik die im
Sandschak garnisonierenden Truppen zurückziehen und für die Zukunft auf die
Ausübung der Vorrechte verzichten, die uns der Berliner Vertrag bezüglich des
Sandschaks von Novi Pazar eingeräumt hat. 251
Dem König Eduard VII. von England kündigte er ebenfalls am 29.September 1908 in einem
Privatschreiben, das auf Französisch verfasst war, die bevorstehende Annexion und die
Räumung des Sandschaks an: „[…] j‘ai autorisé Mon Gouvernement à renoncer au moment
de l’annexion de la Bosnie et de l‘Herzégovine à l’exercice des droits militaires et
administratifs que le traité de Berlin nous a conférés dans le Sandjak de Novibazar.“ 252
Übersetzung: Ich habe Meine Regierung bevollmächtigt, im Zuge der Annexion Bosnien und
249
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 85.
Vgl. Johannes Lepsius [u.a.], Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der
Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. 26.Band. Die Bosnische Krise 1908-1909. Erste Hälfte,
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1925, Nr.8978, 97.
251
Ebd.
252
Bittner Ludwig/ Uebersberger Hans (Hrsg.), Österreich-Ungarns Aussenpolitik von der Bosnischen Krise
1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des österreichisch-ungarischen Ministeriums
des Äußeren, Band 1, Wien/Leipzig 1930; Nr.93, 105:
250
61
Herzegowinas auf die Militär- und Verwaltungsrechte des Sandschak Novi Pazar, die uns der
Berliner Vertrag verliehen hat, zu verzichten. 253
Auch dem Präsidenten der französischen Republik berichtete der Kaiser über die
Einverleibung Bosnien und Herzegowinas, zu der er aufgrund der Geschehnisse in der Türkei
gezwungen werde: „Les événements qui viennent de se dérouler en Turquie ont fait mûrir un
problème qui formait déjà depuis longtemps l’objet de la sollicitude de Mon Governement. Il
s’agit de la Bosnie et Herzégovine. […] Je Me verrai obligé d’en prononcer l’annexion
définitive.“ 254 Übersetzung: Die Ereignisse, die sich in der Türkei abspielen, haben ein
Problem heranreifen lassen, das seit längerem Meine Regierung beunruhigt. Es handelt sich
um Bosnien und Herzegowina. […]Ich sehe mich gezwungen, die definitive Annexion
auszusprechen. 255
Der italienische König Viktor Emanuel II. und der russische Kaiser Nikolaus II. wurden
gleichfalls über die nach unvorhergesehenen Ereignissen - sprich nach der durch die
Jungtürkische Revolution veränderten Situation im Osmanischen Reich - erforderlich
gewordene Annexion informiert. 256
5.2.3
Mitteilung an die k.u.k. Botschaften
Am 3.10.1908 schrieb der österreichische Außenminister den Botschaftern in Paris, Berlin, St.
Petersburg, Rom und London, dass sie ihre Regierungen über die Annexion informieren
sollen. 257 Den Text der Noten an die europäischen Mächte sowie an die Türkei hatte Freiherr
von Muslin schon am 12.August 1908 im Auftrage Aehrenthals verfasst. 258 Die k.u.k.
Botschaften in Berlin, Paris, St.Petersburg, London und Rom erhielten folgende Mitteilung
des österreichisch-ungarischen Außenministers:
Aussi le Gouvernement Impérial n’a-t-il pas hésité à informer la Sublime Porte qu’il
renonçait à faire valoir à l’avenir les droits que la convention de Constantinople lui a
conférés par rapport au Sandjak de Novibazar. […] La Bosnie et l’Herzégovine sont
253
Übers. d. V.
ÖUAP, Nr. 95, 105.
255
Übers. d. Verf.
256
ÖUAP, Nr. 96 und Nr. 97, 106 f.
257
Kamler, Annexion und Erwerb, 87.
258
Vgl. Musulin, Das Haus am Ballhausplatz, 164f.
254
62
arrivées aujourd’hui […] à un haut degré de culture matérielle et intellectuelle ; le
moment parait donc venu de couronner l’œuvre entreprise en octroyant à ces
provinces les bienfaits d’un régime autonome et constitutionnelle. […] Veuillez,
Monsieur l’Ambassadeur, porter ce qui précède à la connaissance du Gouvernement
[…].259 Übersetzung: So zögert die kaiserliche Regierung nicht, die Hohe Pforte zu
informieren, dass sie in Zukunft auf die Geltendmachung der Rechte die ihr die
Konstantinopler Konvention bezüglich des Sandschaks von Novi Pazar gewährt hat,
zu verzichten. […] Bosnien und Herzegowina sind heute […] zu einem hohen Grade
materieller und geistiger Kultur gelangt. Der Augenblick ist gekommen, das Werk zu
krönen, indem diesen Provinzen die Wohltat des autonomen und konstitutionellen
Regimes gewährt wird […]. Herr Botschafter, informieren Sie bitte über die oben
genannten Ausführungen die Regierung. 260
5.2.4
Annexionserklärung an das Osmanische Reich
Am 3.Oktober schickte Aehrenthal an den Botschafter in Konstantinopel, Pallavicini, eine
Note, die er am 6.Oktober der Pforte überreichen sollte. In diesem Schriftstück war zunächst
mit ausführlicher Begründung der Verzicht auf die Rechte im Sandschak ausgesprochen.
Außerdem wurde der Beschluss mitgeteilt, Bosnien und Herzegowina zu annektieren und den
Vertrag vom 21.April 1879 zu kündigen. Pallavicini las den Text zuerst dem Großwesir
Kiamil-Pascha vor: 261
Bosnien und die Herzegowina sind heute dank der fleißigen Arbeit der österreichischungarischen Verwaltung zu einem hohen Grade materieller und geistiger Kultur
gelangt. Der Augenblick scheint also gekommen, das unternommene Werk zu krönen
und diesen Provinzen die Wohltat des von der Bevölkerung gewünschten autonomen
und konstitutionellen Regimes zu gewähren. […] Österreich-Ungarn sieht sich daher
vor der gebieterischen Notwendigkeit, sich der in der Konstantinopler Konvention
259
Kamler, Annexion und Erwerb, 198f.
Übers. d. V.
261
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 86f.
260
63
erhaltenen Vorbehalte zu entledigen, um, was Bosnien und die Herzegowina betrifft,
seine frühere Aktionsfreiheit wieder zu erlangen. 262
Der Annexionsakt Österreich-Ungarns wurde von einem zweiten fait accompli verstärkt, denn
der König von Bulgarien erklärte gleichzeitig die Unabhängigkeit. 263
5.2.5
Proklamation an die annektierten Gebiete
Franz Joseph I. verkündete außerdem eine Proklamation an die Einwohner von Bosnien und
Herzegowina, in welcher er den Annexionsakt mit dem Wunsch rechtfertigt, den beiden
Gebieten eine verfassungsmäßige Einrichtung zu gewähren. Ein Auszug aus der Erklärung:
Um Bosnien und die Herzegowina auf eine höhere Stufe des politischen Lebens zu
heben, haben Wir uns entschlossen, den beiden Ländern verfassungsmäßige
Einrichtungen, welche deren Verhältnissen und den allgemeinen Interessen Rechnung
tragen, zu gewähren und so eine gesetzliche Grundlage für die Vertretung ihrer
Wünsche und Bedürfnisse zu schaffen.[…] Für die Einführung dieser
Landesverfassung bildet aber die Schaffung einer klaren und unzweideutigen
Rechtsstellung der beiden Länder die unerläßliche Voraussetzung. Aus diesem
Grunde, wie auch eingedenk der in alten Zeiten Unseren glorreichen Vorfahren auf
dem ungarischen Thron und diesen Ländern bestandenen Bande erstrecken Wir die
Rechte Unserer Souveränität auf Bosnien und Herzegowina […].264
5.3
5.3.1
Völkerrechtliche Begriffserklärung und Beurteilung der Annexion
Begriff der Annexion
Der Terminus „Annexion“ wurde im 19.Jahrhundert, unter der Zeit Napoleons III., eingeführt.
Damals verstand man darunter den Erwerb fremden Gebietes einerseits auf Grund eines
262
Ebd., 196.
Vgl. Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, 268.
264
Kamler, Annexion und Erwerb, 192.
263
64
vertraglichen Aktes, andererseits durch eine einseitige Handlung. 265 In der modernen
Völkerrechtswissenschaft ist der Begriff „Annexion“ umstritten. Es ist sehr schwer, eine
abgeschlossene Erklärung des Begriffes zu finden. 266 Im „Wörterbuch des Völkerrechts“ führt
Bindschedler folgende Definition des Terminus „Annexion“ an:
Unter Annexion versteht man den gewaltsamen Gebietserwerb eines Staates auf
Kosten eines anderen. Im Unterschied zu anderen Arten des Erwerbes der
Gebietshoheit (z.B. friedliche Besetzung oder Erwerb auf Grund eines
völkerrechtlichen Rechtsgeschäftes) erscheint hier das Element der Gewalt als
entscheidend. Damit eine Annexion zustande kommt, ist die Inbesitznahme des in
Frage stehenden Gebietes sowie der Wille zur endgültigen Aneignung (corpus et
animus) notwendig, Annektiert werden können sowohl einzelne Teile als auch das
gesamte Gebiet eines anderen Staates. 267
Die Annexion, bei der die territoriale Souveränität eines Gebietes erworben wird, kann als
einseitige Erklärung oder in Form eines Vertrages auftreten. Bei der einseitigen
Annexionserklärung muss das betreffende Gebiet erobert werden und eine endgültige
Beendigung des Kriegszustandes bzw. die Einstellung der Feindseligkeiten erfolgen. Im
Gegensatz zum gewöhnlichen Gebietserwerb muss beim Vertrag „ein Element der Gewalt in
Form des Zwanges“ erhalten sein (z.B. Friedensvertrag, Abmachung). 268
Um die Gesetzmäßigkeit eines Annexionsaktes zu überprüfen, sind die allgemeinen
völkerrechtlich bestimmten Regeln zu beachten: „Ein internationaler Akt kann rechtswidrig
sein, entweder durch Zuwiderhandeln gegen eine vertragliche Verpflichtung oder aber durch
Verletzung einer allgemeinen Norm des Völkerrechts.“ 269 Walter Schätzel zum Beispiel
negiert absolut die Rechtsmäßigkeit einer Annexion. Für ihn ist und bleibt die Annexion
gesetzeswidrig: „Annexion ist die gewaltsame Einverleibung fremden Staatsgebietes. Es liegt
also stets eine Mißachtung, eine Verletzung, ja vielleicht eine Vernichtung eines fremden
Staatswillens vor.“ 270 Bindschedler hingegen, der eine gemäßigtere Ansicht vertritt, spricht
der Annexion die Rechtmäßigkeit im Falle von Gewalt zu. Denn nach den allgemeinen
Regeln des Völkerrechts ist eine Annexion rechtmäßig, wenn sie in Form von
265
Vgl ebd. 215.
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 69.
267
Rudolf L. Bindschedler, Annexion. In: Hans-Jürgen Schlochauer/ Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des
Völkerrechts, Band 1, Verlag Walter de Gruyter & Co, Berlin2 1960, 68.
268
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 69.
269
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 75.
270
Walter Schätzel, Die Annexion im Völkerrecht. In: Walter Schätzel/Hans-Jürgen Schlochauer (u.a.) Archiv
des Völkerrechts, Band 2, Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen 1950, 1.
266
65
Gewaltanwendung (Krieg, Repressalie) erfolgt. 271 Wenn wir von der Annexion im Sinne einer
neutralen Handlung sprechen, so kann es aus zweierlei Gründen zu einer Rechtsverletzung
kommen:
•
Eine der durchgeführten Handlungen ist gesetzwidrig (z.B. Exzess).
•
Der Annexionsakt hat keinen Rechtsgrund (Fehlen des Rechtstitels). 272
Wenn der Einverleibung nicht ein Krieg vorausgegangen ist, ist die einseitige
Annexionserklärung von einem fremden Gebiet ohne Vertrag nicht rechtmäßig. Dabei ist es
unwesentlich, „ob das annektierte Gebiet sich bereits in der tatsächlichen Gewalt des die
Annexion aussprechenden Staates befindet.“ 273
5.3.2
Beurteilung der Annexion von Bosnien und der Herzegowina
Um den Annexionsakt rechtsmäßig zu verteidigen, suchte Österreich-Ungarn nach einem
Vorwand und beurteilte die Einführung der Verfassung im Osmanischen Reich als Bedrohung
der österreichisch-ungarischen Interessen. Somit war österreichischer Ansicht nach eine
Zwangslage bzw. ein Vorwand gegeben. Jedoch ist die Annexion der beiden osmanischen
Provinzen vom völkerrechtlichen Standpunkt aus gesehen sehr problematisch. Denn sie wird
in der Literatur weitgehend als Verletzung des Völkerrechts angesehen. Im Folgenden werden
die Gründe erfasst, warum die Annexion von Bosnien und der Herzegowina nicht rechtmäßig
war:
•
Als die Einverleibung von Bosnien und der Herzegowina durchgeführt wurde,
gehörten die beiden Gebiete formell dem Osmanischen Reich an, und deshalb stellte
sich die Annexion als „Verletzung eines fremden Staatswillens“ dar. 274
•
Die Einverleibung der beiden Provinzen verletzte die allgemeinen Regeln des
Völkerrechts, da eine Annexion nur unter dem Vorhandensein eines Rechtstitels
271
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 76.
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 75f.
273
Bindschedler, Annexion, 69.
274
Vgl. Krämmer, Okkupation und Annexion, 217f.
272
66
erfolgen kann. Österreichischer Ansicht nach hätten sie aus dem Titel der Ersitzung
die Provinzen rechtlich annektiert. Jedoch ist nach völkerrechtlichem Standpunkt die
Annexion, die unter der Voraussetzung einer Ersitzung, ausgeübt wird, erst dann
rechtmäßig, wenn die Okkupationsmacht als „Detentor“ die Herrschaft ausübt. Dies
war im vorliegenden Fall nicht gegeben. 275 Erst ab dem Moment der
Annexionserklärung begann die Herrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie.
D.h. nur eine von diesem Zeitpunkt an erfolgte ununterbrochene und unbestrittene
Herrschaftsausübung konnte eine Heilung der Rechtswidrigkeit der Annexion
herbeiführen. 276
•
In dem Berliner Vertrag vom 13.Juli 1878 und in der Konstantinopler Konvention
vom 21.April 1879 war die Souveränität des Sultans garantiert. In dem Abkommen
vom 13.Juli 1878 wurde überdies festgesetzt, dass der Zustand der Provinzen nur
„provisorisch“ ist. Obwohl dieser Zustand rechtliche Relevanz besaß, wurden die
Rechte des Sultans von der Monarchie praktisch gesehen als bedeutungslos
betrachtet. 277
•
Die Annexion verletzte nicht nur die Souveränitätsrechte des Sultans, sondern auch
den Inhalt des Berliner Vertrages von 1878. Denn der Artikel XXV besagte, dass der
Zustand, der in den Provinzen bestand, „bis zu einer anderweitigen Verfügung der
Signatarmächte auch aufrecht bleiben sollte.“ 278 Deshalb ist der Einspruch der Mächte
des Berliner Vertrages gegen die Annexion berechtigt. Der Annexion hätte daher eine
Änderung dieses Artikels folgen müssen oder sie musste vorher geändert werden. 279
•
Außerdem war die Annexion ein Verstoß gegen das Londoner Protokoll aus dem Jahre
1871. Denn der Donaumonarchie war es als Unterzeichner dieses Protokolls nicht
erlaubt, die Bestimmungen eines internationalen Aktes durch einen einseitigen Akt zu
verletzen. 280 So muss einer Annexion nach allgemeinem Völkerrecht beispielsweise
ein Krieg vorausgehen, sonst ist er ohne Vertrag widerrechtlich.
275
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 90f.
Vgl. Krämmer, Okkupation und Annexion, 240f.
277
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 88f.
278
Ebd. 89f.
279
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 89f.
280
Vgl. Möhring, Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, 4.
276
67
Die territoriale Souveränität konnte erst durch den Zessionsvertrag vom 26.Februar 1909
erworben werden. 281
281
Siehe Kapitel 6.2.2
68
6
6.1
Die Annexionskrise
Internationale Reaktionen
Der Annexionsakt der Donaumonarchie löste eine internationale Krise aus. Trotz der
Besprechungen mit dem russischen und italienischen Außenminister und der eigenhändigen
Handschreiben Franz Josephs an die Monarchen und an den Präsidenten der französischen
Republik führte die diplomatisch nicht genügend vorbereitete Annexion von Bosnien und der
Herzegowina zu einer Entrüstung in Europa und auf dem Balkan.
Im Grunde genommen war die Annexion aber nichts anderes als ein formeller Akt. Denn es
änderte nichts an dem Verhältnis zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und den
beiden Provinzen: „Aus der Okkupation war eben eine Annexion, aus einem Provisorium ein
Definitivum geworden.“ 282 Die Großmächte fühlten sich beleidigt und protestierten gegen die
Annexion.
Die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens steigerte die Erbitterung noch mehr. Die
österreichisch-ungarische Monarchie wurde verdächtigt, die Hand im Spiel zu haben.
Tatsächlich war bereits beim Treffen in Buchlau von Bulgarien die Rede. Aehrenthal wollte
Bulgarien auf seiner Seite haben. Obwohl der Außenminister später sich vehement gegen die
Vorwürfe wehrte, wissen wir aus Äußerungen des österreichischen Botschafters Khevenhüller
zu Fallières, dem Präsidenten Frankreichs, dass das Wiener Kabinett seine Zustimmung zur
Unabhängigkeit in Aussicht gestellt hatte. 283 Fallières fragte den Botschafter beim Empfang
der Annexionserklärung „est-ce que l’Autriche-Hongrie n’a pas songé qu’elle pousse la
Bulgarie à la suivre en proclamant son indépendance“ 284, woraufin Khevenhüller folgende
Antwort gab: „non la Bulgarie ne nous suivra pas, elle nous précédera par cette
proclamation.“ Übersetzung : Nein, Bulgarien wird uns nicht folgen, die
Unabhängigkeitserklärung wird der Annexion vorausgehen. 285
282
Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns 2, 154.
Vgl. Krämmer, Okkupation und Annexion, 124f.
284
GP, Nr. 8987, 105.
285
Übers. d. V.
283
69
6.1.1
England
Auch Englands Reaktion fiel zur Überraschung der Monarchie anders als erwartet aus.
Obwohl keine Gegensätze zwischen den beiden Reichen bestanden, herrschte plötzlich eine
Spannung. Die Hauptursache war vermutlich in der wachsenden Feindschaft zwischen
London und Berlin zu suchen. Als König Eduard im Juli 1908 Franz Joseph in Ischl besuchte
und diesen für sich gegen Deutschland zu gewinnen versuchte, scheiterte der englische König
an der Treue des österreichisch-ungarischen Herrschers. Um diese Haltung der Monarchie zu
rächen, stellte sich auch England gegen die Donaumonarchie. 286 London zeigte sich äußerst
empört über die einseitige Abänderung des Berliner Vertrages. Das englische Reich stützte
sich auf das Londoner Protokoll vom 17.Jänner 1871: Erstens darf Österreich-Ungarn als
Unterzeichner dieses Protokolls nicht die Bestimmungen eines internationalen Aktes durch
einen einseitigen Akt verletzen und zweitens darf eine Änderung „nach vorheriger
freundschaftlicher Übereinkunft und mit Zustimmung aller Signatarmächte“ aufgehoben bzw.
geändert werden.“ 287 Die englische Presse organisierte in der Folge eine regelrechte Hetze
gegen Österreich-Ungarn. 288
6.1.2
Russland
Wider Erwarten Aehrenthals, der sich Russlands Unterstützung sicher war, fiel die russische
Haltung völlig anders aus. Iswolski erfuhr in Paris von der Annexionserklärung der
Monarchie. In der Zwischenzeit gelang es Stolypin, dem russischen Ministerpräsidenten, der
slawophil eingestellt war, den Zaren von seinem panslawistischen Standpunkt zu überzeugen.
Noch in Paris erhielt der russische Außenminister die Anweisung des russischen Herrschers,
die Annexion abzulehnen und für die Interessen der Südslawen einzutreten. 289 Iswolski, der
sein Amt zu verlieren fürchtete, begann nun zu beteuern, dass er von der Annexion überrascht
worden ist. Da am 4.Oktober in Paris die Annexion in der Zeitung „Le Temps“ frühzeitig
286
Vgl. Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns 2, 157f.
Sasse Heinz Günther, War das deutsche Eingreifen in die Bosnische Krise im März 1909 ein Ultimatum? Ein
Beitrag zur diplomatischen Geschichte der Vorkriegszeit und zur Bestimmung des Begriffs Ultimatum, Verlag
W.Kohlhammer, Stuttgart 1936, 20, Fußnote 33.
288
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 102f.
289
Vgl. ebd. 97f.
287
70
publiziert worden war, fühlte sich Iswolski hintergangen und brachte seine Erbitterung gegen
die Annexion zum Ausdruck. 290 Russland leugnete strikt, dass Aehrenthal den russischen
Außenminister von der Annexionsabsicht berichtet habe und forderte Kompensationen. Doch
die Russen waren sich bewusst, dass sie nach der Niederlage gegen Japan nicht imstande
waren, einen Krieg gegen die Monarchie zu führen. 291 Dass der russische Außenminister aber
sehr wohl über die Annexionsabsicht der Monarchie aufgeklärt worden war, wissen wir aus
den Äußerungen Iswolkis an von Schoen:
Baron Aehrenthal, mit dem er [Iswolski ist gemeint, Anm. d. V.] kürzlich eine
Begegnung gehabt, hat ihn in seine Pläne eingeweiht, deren Stichworte sind: Annexion
von Bosnien und der Herzegowina, Verzicht auf den Vormarsch auf Saloniki,
Zurückziehen der Garnisonen aus dem Sandschak, Bereitwilligkeit, mit Rußland über
dessen Wünsche nach freier Durchfahrt durch die Meerengen zu sprechen. 292
6.1.3
Frankreich
Frankreichs Haltung fiel erheblich anders aus als die des Bündnispartners Englands.
Frankreich richtete sich zwar in gleicher Weise gegen die Annexion und bezog sich ebenfalls
auf den Londoner Vertrag 1871. Jedoch fiel die Haltung der französischen Regierung
gemäßigter aus. 293 Die maßvolle Reaktion spiegelte sich vor allem im Antwortschreiben des
Präsidenten Fallières auf die Annexionserklärung an Franz Joseph wider. Deshalb fand auch
keine anti-österreichische Stimmung in der französischen Presse statt. 294
6.1.4
Italien
Italien richtete sich trotz des Bündnisses mit der Monarchie und dem einvernehmlichen
Gespräch Tittonis mit Aehrenthal Anfang Oktober in Salzburg gegen die Annexion. König
290
Vgl. Möhring, Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, 11f.
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 100f.
292
GP, Nr. 8935, 40.
293
Vgl. ebd. 107
294
Vgl. Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns 2, 163.
291
71
Viktor Emanuel betrachtete die Einverleibung als Verletzung des Berliner Vertrages. Die
italienischen Zeitungen begannen, sich der englischen Presse anschließend, eine
Hetzkampagne gegen die Monarchie. 295
6.1.5
Deutschland
Deutschland war die einzige Macht, die Österreich-Ungarn Beistand leistete. Kaiser Wilhelm
II. war trotz der Bündnispartnerschaft auf dieselbe Weise und zur gleichen Zeit wie die
anderen Staaten informiert worden. Deshalb war der deutsche Kaiser zunächst zutiefst
beleidigt und reagierte sehr erbost:
Die Tat Aehrenthals gewinnt immer mehr den Schein eines Fähnrichs-Streiches! Uns
hat er nichts gesagt; Iswolski und Tittoni so verschleierte Andeutungen gemacht, daß
sie sich als total betrogen vorkommen; den Sultan total unberücksichtigt gelassen, auf
den es doch vor allen Dingen ankommt; […] den Berliner Vertrag in Stücke
geschlagen und das Konzert der Mächte auf das heilloseste verwirrt […].296
Doch stellte sich Deutschland dann nach anfänglicher Verärgerung auf die österreichische
Seite. 297 Als Antwort auf das Privatschreiben des österreichisch-ungarischen Monarchen vom
29.September, schrieb der deutsche Kaiser Wilhelm II. am 14.Oktober 1908 Folgendes:
Mein teurer Freund! Herzlich danke ich dir für das freundliche Schreiben, in welchem
Du mir die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina mitzuteilen die Güte hattest.
Die Gründe, die Dich zu diesem wichtigen Schritte bewogen haben, weiß ich sehr
wohl zu würdigen; Du kannst auch in dieser Frage auf meine unwandelbare
persönliche Freundschaft und Verehrung sowie auf die enge Bundesfreundschaft
zählen, die unsere Reiche verbindet. Die Einverleibung wird gewiß den beiden
Provinzen, die sich unter Deiner Verwaltung so ausgezeichnet entwickelt haben, zum
Segen gereichen. 298
295
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 108f.
Möhring, Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, 16 zit. nach, Ottokar
Czernin, Graf von, Politische Betrachtungen, Wien 1908, 66f.
297
Vgl. Kamler Annexion und Erwerb, Nr. 111f.
298
GP, Nr. 9006, 129.
296
72
6.1.6
Serbien
Serbien war durch die Annexion äußerst erbittert. Denn das serbische Reich war sich sicher,
dass dieser Schritt viel mehr als Gegenmaßnahme gegen die großserbische Propaganda
gedacht war als gegen das Osmanische Reich. 299 Es war fraglich geworden, ob nach dem
endgültigen Verlust Bosniens und der Herzegowina, die großserbische Idee noch Zukunft
besaß. Die Serben schickten der Donaumonarchie eine Protestnote. Diese wurde aber von
Aehrenthal mit der Begründung, dass das serbische Reich kein Recht habe, zur Annexion
Stellung zu nehmen, zurückgewiesen. Obwohl de facto Serbien weder an der Unterzeichnung
des Berliner Vertrages beteiligt war, noch einen Anspruch auf die Provinzen hatte, stellte es
folgende zwei Forderungen an Österreich: erstens die Autonomie Bosnien und Herzegowinas,
zweitens die Abtretung des Hafens an der Adria an Serbien. 300 Es wurden
Protestversammlungen veranstaltet und der „heilige Krieg“ wurde gegen die Monarchie
gepredigt. 301 Als Reaktion auf die Annexion setzten die Serben, unterstützt von Russland,
England und Italien, erste Schritte in Richtung einer Mobilmachung und beriefen Reservisten
ein. 302
Als die Serben demonstrativ begannen zu rüsten, war die österreichisch-ungarische
Monarchie gezwungen, am 14.Oktober 1908 eine Teilmobilmachung der k.u.k. Armee zu
beauftragen. 303 Der Generalstabchef Conrad war der Meinung, dass nun der Zeitpunkt
gekommen sei, den Serben den Krieg zu eröffnen, und wenn Italien eingreifen würde, wäre
auch dieses zu bekämpfen. Franz Ferdinands Reaktion auf Conrads Forderung war am
20.Oktober 1908 folgende:
„Es wäre ja großartig und sehr verlockend, diese Serben und Montenegriner in die
Pfanne zu hauen, aber was nützen uns diese billigen Lorbeeren, wenn wir uns dadurch
eine allgemeine europäische Verwicklung heraufdividieren und dann womöglich mit
zwei bis drei Fronten zu kämpfen haben und das nicht aushalten können.“ 304
299
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 117.
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 117f.
301
Vgl. Krämmer, Okkupation und Annexion, 128.
302
Vgl. Perlin Kurt Konrad, Der Zweibund im Spiegel der Annexionskrise (Diplomarbeit), Wien 2008, 87.
303
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 250.
304
Herre Franz, Kaiser Franz Joseph von Österreich. Sein Leben-seine Zeit, Kiepenheuer&Witsch, Köln 1978,
416
300
73
6.1.7
Türkei
Das Osmanische Reich war die einzige Macht, die durch die Annexion nach formalem Recht
geschädigt worden war und eindeutig Grund zum Protest hatte. Denn der Berliner Vertrag
sprach der österreichisch-ungarischen Monarchie nur die Verwaltung und Besetzung der
Länder zu, aber nicht ihre Annexion. Außerdem wurde in der Konstantinopler Konvention der
provisorische Charakter der Okkupation bestätigt. Die bulgarische Unabhängigkeitserklärung,
die zeitgleich mit der Annexionserklärung erfolgte, versetzte einen weiteren Schlag.
Die Abneigung gegen die Donaumonarchie, die im Jahre 1878 begonnen hatte, erreichte mit
der Verkündung der Annexion ihren Höhepunkt:
Erstens hatte Österreich-Ungarn diese Provinzen seit 30 Jahren selbst verwaltet und
die Chance auf eine Rückgabe war gering, und zweitens wäre selbst eine Restituierung
der beiden Gebiete ein Danaergeschenk für die Türkei gewesen, da dieser Unruheherd
nur zu einer Vermehrung der Probleme des Staates beigetragen hätte.
305
Dennoch reagierte Kiamil Pascha im Vergleich zu den anderen Herrschern - vor allem im
Gegensatz zu Serbien, das eigentlich den letzten Grund zur Aufregung hatte - ruhiger auf die
Nachricht der Einverleibung. Die Türkei erhob lediglich formellen Einspruch gegen den
Schritt der Monarchie und reagierte mit einem Boykott über österreichisch-ungarische Waren.
Sie hegte keinerlei Absichten, dem „Protest mit Waffengewalt Nachdruck zu verleihen“ 306
Österreich-Ungarn litt enorm unter dem verhängten Embargo und musste deshalb das
Verhältnis mit der Pforte wieder normalisieren. Kiamil Pascha erklärte beim Empfang der
Annexionserklärung, dass der Rückzug der Truppen aus dem Sandschak keine Kompensation
für den Verlust Bosnien und Herzegowinas darstelle und verlangte eine
Geldentschädigung. 307
305
Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, 269.
Kamler, Annexion und Erwerb, 125.
307
Vgl. Krämmer, Okkupation und Annexion, 127f.
306
74
6.2
Die Beilegung der Krise
6.2.1
Konferenzpläne Russlands
Um die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens und die Annexionserklärung zu besprechen,
setzte Iswolski Schritte, um eine internationale Konferenz zusammenzurufen. Hierfür
arrangierte er Treffen mit den europäischen Regierungen, um ein Programm auszuarbeiten.
Iswolski nutzte die Gespräche mit den Großmächten aber gleichzeitig für die Besprechung der
Meerengenfrage aus. Der russische Außenminister musste aber in dieser Angelegenheit seine
Erfolglosigkeit erkennen. Denn weder die europäischen Staaten, noch die Türkei waren
gewillt, die von Russland gestellte Forderung zu akzeptieren. 308
Mitte Oktober wurde das vorläufige Programm der Versammlung, das in neun Punkte
aufgeteilt war, in London durch die Zusammenarbeit Iswolskis und Greys, dem britischen
Außenminister, ausgearbeitet. Im Folgenden ein Auszug aus dem Konzept:
•
Punkt 1: Die Anerkennung der Unabhängigkeit Bulgariens.
•
Punkt 2: Die Konstatierung der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch
Österreich-Ungarn.
•
Punkt 3: Die Rückgabe des Sandschaks Novi Pazar an die Türkei.
•
Punkt 7: Vorteile, welche Serbien und Montenegro zugewiesen werden. 309
Aehrenthal widersetzte sich zwar der Konferenz nicht, doch lehnte er strikt ab, über die Frage
der Annexion und des Sandschaks zu diskutieren. Iswolski sollte die Annexion als fait
accompli anerkennen und eine Abänderung des Berliner Vertrages in Gang setzen.
Deutschland schloss sich ebenfalls seinem Verbündeten an und verweigerte die Teilnahme an
der Konferenz, wenn es zu keiner Änderung des Programms komme. Russland lehnte die
Forderungen Aehrenthals ebenfalls ab, und das Verhältnis beider Reiche verschlechterte sich
noch mehr. 310
308
Vgl. Möhring, Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, 17f.
Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns 2, 197.
310
Vgl. Möhring, Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, 34.
309
75
6.2.2
Österreichisch-türkische Einigung
Nach dem Versuch Iswolskis, eine internationale Konferenz einzuberufen, begann Aehrenthal
direkte Gespräche mit dem Osmanischen Reich aufzunehmen. Aehrenthal war sich von
Anfang an bewusst, dass die Verständigung mit dem Osmanischen Reich der einzige Weg
war, „den Widerstand der Mächte zu brechen“. 311
Die Verhandlungen mit der Hohen Pforte gestalteten sich äußerst schwierig und erst nach
mehreren Gesprächen kam es am 26.Februar 1909 zum Abschluss eines „protocolle
d’entente“ („Abkommen“) zwischen den beiden Mächten. 312 Die auf Französisch verfasste
Note auf türkischem Papier - ein türkisches Wasserzeichen befindet sich auf jedem Blattwurde vom k.u.k. Botschafter Pallavicini, vom Großwesir Hilmy und dem türkischen
Außenminister Noradounghian unterzeichnet. Die letzte Textseite schreibt die Ratifikation
binnen zwei Monaten vor. Sie wurde am 26. April 1909 durchgeführt. Die folgende
Abbildung stellt das blütenweiße, mattglänzende Pergament, bestehend aus zwei Spalten dar:
links wurde in französischer und rechts in türkischer Sprache geschrieben. Die Ratifizierung
erfolgt durch den türkischen Außenminister Rifaat. 313
311
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 141.
Vgl. ebd.
313
Vgl. Protokoll zwischen Österreich-Ungarn und der Pforte über die Annexion von Bosnien-Herzegowina. In:
Ernst Bruckmüller/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Ostarrîchi - Österreich 996-1996. Menschen, Mythen, Meilensteine.
Katalog der Österreichischen Länderausstellung in Neuhofen an der Ybbs und St. Pölten. Katalog des
Niederösterreichischen Landesmuseums. N.F. 388. – Horn: Berger 1996. XXIV, 736. 4°. Objekt-Nr.: 17.46b,
711.
WWW: http://wwwg.uni-klu.ac.at/kultdoku/kataloge/20/html/1831.htm [Zugriff am: 16.11.2013]
312
76
Abb.9: Protokoll zwischen Österreich-Ungarn und der Pforte über die Annexion von BosnienHerzegowina, Fotostudio Otto, Wien. In: Ernst Bruckmüller/ Peter Urbanitsch (Hrsg.),
Ostarrîchi - Österreich 996-1996. Menschen, Mythen, Meilensteine. Katalog der
Österreichischen Länderausstellung in Neuhofen an der Ybbs und St. Pölten. Katalog des
Niederösterreichischen Landesmuseums. N.F. 388. – Horn: Berger 1996. XXIV, 736. 4°.
Objekt-Nr.: 17.46b, 711.
WWW: http://wwwg.uni-klu.ac.at/kultdoku/kataloge/20/html/1831.htm [Zugriff am:
16.11.2013]
77
In dem aus neun Artikeln bestehenden Abkommen verzichtete die Monarchie auf den
Sandschak und erhielt alle Rechte über Bosnien und der Herzegowina (Artikel 1 und 2).
Außerdem wurde Österreich dazu verpflichtet, den Osmanen eine Kompensationszahlung in
der Höhe von 2,5 Millionen türkischer Pfund zu entrichten (Artikel 5):
•
Artikel 1: L’Autriche-Hongrie déclare renoncer d’une façon expresse à tous les droits
qui lui ont été conférés par rapport à l’ancien Sandjak de Novi-Bazar par le Traité de
Berlin et la Convention de Constantinople du 21 avril 1879.
314
Übersetzung :
Österreich-Ungarn erklärt den Verzicht auf alle Rechte des Sandschaks von Novi
Pazar, die ihm durch den Berliner Vertrag und die Konstantinopler Konvention vom
21.April 1879 übertragen wurden. 315
•
Artikel 2: Die Konvention vom 21.April 1879 ebenso wie der Protest der Hohen Pforte
gegen die Entschließung der gemeinsamen österreichischen-ungarischen Regierung
betreffend Bosnien und die Herzegowina ferner alle andern dieser Entschließung
widersprechenden, seitens der hohen vertragschließenden Teile erfolgten Verfügungen
und Abmachungen werden aufgehoben und durch das gegenwärtige Protokoll ersetzt,
welches feststellt, daß zwischen den hohen vertragschließenden Teilen jede
Meinungsverschiedenheit (Divergenz) bezüglich jener beiden Provinzen beseitigt ist,
und daß die Ottomanische Regierung ausdrücklich den durch die oben erwähnte
Entschließung geschaffenen Zustand anerkennt. 316
•
Artikel 5: Da eine schiedsgerichtliche Entscheidung festgestellt hat, daß der
ottomanische Staat nach dem ottomanischen Gesetz über den Grundbesitz in Bosnien
und der Herzegowina verschiedenartiges unbewegliches Eigentum besaß, verpflichtet
sich die gemeinsame österreichisch-ungarische Regierung, binnen fünfzehn Tagen
nach der Ratifizierung des gegenwärtigen Protokolls der ottomanischen Regierung in
Konstantinopel den Betrag von 2 ½ Millionen türkischer Pfund (54 Millionen Kronen)
in Gold als Gegenwert dieser unbeweglichen Güter. 317
314
Kamler, Annexion und Erwerb, 201.
Übers. d. Verf.
316
Frass, Quellenbuch 3, 311.
317
Frass, Quellenbuch 3, 311.
315
78
Nach dem Februarvertrag wurde auch der Boykott der österreichisch-ungarischen Waren
eingestellt. 318 Auch mit Bulgarien einigte sich die Türkei auf finanzieller Basis und legte
damit die Krise bei. 319
6.2.3
Österreichisch-serbischer Konflikt
Die guten Beziehungen zwischen den Osmanen und der Donaumonarchie waren
wiederhergestellt, und seit dem Abkommen ließ das Interesse der europäischen Mächte nach.
Doch war die Krise noch immer nicht vollkommen gelöst, „weil Serbien weiter auf
territorialen Kompensationen beharrte, fortgesetzt gegen Österreich rüstete und Freischärler
an der Grenze zur Monarchie organisierte.“ 320
Die Einigung zwischen dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn empörte das
serbische Reich noch mehr. Serbien war fest entschlossen, seine Forderungen mit allen
Mitteln durchzusetzen. Die k.u.k. Regierung hingegen ließ sich durch die herrschende Lage
nicht aus der Ruhe bringen. Erst wenn es zu Verletzungen des österreichischen Territoriums
kommen würde, wollte Kaiser Franz Joseph handeln. 321
Aufgrund der immer explosiv werdenden Lage forderte Conrad von Hoetzendorf Ende
Feburar 1909 einen Präventivkrieg. Das Parlament verlangte aber eine friedliche Lösung der
Krise. 322 Auch Franz Joseph und Aehrenthal lehnten eine bewaffnete Auseinandersetzung ab
und sprachen sich für einen diplomatischen Weg aus. Der Außenminister schützte nur die
Grenzen und ließ einen Teil des Heeres in Kriegsbereitschaft setzen. 323 Aehrenthal wollte den
Serben in freundschaftlicher Weise erklären, dass er mangels eines Rechtstitels die
Forderungen Serbiens nicht akzeptieren könne. Wenn das serbische Reich aufhört
Forderungen zu stellen und zu rüsten, wird Österreich im Gegenzug Konzessionen auf
wirtschaftlichem und verkehrspolitischem Wege gewähren. Sollte jedoch das serbische Reich
keine friedlichen Erklärungen abgeben, so werde die Monarchie ein Ultimatum stellen und
318
Kamler, Annexion und Erwerb, 141f.
Vgl. Vocelka, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, 270.
320
Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 252.
321
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 148f.
322
Vgl. Hantsch, Die Geschichte Österreichs, Band 2, 527.
323
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 151f.
319
79
nach drei Tagen einmarschieren. Aehrenthal wünschte direkte Verhandlungen mit Serbien
und wies somit die Vermittlung der anderen Mächte ab. 324
Um die bilateralen Verhandlungen zu eröffnen, sandte der Graf Forgách im Auftrage
Aehrenthals am 6.März 1909 ein Schreiben an Serbien und forderte darin die Änderung der
serbischen Haltung und direkte Verhandlungen. Das serbische Reich richtete daraufhin in
einer Zirkularnote an alle Mächte, dass Serbien keinen Krieg beabsichtige und auch keine
territorialen Kompensationen stelle. Außerdem überlasse es die Angelegenheit den Mächten.
Am 15.März erhielt die österreichische Regierung eine Antwort auf das Schreiben vom
6.März: Weder von der Friedenserklärung noch von direkten Verhandlungen war die Rede.
Die serbisch-österreichische Krise verschärfte sich. Aehrenthal war äußerst gekränkt. Beide
Seiten verstärkten ihre Truppen. 325
6.2.4
Beendigung der Krise
Aehrenthal erkannte, dass es keinen anderen Weg gab, Serbien zu einer Änderung zu
bewegen, als in Petersburg einen energischen Vorstoß zu machen. Er wusste, dass Serbien
ohne russische Unterstützung machtlos war. Deshalb nahm die Monarchie Gespräche mit
Russland auf, um die Krise zu beenden. Der österreichisch-ungarische Außenminister drohte
der russischen Regierung, geheime Aktenstücke zu veröffentlichen, die sich auf den der
Annexion vorangegangen Gedankenaustausch mit Iswolski beziehen, falls Russland den
Serben nicht die Erklärung abgibt, „daß nach der Unterzeichnung des Konstantinopler
Protokolls (26.2.1909) die Tatsache der Annexion von den Mächten materiell nicht weiter
erörtert werden können und dem Wesen nach als bereinigt anzusehen sei.“ 326
Nach mehreren Gesprächen mit Russland und Vermittlungen der deutschen und englischen
Reiche gab Russland schließlich nach und erkannte die Annexion an. 327 Der Reichskanzler
von Bülow musste aber einen starken Druck ausüben, ehe Russland seine Politik änderte. 328
Als der russische Außenminister erkannte, dass er mit Deutschland in einen Konflikt geraten
324
Vgl. ebd. 153f.
Vgl. Kamler, Anenxion und Erwerb, 158f.
326
Ebd. 161.
327
Ebd.
328
Vgl. Hantsch, Die Geschichte Österreichs, Band 2, 527f.
325
80
könnte, zog er sich zurück. Dieser Rückzug des Russischen Reiches veranlasste Serbien
ebenfalls zur Umkehr. 329
Ende März erreichte die Krise ihren Höhepunkt: Wien war zum Krieg gegen Serbien gerüstet
und auch bereit, ihn zu führen. Österreich erhielt von allen Großmächten, die einen
europäischen Krieg vermeiden wollten, eine Zustimmung zur Annexion und außerdem wurde
ein Kollektivschreiben an Serbien gerichtet. Die europäischen Staaten forderten in einem
Aide-mémoire die serbische Regierung auf, sofort eine Note an die österreichisch-ungarische
Regierung zu verfassen. 330 Daraufhin lenkten die Serben ein und beauftragten Simić, den
serbischen Gesandten in Wien, am 31.März 1909 die auf Grund der österreichischungarischen Forderungen ausgearbeitete Note der Donaumonarchie zu überreichen:
Serbien erkennt an, daß es durch die in Bosnien geschaffene Tatsache in seinen
Rechten nicht berührt werde, und daß es sich demgemäß der Entscheidung fügen wird,
die die Mächte bezüglich des Artikels XXV des Berliner Vertrages [Okkupation von
Bosnien-Herzegowina] treffen werden. In Befolgung der Ratschläge der Großmächte
verpflichtet sich Serbien, von nun an die protestierende und oppositionelle Haltung
aufzugeben, die es seit dem letzten Herbst der Annexion gegenüber eingenommen hat,
und es verpflichtet sich ferner, die Richtung in seiner gegenwärtigen Politik gegenüber
Österreich-Ungarn zu ändern und künftig auf dem Fuße guter Nachbarschaft mit
letzterem zu haben. 331
Nach der friedlichen Lösung der österreichisch-serbischen Krise durch die serbische Note
vom 31.März gaben die europäischen Mächte im Zeitraum vom 7. bis 19.April 1909 die
formelle Zustimmung zur Aufhebung des Artikels XXV und anerkannten damit ausdrücklich
die Annexion. 332
Damit war die seit Oktober 1908 andauernde bosnisch-herzegowinische Krise beendet und die
Rechtmäßigkeit der Annexion erfolgt, und es bedurfte keiner Konferenz mehr.
329
Vgl. Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns 2, 218.
Vgl. Buchmann, Österreich und das Osmanische Reich, 252f.
331
Krämmer, Okkupation und Annexion, 212f.
332
Vgl. Kamler, Annexion und Erwerb, 178.
330
81
7
Zusammenfassung
Das Ziel dieser Diplomarbeit war es, die Reaktionen der verschiedenen Regierungsträger der
Donaumonarchie auf die Jungtürkische Revolution, der die Annexion von Bosnien und der
Herzegowina folgte, zu untersuchen. Zu Beginn wird ein historischer Abriss geboten, wie die
Monarchie überhaupt zu Bosnien kam. Wir haben erfahren, dass durch den Artikel XXV des
Berliner Vertrages, dessen Schlusssitzung am 13.Juli 1878 staatfand, die österreichischungarische Monarchie das Recht zu Verwaltung und Besetzung von Bosnien und der
Herzegowina erhalten hatte. Österreich-Ungarn investierte sehr viel Geld in das
Einrichtungswerk, da die beiden Provinzen sich in einem äußerst desolaten Zustand befanden.
Daran anschließend wird die Entstehungsgeschichte der Jungtürkischen Bewegung
vorgestellt. Um dem Absolutismus im Osmanischen Reich zu trotzen, bildete sich eine Reihe
von Gegenbewegungen, und erst der Jungtürkischen Bewegung gelang es im Juli 1908, den
autoritären Sultan dazu zu bewegen, die Verfassung von 1867 wiedereinzuführen. Im
Anschluss daran wird die Reaktion der verschiedenen Regierungsstellen der österreichischungarischen Monarchie auf die Jungtürkische Revolution untersucht. Hierfür wurden diverse
Aktenstücke, Privatschreiben, Korrespondenzen und Ausfertigungen des Jahres 1908 der
Aktensammlungen „Große Politik der europäischen Kabinette“ und „Österreich-Ungarns
Außenpolitik“ analysiert. Eine kurze Biographie der jeweiligen k.u.k. Funktionsträger ging
der Analyse der verschiedenen Reaktionen voraus. Bei der gründlichen Analyse der
Haltungen der k.u.k. Politiker und des k.u.k Herrschers haben wir erfahren, dass die
Jungtürkische Revolution nicht der einzige Grund war, die die Monarchie zur Annexion von
Bosnien und der Herzegowina, dessen Okkupation im Jahre 1878 erfolgt ist, veranlasst hat,
sondern dass die Bedrohung der großserbischen Bewegung ein weiterer ausschlaggebender
Grund war. Im Folgenden fand ein Abriss über die Proklamation der Annexionserklärung und
die Rechtmäßigkeit der Annexion statt. Nach einem allgemeinen Teil über die Definition des
problematischen Begriffes der Annexion wird mit der völkerrechtlichen Beurteilung der
Annexion von Bosnien und der Herzegowina fortgesetzt. Wir haben festgestellt, dass die
Einverleibung aus mehreren Gründen nicht rechtmäßig war: Verletzung des Berliner
Vertrages, Verstoß gegen das Londoner Protokoll, Fehlen eines Rechtstitels, Verletzung der
Souveränitätsrechte des osmanischen Herrschers. In der Folge wird auf die internationale
Reaktionen und der Beilegung der Annexionskrise eingegangen. Der Außenminister
Aehrenthal hatte die internationale Reaktion falsch eingeschätzt und verursachte mit der
82
Einverleibung der beiden Gebiete eine Welle der Entrüstung. Die Einverleibung hatte nicht
nur das Osmanische Reich, sondern auch die europäischen Mächte empört. Während die
Reaktion der Türkei im Vergleich zu der Haltung Russlands, Englands, Frankreichs, Serbiens
und Italiens gemäßigter ausfiel, stand das Deutsche Reich als einziger europäischer Staat zu
Österreich-Ungarn. Nach dem gescheiterten Konferenzplan des russischen Außenministers,
schaffte es Aehrenthal, sich mit den Osmanen zu einigen. Auch die serbische Bedrohung
wurde binnen kürzester Zeit beseitigt, und damit fand die Annexionskrise, die den
europäischen Raum von Oktober 1908 bis März 1909 beunruhigt hatte, ihr Ende.
83
ANHANG
84
8
8.1
Quellen-und Literaturverzeichnis
Quellen
Bittner Ludwig/ Uebersberger Hans (Hrsg.), Österreich-Ungarns Aussenpolitik von der
Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des
österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußeren, Band 1, Wien/Leipzig 1930.
Chlumecky, Leopold von, Erzherzog Franz Ferdinands Wirken und Wollen, Verlag für
Kulturpolitik, Berlin 1929.
Feldmarschall Conrad: Aus meiner Dienstzeit 1906–1918. Erster Band: Die Zeit der
Annexionskrise 1906–1909, Rikola Verlag, Wien/Berlin/Leipzig/München 1921-1925.
Frass Otto, Quellenbuch zur österreichischen Geschichte. Von Joseph II. bis zum Ende der
Großmacht, Band 3, Birken-Verlag, Wien 1962.
Freiherr von Musulin, Das Haus am Ballhausplatz. Erinnerungen eines österreichischungarischen Diplomaten, Verlag für Kulturpolitik, München 1924.
Lepsius Johannes (u.a.), Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung
der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. 26.Band. Die Bosnische Krise 1908-1909.
Erste Hälfte, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1925.
Molden Berthold, Alois Graf Aehrenthal. Sechs Jahre äußere Politik Österreich-Ungarns,
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und Berlin 1917.
Schmied-Kowarzik Anatol, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der ÖsterreichischUngarischen Monarchie, Band 6: 1908-1914, Verlag der Österreichischen Akademie,
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Objekt-Nr.: 17.46b, 711.
Online unter: http://wwwg.uni-klu.ac.at/kultdoku/kataloge/20/html/1831.htm
Letzter Aufruf: 16.11.2013
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Letzter Aufruf: 27.10.2013
Yildirim Metin, Türkischer Nationalismus Gestern und Heute. Die Auswirkungen des
nationalistischen Diskurses auf die türkische Gesellschaft vom 19.Jahrhundert bis zur
Gegenwart (Magisterarbeit), Freiburg 2010.
Online unter:
http://books.google.at/books?id=jIu73oRDhNgC&pg=PT30&lpg=PT30&dq=jungosmanen&s
ource=bl&ots=jG4GCill45&sig=sqthEkTHnY_JkdWinUOLLnNkjYs&hl=de&sa=X&ei=G7
EcUprIPKrP4QSTwIFI&sqi=2&ved=0CF4Q6AEwCQ#v=onepage&q=jungosmanen&f=false
Letzter Aufruf: 27.08.2013
91
10 Abbildungsverzeichnis
(Ich habe mich bemüht, sämtliche Inhaber der Bildrechte ausfindig zu machen. Sollte dennoch eine
Urheberrechtsverletzung bekannt werden, ersuche ich um Meldung bei mir.)
1.Abb.: Anton von Werner, Der Berliner Kongress 1878, Erste Skizze.
Quelle: http://kunstkommtvonkoennen.blogspot.co.at/2009_04_01_archive.html
Letzter Aufruf : 29.08.2013
2.Abb.: Zerfall der europäischen Türkei (vor 1878).
Quelle: Johannes Brzobohaty/Robert Salmeyer/Christa Zellhofer (u.a.), Zeitfenster 6.
Lehrbuch für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung für AHS, Wien 2013.
Online unter:
http://www.hoelzel.at/einzelnews.html?&cHash=727b94a6fdf552fecec6cd2ad7932afb&tx_ttn
ews[sViewPointer]=1&tx_ttnews[tt_news]=73
Letzter Aufruf: 13.11.2013
3.Abb.: Sultan Abdülhamid II.
Quelle: Ebert Johannes, Die Chronik- Geschichte des 20.Jahrhunderts bis heute, Chronik
Verlag, Gütersloh [u.a.] 2006.
4.Abb.: Werke und Taten des Kaisers.
Quelle: http://www.viennatouristguide.at/Ring/KHM/Stiegenhaus/khmarch.htm
Letzter Aufruf : 30.10.2013
5.Abb.: Attentat von Sarajewo.
Quelle: Das Interessante Blatt, 9.Juli 1914.
Online unter: http://www.habsburger.net/de/medien/attentat-von-sarajewozeitungsillustration-1914
Letzter Aufruf: 12.11.2013
92
6.Abb.: Alois Graf Aehrenthal.
Quelle: Carlgren Wilhelm Mauritz, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen
Annexionskrise. Russische und österreichisch-ungarische Balkanpolitik 1906-1908. Almqvist
& Wiksell, Uppsala 1955.
7.Abb.: Sándor Wekerle, offizielles Portraitfoto, um 1906. Nachlass Wekerle.
Quelle: Geyr Géza Andreas von, Sándor Wekerle 1848-1921. Die politische Biographie eines
ungarischen Staatsmannes der Donaumonarchie, R.Oldenbourg Verlag, München 1993.
8.Abb.: Feldmarschalls Conrad von Hoetzendorfs letzte Fahrt, Gebrüder Knozer, Wien.
Quelle: Wiener Bilder, 6.September 1925.
Online unter: ANNO, Historische österreichische Zeitschriften, http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?apm=0&aid=wrb&datum=19250906&seite=1.
Letzter Aufruf: 11.12.2013
9.Abb.: Protokoll zwischen Österreich-Ungarn und der Pforte über die Annexion von
Bosnien-Herzegowina, Fotostudio Otto, Wien. In: Ernst Bruckmüller/ Peter Urbanitsch
(Hrsg.), Ostarrîchi - Österreich 996-1996. Menschen, Mythen, Meilensteine. Katalog der
Österreichischen Länderausstellung in Neuhofen an der Ybbs und St. Pölten. Katalog des
Niederösterreichischen Landesmuseums. N.F. 388. – Horn: Berger 1996. XXIV, 736. 4°.
Objekt-Nr.: 17.46b.
Quelle: http://wwwg.uni-klu.ac.at/kultdoku/kataloge/20/html/1831.htm
Letzter Aufruf : 16.11.2013
93
11 Abkürzungsverzeichnis
Anm. d. V.
Anmerkung der Verfasserin
AMD
Aus meiner Dienstzeit
ebd.
ebenda
f.
folgende
ff.
fortfolgende
GP
Große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, Sammlung der
Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, herausgegeben von
Johann Lepsius (u.a.), Berlin 1922.
Hrsg.
Herausgeber
kgl.
königlich
k.k.
kaiserlich-königlich
k.u.k.
kaiserlich und königlich
NDB
Neue Deutsche Biographie
NL Ae
Aus dem Nachlass Aehrenthal
ÖUAP
Österreich-Ungarns Aussenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis
zum Kriegsausbruch 1914, Diplomatische Aktenstücke des
österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußeren, Band 1,
herausgegeben von Ludwig Bittner, Hans Uebersberger, Wien/Leipzig
1930.
ÖBL
Österreichisches Biographisches Lexikon
u.a.
und andere
Übers. d. V.
Übersetzung der Verfasserin
vgl.
vergleiche
94
12 Abstract
Die vorliegende Diplomarbeit richtet das Hauptaugenmerk auf die Reaktionen der
verschiedenen Regierungsstellen der österreichisch-ungarischen Monarchie nach der
Jungtürkischen Revolution im Jahre 1908. Die Analyse beginnt mit der Balkankrise, um zu
verdeutlichen, wie Österreich-Ungarn das Okkupationsrecht von Bosnien und der
Herzegowina erhält. Im Folgenden widmet sich die Arbeit der Geschichte der Jungtürkischen
Bewegung und daran anschließend setzt der Hauptteil meiner Untersuchung, die Reaktionen
der k.u.k. Regierungsträger auf die Revolution, an. Hier werden die gemeinsamen
Ministerratsprotokolle Österreich-Ungarns und die diplomatischen Aktenstücke des
österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußeren benutzt, um die Haltungen der
verschiedenen Regierungsstellen zu untersuchen. Nach der Analyse der Rechtmäßigkeit der
Annexion von Bosnien und Herzegowina, wird im letzten Teil der Arbeit auf die
internationalen Reaktionen und die Beilegung der Krise eingegangen.
95
13 Lebenslauf
Angaben zur Person
Name:
Mihriban Acikalin
Nationalität:
Österreich
Familienstand:
verheiratet
Ausbildung
1995-1999
Volksschule in Wien
1999-2007
Bundesgymnasium in Wien
06/2007
Matura mit ausgezeichnetem Erfolg
2007/08-2014
Lehramt Französisch und Geschichte an der Universität
Wien
Auslandsaufenthalt
September 2010- Februar 2011 Erasmus an der Université de
Strasbourg
Sprachkenntnisse
Zazaki (Muttersprache)
Deutsch (fließend in Wort und Schrift)
Türkisch (fließend in Wort und Schrift)
Englisch (sehr gute Kenntnisse in Wort und Schrift)
96
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