ZEITGESPRACH Zehn Jahre deutsche Währungsunion - Was bleibt zu tun? Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung hat sich die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland noch nicht in dem Maße an das westdeutsche Niveau angeglichen, wie es damals von vielen erwartet wurde. Was bleibt zu tun? Georg Milbradt Aufbau Ost ein langwieriger Prozess Z ehn Jahre nach der Wiedervereinigung eine objektive und genaue Bilanz zu ziehen fällt schwer. Zwar sind die staatlichen Institutionen weitgehend erfolgreich aufgebaut und Fortschritte im Bereich der Infrastruktur für Jedermann sichtbar. Jedoch muss die ökonomische Seite des Einheitsprozesses sehr viel differenzierter betrachtet werden, da hier nach wie vor große Schwierigkeiten bestehen. Der wirtschaftliche Neubeginn im Osten gestaltete sich problematischer als anfangs erwartet. Der Systemwechsel deckte schonungslos die Defizite der sozialistischen Planwirtschaft auf. Der Kapitalstock war in hohem Maße verschlissen und technologisch veraltet. Das Auseinanderfallen der osteuropäischen Märkte und die Verteuerung der ostdeutschen Produktion und Produktionsfaktoren durch den Beitritt der DDR zum Währungsgebiet der D-Mark stellte die Wirtschaft vor riesige WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII Anpassungsprobleme. Gleichzeitig wurden Arbeitseinkommen vereinbart, die den tatsächlichen Produktivitätsverhältnissen der Betriebe nicht entsprachen. Dies führte zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen und beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft bis heute. Die 1990 gehegte Hoffnung auf eine schnelle wirtschaftliche Erholung im Osten basierte in erster Linie auf den Erfahrungen Westdeutschlands nach dem zweiten Weltkrieg. Dass das westdeutsche Wohlstandsniveau auch nicht innerhalb von zehn Jahren erreicht wurde, wird dabei schnell vergessen. Selbst wenn für die neuen Länder in den nächsten Jahren ein kräftigeres Wachstum als im Westen unterstellt wird, ist die Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse weiterhin ein langwieriger Prozess. Dies sollte kein Grund zur Beunruhigung sein, da ökonomische Anpassungsprozesse nie im Gleichschritt ablaufen und Rück- schläge in solch langen Zeiträumen nicht ungewöhnlich sind. Güterentstehung und Produktivität Nach einem erheblichen Einbruch in den Jahren 1990/91 konnten in den anschließenden Jahren bis 1994 Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von über 9% für die ostdeutschen Länder erreicht werden (vgl. Abbildung 1). Seitdem aber gingen die Wachstumsraten wieder zurück. 1997 lag das ostdeutsche Wachstum erstmals wieder unterhalb des westdeutschen Niveaus. Das BIP je Einwohner betrug 1991 etwa 30% des Westniveaus und erreichte 1998 mit 27 982 DM rund 55% des Durchschnitts der westdeutschen Länder und liegt deutlich unter 75% des EUDurchschnitts. Die neuen Länder stehen damit in einem EU-weiten Vergleich auf einer Stufe mit Griechenland, Regionen Süditaliens oder Portugal. 391 ZEITGESPRACH Abbildung 1 Wachstumsraten Ost/West eine aus Markterschließungsgründen häufig notwendige Niedrigpreisstrategie und vor allem eine noch geringe Vernetzung zwischen großen und kleinen Unternehmen sowie mit leistungsfähigen mittelständischen Zulieferfirmen bzw. Dienstleistungsbetrieben vor Ort erschweren einen weiteren Produktivitätsanstieg. Westdeutschland Ostdeutschland 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 Q u e l l e : Statistisches Bundesamt; Graphik: Sächsisches Staatsministerium der Finanzen; Werte für 2000: IWH-Prognose. Betrachtet man die Entwicklung differenziert nach Sektoren oder Branchen, so ergibt sich jedoch ein extrem uneinheitliches Bild. Während das Verarbeitende Gewerbe (bei allen Unterschieden zwischen den Branchen) insgesamt als Wachstumsmotor angesehen werden kann, sind im anteilig immer noch gewichtigen Baugewerbe deutliche Schrumpfungsprozesse zu verzeichnen. Der Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Wachstums seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ist zu einem Gutteil auf diese letztlich unvermeidlichen Rückgänge in der Baubranche zurückzuführen. Der alleinige Blick auf das BIP verdüstert somit die ökonomische Bilanz des Einheitsprozesses und verschleiert durchaus bestehende positive Entwicklungen der Produktion in vielen anderen Zweigen. Eine wesentliche Ursache der gesamtwirtschaftlichen Probleme liegt in der nach wie vor zu geringen Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft. Die Arbeitsproduktivität (pro Kopf) konnte zwar im Vergleich zum Westen von 31 % (1991) auf 59,4% (1998) gesteigert werden, liegt damit aber weiterhin deutlich unter den westdeutschen Werten (vgl. Abbildung 2). Die gesamtwirtschaftliche Ost-West- 392 Produktivitätslücke lässt sich im Wesentlichen durch die besondere Struktur der ostdeutschen Wirtschaft erklären. Sie exportiert trotz hoher Zuwachsraten nach wie vor zu wenig ins Ausland. Die Exportquote lag 1998 in den ostdeutschen Ländern bei lediglich 17,9%, während die westdeutschen Länder einen Wert von 34,3% aufwiesen. Ein wichtiger Grund hierfür besteht wiederum in der großen quantitativen Bedeutung der binnenmarktorientierten Bauwirtschaft. Der niedrige Kapitalstock, Die Autoren unseres Zeitgesprächs: Prof. Dr. Georg Milbradt, 55, ist Sächsischer Staatsminister der Finanzen. Prof. Dr. Rüdiger Pohl, 55, ist Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle und lehrt Volkswirtschaftslehre an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Karl-Heinz Paque, 43, ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere für Internationale Wirtschaft an der Ottovon-Guericke-Universität in Magdeburg. Während die Produktivität pro Kopf der ostdeutschen Betriebe 1998 erst knapp 60% des Westniveaus erreichte, lagen die Lohnkosten pro Kopf mit 73,8% des Westniveaus - relativ betrachtet erheblich höher. Die Lohnproduktivitätslücke betrug 1998 24,1%. Sie bildet auch für die kommenden Jahre die Achillesferse des Aufbaus Ost, weil die ostdeutschen Betriebe dadurch einen erheblichen Nachteil gegenüber den nationalen und internationalen Wettbewerbern erfahren. Hohe Arbeitslosigkeit Der Transformationsprozess wurde von einem erheblichen Personalabbau begleitet. Seit 1989 sind in Ostdeutschland netto rund zwei Fünftel aller Arbeitsplätze verloren gegangen. Gleichzeitig wies der Arbeitsmarkt nach der Wende eine sehr große Dynamik auf, der sich die Ostdeutschen gestellt haben. Heute arbeiten rund drei Viertel der Beschäftigten in einem anderen Beruf oder auf einem anderen Arbeitsplatz als vor der Wende. Die hohe Arbeitslosigkeit resultiert jedoch nicht allein aus einem geringen Angebot von Arbeitsplätzen, sondern vor allem aus der hohen Nachfrage durch Arbeitsuchende, also einer höheren Erwerbsneigung. Nur wenige Menschen wissen, dass die Ausstattung mit Arbeitsplätzen in Sachsen mit 417 Arbeitsplätzen pro 1000 Einwohnern überdurchschnittlich WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII ZEITGESPRACH Abbildung 2 Lohnkosten und Produktivität Ost (in% des Westniveaus) 80 -i 72.5 73.6 74,4 73,8 59,4 60- 40- 20- 24,1 1991 1992 Lohnkosten pro Kopf 1993 A 1994 1995 Lohn-Produktivitäts-Lücke .SJö 1997 1998 —• • Produktivität pro Kopf Q u e l l e : Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen; Graphik: Sächsisches Staatsministerium der Finanzen. gut ist (vgl. Abbildung 3). Unter den Flächenländern in Deutschland wird dieser Wert nur von drei Ländern übertroffen: Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Dennoch können und dürfen diese Zahlen nicht von der gesellschaftlichen Brisanz des Problems der Arbeitslosigkeit ablenken. Solidarpakt I Trotz einiger Fehlentwicklungen und des nach wie vor bestehenden Anpassungsbedarfs hat der Aufbau Ost mittlerweile einen sehr beachtlichen Stand erreicht. Die positiven Entwicklungen sind unübersehbar. Die Telekommunikationsstruktur ist die modernste der Welt, die Qualität von Eisenbahnen und Fernstraßen nähert sich westdeutschem Niveau. Schulen und Universitäten sind reformiert, wobei letztere zunehmend auch von westdeutschen Studenten besucht werden. Die medizinische Versorgung ist gut ausgebaut und die zuvor unverantwortlichen Umweltbelastungen sind dramatisch reduziert worden. Wesentlich zu dieser Entwicklung haben die finanziellen Unterstützungen im Rahmen des Solidarpakts und durch die Europäische Union beigetragen. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII Schwerpunkt des Solidarpakts war das Föderale Konsolidierungsprogramm (FKP), das im Wesentlichen aus der Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs unter Einbeziehung der neuen Länder sowie der Schaffung des Sondervermögens „Erblastentilgungsfonds" bestand. Im Ergebnis dieser Verhandlungen wurde für zehn Jahre ein jährliches Transfervolumen von 56,8 Mrd. DM für den Osten (einschließlich Gesamtberlins) zwischen Bund und Ländern beschlossen. Dafür entfielen mit der Umsetzung des Solidarpaktes im Jahr 1995 die Leistungen aus dem Fonds „Deutsche Einheit" in Höhe von 33,6 Mrd. DM und die Berlin-Hilfe in Höhe von 6,2 Mrd. DM. Neben der Integration der neuen Länder in den bundesdeutschen Finanzausgleich werden den neuen Ländern, zunächst befristet bis zum Jahr 2004, Mittel zur Finanzierung von Sonderbelastungen und des infrastrukturellen Nachholbedarfs gewährt. Trotz der erheblichen Mehreinnahmen für die ostdeutschen Länder infolge des Solidarpaktes blieb der Umfang der Leistungen hinter den Erwartungen zurück. Begrün- det ist dies durch Verschiebungen der Steuerkraftentwicklung zwischen den Ländern sowie durch bundesweite Steuermindereinnahmen seit 1995. Denn mit Ausnahme der gesetzlich festgesetzten Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen und der IfGMittel hängen die Transferleistungen von der Entwicklung der Steuereinnahmen in West und Ost ab. Solidarpakt II Mit dem Auslaufen des Solidarpaktes im Jahr 2004 ist der Aufbaüprozess in den neuen Ländern aber keineswegs abgeschlossen. Wichtige finanzwirtschaftliche Kennziffern fallen nach wie vor zu Ungunsten der neuen Länder aus: D Die Finanzkraftunterschiede zwischen west- und ostdeutschen Gebietskörperschaften konnten noch nicht hinreichend abgebaut werden, die originären Steuern der neuen Länder weisen vor jeder Umverteilung nur knapp ein Drittel des westdeutschen Wertes auf. D Die Steuereinnahmen decken auch unter Einrechnung der Umsatzsteuerverteilung bislang erst gut 50% der Ausgaben. Die Steuerdeckungsquote der alten Länder liegt im Vergleich dazu bei durchschnittlich 75%. Deshalb besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass nach dem Auslaufen des Solidarpaktes I eine Anschlussregelung erforderlich ist. Dies wurde auch Ende Mai bei einem Treffen der ostdeutschen Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler deutlich. Die inhaltliche Ausgestaltung ist aber noch unklar, und die neuen Länder stehen mit ihrer Forderung nach einer Anschlussregelung in einer umfassenden Begründungspflicht. Führende Wirtschaftsforschungsinstitute haben hierzu eine Be- 393 ZEITGESPRACH Abbildung 3 Arbeitsplatzdichte der Flächenländer (1999) bOU -i 444 400 - ; s i I 300 *200 - ! '{ 439 ! ! t •1 •' ! -1 i • •I 100 • ! ; i- : 425 403 ]' s •i 398 398 396 386 391 • 1 - ! j i 379 367 • t 'i \- -j . I t i 384 • j , I I j Q u e l l e : Sächsisches Staatsministerium der Finanzen. Standsaufnahme des Aufbaus Ost vorgelegt, die folgende, über das Jahr 2004 hinaus fortdauernde Sonderlasten beschreibt: D Infrastruktureller Nachholbedarf. Die Institute messen dem Abbau des teilungsbedingten Nachholbedarfs eine Schlüsselrolle für die weitere Entwicklung Ostdeutschlands bei. Nach den Untersuchungen beläuft sich die Infrastrukturlücke auf rund 300 Mrd. DM. Defizite bestehen nach wie vor im Bereich der wirtschaftsnahen Infrastruktur und hier insbesondere bei der Verkehrsinfrastruktur abseits der großen Magistralen. D Unterproportionale kommunale Steuerkraft. Die kommunale Steuerkraft in den ostdeutschen Flächenländern betrug 1999 knapp 40% des Westniveaus. Wie die jüngsten Steuerschätzungen zeigen, dürften die ostdeutschen Kommunen auch 2005 noch deutlich unter 50% des Westniveaus bleiben. D Wirtschaftsförderung. Trotz der kräftigen Investitionstätigkeit ist die Ausstattung der Arbeitsplätze mit Sachkapital noch unbefriedigend. So betrug die Ausrüstungsausstattung je Erwerbsfähigen in Ostdeutschland 36 700 DM, in Westdeutschland hingegen durch- 394 schnittlich 61 300 DM. Auch die Förderung von Forschungs- und Entwicklüngsaktivitäten und die finanzielle Unterstützung von Maßnahmen zur Markterschließung bedürfen in Zukunft weiterer Unterstützung. Künftiger Handlungsbedarf Der weitere Aufbau in den neuen Ländern bedarf auch über 2004 hinaus der gesamtstaatlichen Unterstützung. Bei allen wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten Ostdeutschlands wäre es jedoch für die Generationenaufgabe des Einigungsprozesses in jeder Hinsicht fatal, unter Verweis auf die schwierigen Ausgangsbedingungen in eine Art passiver Nehmermentalität zu verfallen und die Abhängigkeit vom Westen zu kultivieren. Vor allem bekäme der Ost-West-Gegensatz eine verschärfte politisch-psychologische Komponente, was nicht im Sinne des föderalen Systems und nicht im Sinne Ostdeutschlands sein kann. Daher sieht sich der Freistaat Sachsen auch weiterhin in der Pflicht, ergänzend zu den Hilfen seinen eigenen Beitrag zu mehr Wachstum und Konsolidierung zu leisten, um die Abhängigkeit von den Transferleistungen zu mindern. Konkret heißt das beispielsweise, dass der sächsische Haushalt versucht, alle laufenden Ausgaben mit laufenden Einnahmen zu finanzieren. Zusätzlich zur Verfügung stehende Finanzmittel werden konsequent für den Aufbau eingesetzt. Der Haushalt des Freistaats Sachsen weist im Vergleich zu den übrigen ostdeutschen Ländern eine deutlich höhere Investitionsquote auf. Sie liegt bei rund 27%, während der Wert in den anderen neuen Ländern durchschnittlich um ca. 6 Prozentpunkte niedriger ausfällt. Langfristig wird sich dies als großer Vorteil darstellen. Dennoch muss man sich bereits heute auf weiter sinkende Einnahmen vorbereiten. Da Sachsen zur Realisierung erforderlicher Ausgabeneinschnitte nicht bereit ist, auf zukunftsorientierte Investitionen zu verzichten, muss konsequent bei den laufenden Ausgaben insbesondere für das Personal angesetzt werden. Zudem soll die Verschuldung Sachsens moderat bleiben, um nicht von der Zinsseite her unter Druck zu geraten. Während Sparen üblicherweise bedeutet, dass man vorhandenes Geld für die Zukunft zurücklegt, heißt Sparen für die sächsische Staatsregierung, Geld, das man nicht hat, nicht auszugeben. Zusätzlich zum Stellenabbau ist vor allem eine umfassende Strukturreform der staatlichen Verwaltung erforderlich. Gerade angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen sind hier Einschnitte angezeigt, die sicherlich auch schmerzlich sind. Sachsen geht bereits diesen Weg und wird ihn künftig verstärkt verfolgen - nicht aus purer Freude am Sparen, sondern zur Stabilisierung und Entwicklung des Landes und damit zur Verstetigung des deutschen Einigungsprozesses. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII ZEITGESPRÄCH Rüdiger Pohl Zehn Jahre nach der Währungsunion: drei Thesen über die ostdeutsche Wirtschaft A lach wie vor bestimmen harte \ VKontraste das Bild der ostdeutschen Wirklichkeit. Sie verhindern ein einheitliches Urteil über die Transformation (These 1). Von Anfang an war die ostdeutsche Transformation von positiven und negativen Bewertungen begleitet: Gewinner stehen gegen Verlierer, Erfolg steht neben Misserfolg. Zehn Jahre nach Einführung der D-Mark hat sich an den harten Kontrasten nichts geändert. Die Auflistung düsterer Daten ist leicht möglich. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Der Wohnungsleerstand erreicht ein dramatisches Ausmaß. In einigen Wirtschaftszweigen schrumpft die Produktion immer noch erheblich. Manche Regionen sind von massiven Abwanderungen betroffen. Der anhaltende Lohnrückstand gegenüber Westdeutschland löst Unzufriedenheit aus („Bürger zweiter Klasse"). Die gesamtwirtschaftliche Produktivität liegt erst bei zwei Dritteln des westdeutschen Niveaus. Ostdeutschland ist auf hohe Transferzahlungen aus Westdeutschland angewiesen. Ebenso leicht lässt sich eine Erfolgsgeschichte erzählen. Die Bevölkerung realisiert heute einen Lebensstandard, der in der sozialistischen Mangelwirtschaft der DDR nicht vorstellbar gewesen war. An die Stelle zusammengebrochener Produktionsstrukturen sind Unternehmen gerückt, die sich im Wettbewerb an den Weltmärkten bewähren müssen. Das * Der Beitrag basiert auf Rüdiger P o h l : Die unvollendete Transformation. Ostdeutschlands Wirtschaft zehn Jahre nach Einführung der D-Mark in der DDR, in: IWH, Wirtschaft im Wandel, Heft 8/2000. WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII gewerbliche Bruttoanlagevermögen ist weitgehend modernisiert. Dem Substanzverfall von Wohnraum und Infrastruktur, den die DDR nicht mehr aufhalten konnte, ist Einhalt geboten, die Erneuerung mit großem Aufwand vorgenommen worden. Die ökologische Lebensgrundlage, in der DDR unverantwortlich beeinträchtigt, wird wiederhergestellt. Die marktwirtschaftlichen Institutionen sind in Ostdeutschland etabliert und inzwischen eingeübt. Es bleibt der persönlichen Bewertung jedes einzelnen überlassen, wie er die Gesamtbilanz sieht. Kontroversen darüber werden bestehen bleiben. Kontrovers wird auch bleiben, ob andere Weichenstellungen besser gewesen wären (eine Währungsunion nach, nicht vor Reformen in der DDR; eine an der Leistungskraft orientierte, statt sie anfangs überfordernde Lohnentwicklung; gar ein „dritter Weg" zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft). Doch „Was-wäre-gewesen-wenn"-Debatten sind nicht zukunftweisend. Fest steht, dass die DDR-Wirtschaft nicht durch die Wende kollabiert ist, sondern bereits vorher ausgehöhlt war. Daran gemessen ist in den zehn Jahren außerordentlich viel geschafft worden. Dynamische Wirtschaft mit Beschäftigungslücke Ostdeutschland wird einen stabilen und international wettbewerbsfähigen Wirtschaftssektor haben, doch der wird auf absehbare Zeit zu klein bleiben, um die heute vorhandenen Beschäftigungs- und Einkommenswünsche zu erfüllen (These 2). In Ostdeutschland entwickelt sich ein Wirtschaftssektor, der sich im internationalen Wettbewerb behaupten kann. Die ostdeutsche Industrie steht an den Weltmärkten keineswegs mehr auf verlorenem Posten. Die Industrie kann ihre Produktion seit 1994 beachtlich steigern, um mehr als 8% jährlich. Außerordentlich kräftig sind die Auslandsimpulse. Die Aufträge aus dem Ausland expandieren jährlich um mehr als 20%. Besonders dynamisch entwickeln sich Industriebereiche, die gemeinhin mit Innovationen in Verbindung gebracht werden: Büromaschinen, Datenverarbeitung, Medizintechnik, Optik. Die Produktionsausweitung der letzten Jahre ist von großen Produktivitätsfortschritten begleitet gewesen. Die Industrie ist in weiten Teilen bereits schon heute und wird immer mehr zum international wettbewerbsfähigen Wirtschaftssektor in Ostdeutschland. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: dieser wettbewerbsfähige Wirtschaftssektor wird auf absehbare Zeit zu schmal bleiben, um die Beschäftigungs- und Einkommenswünsche der Bevölkerung voll befriedigen zu können. Die Industrie als Kern des wettbewerbsfähigen Sektors beschäftigt heute 1 Million von 5,1 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Selbst wenn die Industrie ihre Beschäftigung um zehn oder zwanzig Prozent ausweiten könnte, wäre das angesichts der heute vorhandenen Beschäftigungslücke von schätzungsweise 1,5 Millionen Arbeitsplätzen keine Lösung für die Arbeitslosigkeit. Das Gesamtbild der ostdeutschen Wirtschaft wird eben nicht 395 ZEITGESPRÄCH nur von der dynamischen Industrie bestimmt, sondern selbst zehn Jahre nach der Einführung der DMark immer noch auch von aufgestautem Strukturwandel. Die Bauwirtschaft hat, nachdem der Nachholbedarf bei Wohnungen und gewerblichen Bauten gedeckt ist, Überkapazitäten, deren Abbau sich weiterhin in schrumpfender Produktion und abnehmender Beschäftigung niederschlägt. Auch innerhalb der Industrie sind nicht alle Branchen auf Wachstumskurs. Manche wie die Schmuckindustrie schrumpfen immer weiter. Der Dienstleistungssektor hat nach Jahren überaus starken Wachstums jetzt zu „normalem" Wachstum gefunden, eine besondere Beschäftigungsdynamik ist dort nicht mehr angelegt. Ebenso wird der Staat weiterhin Arbeitsplätze abbauen müssen, weil der vergleichsweise hohe Personalbestand angesichts knapper Kassen nicht zu halten ist. Nüchtern ist festzustellen: die Etablierung eines wettbewerbsfähigen Wirtschaftssektors bedeutet auf absehbare Zeit nicht, dass es zu einer deutlichen Ausweitung der Gesamtbeschäftigung kommen wird. Rentable Arbeitsplätze Allerdings sollte nicht nur nach dem Gesamtvolumen an Beschäftigung gefragt werden. Nicht minder wichtig ist, wie viel der vorhandenen Beschäftigung bereits rentabel ist und wie viel immer noch von Subventionen abhängt. Auf die Dauer zählt nur rentable Beschäftigung, subventionierte Beschäftigung bleibt latent gefährdet. Als „rentabel" können Arbeitsplätze in Unternehmen gewertet werden, die mit den realisierten Ab-satzpreisen die Durchschnittskosten der Produktion decken und eine angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals erzielen. Das Problem ist die quantitative Abschätzung. Die Statistik liefert kei- 396 ne Daten darüber, wie viel Arbeitsplätze im definierten Sinne rentabel sind. Es gibt aber gute Gründe für die Einschätzung, dass die Anzahl rentabler Arbeitsplätze in den letzten Jahren zugenommen hat. In den dynamischen Branchen der ostdeutschen Wirtschaft wachsen immer mehr Unternehmen in die Gewinnzone und behaupten sich aus eigener Kraft am Markt. Sie werden rentabel und mit ihnen ihre Arbeitsplätze. Vor diesem Hintergrund ist am ostdeutschen Arbeitsmarkt eine paradox anmutende Entwicklung im Gange: die Lage wird zugleich schlechter und besser. Schlechter wird sie mit Blick auf die Gesamtbeschäftigung, die noch weiter sinken könnte (jedenfalls nicht stark steigen wird), weil unrentable Arbeitsplätze dauerhaft nicht zu halten sind und aufgegeben werden müssen. Besser wird sie mit Blick auf die rentable Beschäftigung, die weiter ansteigen wird. Eine Reihe von Unternehmen ist wettbewerbsfähig, andere werden es. Sie sorgen für die Ausweitung rentabler Arbeitsplätze. Volle Lohnangleichung? Mit einem zwar wettbewerbsfähigen, aber schmalen Wirtschaftssektor werden sich Einkommenswünsche, die sich am westdeutschen Niveau orientieren, in der Summe nicht realisieren lassen. Im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt liegt die Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigenstunde (Produktivität) in Ostdeutschland immerhin schon bei 60% des westdeutschen Wertes, aber eben weit ab von 100%. Der Rückstand reflektiert das unterschiedliche „Mischungsverhältnis" neuer und etablierter Unternehmen in Ost und West. Neu gegründete („junge") Unternehmen realisieren normalerweise in den ersten Jahren nicht den gleichen Markterfolg, den etablierte Unternehmen über viele Jahrzehnte auf- und ausgebaut haben, zumal in den traditionellen Branchen nicht. Dies ist im Osten nicht anders als im Westen. Der Unterschied liegt darin, dass in Ostdeutschland neu gegründete Unternehmen dominieren und, im Vergleich zu Westdeutschland, etablierte Unternehmen weitgehend fehlen. Neu gegründete Unternehmen werden, bei gutem Management, allmählich etablierte Unternehmen, dies wird in Ostdeutschland nicht anders sein. Doch dieser Prozess braucht noch viel Zeit. Solange der Prozess nicht abgeschlossen ist, fehlt für eine volle Lohnangleichung an westdeutsches Niveau die wirtschaftliche Basis. Eine dennoch vorgenommene rasche Lohnangleichung würde unvermeidlich zu weiter anschwellender Arbeitslosigkeit führen. Auch wenn in manchen Tarifkonflikten lautstark die „volle Lohnangleichung" gefordert wird, bleibt doch auf das Faktum zu verweisen, dass die nachhängende Leistungskraft der ostdeutschen Wirtschaft in den meisten Wirtschaftsbereichen sehr wohl in deutlich niedrigeren Löhnen als im Westen ihren Niederschlag findet. Die Lohnfrage ist aber nicht nur ein West-Ost-Problem. In Ostdeutschland selbst geht es um Lohndifferenzierung. Boomende Branchen, gefestigte Unternehmen können hohe Löhne zahlen; in hinterherhinkenden, gar schrumpfenden Branchen ist das nicht möglich. Für mobile Arbeitnehmer, die ihren Job auch in Westdeutschland fänden, müssen westdeutsche Löhne gezahlt werden, für andere geht das nicht. Die ostdeutsche Bevölkerung hat geprägt durch die gleichmacherische Lohnpolitik der DDR nach wie vor eher wenig Verständnis für die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung der Löhne. Die Lohnfrage, genauer: WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII ZEITGESPRACH die notwendige Ausdifferenzierung, bleibt Quelle für Spannungen. Staatliche Förderpolitik Die Vollendung der Transformation wird immer weniger von staatlicher Förderpolitik und immer mehr von Marktprozessen getragen. Transferzahlungen zugunsten von Ostdeutschland bleiben gleichwohl erforderlich (These 3). Zehn Jahre nach Einführung der D-Mark stellt die Verbreiterung der wettbewerbsfähigen wirtschaftlichen Basis die wichtigste wirtschaftliche Herausforderung Ostdeutschlands dar. Die Basiserweiterung wird vor allem durch die schon bestehenden Unternehmen geleistet werden und sich im Erfolgsfalle in fortgesetzter Expansion der Unternehmen niederschlagen. Neugründungen und Ansiedlungen auswärtiger Investoren sind eine weitere Quelle für wirtschaftliches Wachstum. Der Staat wird wie bisher eine maßgebliche Rolle spielen. Das heißt aber gerade nicht, die staatliche Förderpolitik der neunziger Jahre unbesehen fortzuschreiben. Die Rolle des Staates ändert sich, weil sich die Problemlage geändert hat. Nach der Wende musste der Staat dazu beitragen, dass sich am Standort Ostdeutschland überhaupt eine eigenständige Wirtschaft etablieren konnte. Denn wirklich benötigt wurde die ostdeutsche Güterproduktion angesichts der überall in der Welt mobilisierbaren Produktionskapazitäten nicht. Die staatliche Förderpolitik mit ihrem Kern, der Subventionierung von Investitionen, hat im Sinne einer Initialzündung Produktion in Ostdeutschland gegen die Marktkräfte mit Erfolg „durchgesetzt". Das ist heute nicht mehr erforderlich. Immer weniger wird die WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII Fortführung der Transformation von staatlicher Wirtschaftsförderung, immer mehr von Marktprozessen bestimmt. Dies zeigt sich eindrucksvoll in der strukturellen Erneuerung Ostdeutschlands. Dass die strukturelle Erneuerung noch in vollem Gange ist, wird durch die auch zehn Jahre nach Beginn der Transformation weiterhin hochgradig divergente Branchenentwicklung der ostdeutschen Industrie belegt. Die Spannweite der Wachstums7Schrumpfungsraten der Produktion reicht (1999) von +41 % (Büromaschinen) bis -36% (Schmuckherstellung). Diese Divergenzen spiegeln die nunmehr hinzugewonnene Marktorientierung des Entwicklungsprozesses wider. Es wirken Marktkräfte, wenn sich einige Branchen im internationalen Wettbewerb durchsetzen und Marktanteile zugewinnen, während gleichzeitig andere Branchen durch den Wettbewerbsdruck zurückgedrängt werden. Zugleich wird mit den Divergenzen deutlich, dass staatliche Wirtschaftsförderung keine hinreichende Bedingung für Markterfolg ist. Fördermaßnahmen wie Investitionszulagen standen allen Wirtschaftszweigen zur Verfügung. Dennoch ist es in einigen Branchen nicht gelungen, die Schrumpfung der Produktion aufzuhalten. Die Konsequenz daraus ist, dass sich der Staat, nachdem er die Initialzündung eingeleitet hat, aus der direkten Subventionierung unternehmerischer Aktivität zurückziehen kann. Dies trifft vor allem für die Investitionszulagen zu, auf die Investoren einen Rechtsanspruch haben, ohne dass geprüft würde, ob der Investor diese Subvention überhaupt benötigt und ob das Investitionsprojekt tragfähig ist. Die Investitionszulagen sollten 2004 wie vorgesehen auslaufen. Rückzug des Staates? Trotzdem geht es nicht um den vollständigen Rückzug des Staates aus der Förderung der Transformation. Der Staat behält unverändert die Verantwortung für seine wirtschaftspolitischen Kompetenzbereiche, insbesondere Infrastruktur, Regionalpolitik, Existenzgründungsförderung. Mit hoher Priorität ist vor allem der Ausbau der Infrastruktur fortzusetzen. Ostdeutschland weist trotz beachtlicher Aufbauanstrengungen einen erheblichen Rückstand an zeitgemäßer Infrastruktur auf (nicht mehr im Kommunikationssektor, doch in Bereichen wie dem kommunalen Straßenbau, der Wasserwirtschaft, hier vor allem dem Trinkwassernetz, den Aufbereitungsanlagen, dem Abwassernetz). Infrastrukturausbau, der als Vorleistung für wirtschaftliche Aktivitäten oder zur Sicherung ökologischer Standards notwendig ist, kann nur aufgeschoben, nicht aufgehoben werden. Zuwarten lässt die Kosten anschwellen. Eine anspruchsvolle Infrastrukturinitiative ist dringlich. Die regionalpolitisch gebotene Förderung von Investitionen durch Investitionszuschüsse (auf die anders als bei Investitionszulagen kein Rechtsanspruch besteht) in Regionen mit unterdurchschnittlicher Wirtschaftskraft ist weiterhin notwendig, bedarf aber keiner Ost-West-Differenzierung. Ebenfalls in Ost wie in West ist die Förderung von Existenzgründungen eine Daueraufgabe staatlicher Wirtschaftspolitik. Ostdeutschland bleibt auf finanzielle Zuflüsse („Transfers") aus Westdeutschland angewiesen. Dies für die Zeit nach 2004 zu regeln, ist Gegenstand des zu verhandelnden „Solidarpakts II". Die gesamten Transferleistungen gehen über die Zahlungen im Solidarpakt hinaus. 397 ZEITGESPRÄCH Rückgang der Transferzahlungen? Zum einen zielen die Transfers auf einen Ausgleich der niedrigen Steuerkraft. Die originäre Steuerkraft Ostdeutschlands liegt bei 34% des westlichen Wertes. Der Rückstand reflektiert die geringere Wirtschaftskraft, die niedrigeren Einkommen (und damit einen geringeren Progressionseffekt im Steueraufkommen), aber auch Steuervergünstigungen im Rahmen der Wirtschaftsförderung. Ohne die Auffüllung durch Transfers könnten die öffentlichen Aufgaben in Ostdeutschland nur eingeschränkt wahrgenommen werden. Mit steigender originärer Steuerkraft werden die Auffüllbeträge allmählich abschmelzen. Doch sind nur graduelle, keine sprunghaften Verbesserungen zu erwarten. Zum anderen geht es um die Mitfinanzierung von Sozialleistungen. Die in Ostdeutschland bestehenden Ansprüche auf Sozialleistungen, insbesondere Arbeitslo- sengeld und Renten, übersteigen das eigene Beitragsaufkommen; die fehlenden Beträge werden durch Mittel aus westdeutschem Beitragsaufkommen ausgeglichen. Ein Abschmelzen der Transfers setzt voraus, dass die Gesamteinkommen und damit die Beitragseinnahmen beschleunigt steigen und dass vor allem die Anzahl der Arbeitslosen zurückgeht. Die mittelfristigen Perspektiven lassen beides nur in begrenztem Umfang erwarten. Schließlich geht es um die Mitfinanzierung von Wirtschaftsförderung. Die direkte Subventionierung der Wirtschaft absorbiert bisher den kleinsten Teil der Transferzahlungen. Während einige Formen der Wirtschaftsförderung weiter notwendig bleiben (Investitionszuschüsse im Rahmen der Regionalpolitik), können andere auslaufen (Investitionszulagen). Aus letzterem ergibt sich ein Potenzial für das Abschmelzen von Transfers. Es wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn mit dem Solidarpakt II zugleich eine kritische Evaluation vorhandener Förderprogramme vereinbart würde, als Grundlage für Anstrengungen, die Effizienz der Wirtschaftsförderung zu verbessern. Die Wahrnehmung der Transferzahlungen als bloße West-OstUmverteilung (gar in ein ostdeutsches „Fass ohne Boden") würde deren Funktion nicht gerecht. Aus deutscher (und nicht aus nur westdeutscher oder nur ostdeutscher) Sicht geht es um zwei Punkte. Erstens werden die sozialen Folgekosten, die sich mit der Überwindung der deutschen Teilung verbinden, nicht nur Ostdeutschen aufgebürdet, sondern gerechterweise über die Transfers von Westdeutschen mitgetragen, und dies so lange wie ,die Folgekosten anfallen. Zweitens tragen die Transfers dazu bei, das Wirtschaftspotenzial Ostdeutschlands voll zu entfalten. Das liegt im Interesse der neuen Länder, aber der alten Länder ebenfalls; denn Deutschland als Ganzes steht um so besser da, je stärker die Wirtschaft im Osten wird. Karl-Heinz Paque Die ostdeutsche Wirtschaft nach zehn Jahren deutscher Einheit: Bilanz und Perspektiven D ie ostdeutsche Wirtschaft ist heute - zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung - eine funktionsfähige Marktwirtschaft: Die Allokation der volkswirtschaftlichen Ressourcen erfolgt im Wesentlichen nach Kriterien der Knappheit, wie sie sich über Marktpreise äußert. Insofern gibt es keinen systemischen Unterschied mehr zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands oder auch zwischen Ostdeutschland und anderen Regionen bzw. 398 Ländern der Europäischen Union. Gleichwohl ist die ostdeutsche Wirtschaft in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich geblieben bzw. geworden, und dies lässt sich zumindest an fünf stabilen strukturellen Besonderheiten festmachen. Ostdeutschland transferabhängig 1. Die ostdeutsche Wirtschaft absorbiert mehr als sie produziert. Wäre Ostdeutschland ein selbstständiges Land mit eigener volks- wirtschaftlicher Gesamtrechnung, ließe sich dies präzise an der Höhe seines Defizits in der Leistungsbilanz ablesen. Geschätzt wird, dass das Defizit bei 200 Mrd. DM pro Jahr liegt. Lediglich der Mittelzufluss aus öffentlichen Kassen ist genau zu beziffern. Er beträgt seit 1995 jährlich ziemlich konstant 190 Mrd. DM brutto und 140 Mrd. DM netto (d.h. abzüglich der rückfließenden Einnahmen). Dies sind etwa 4,5% des westdeutschen Bruttosozialprodukts. Auch die WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII ZEITGESPRÄCH Struktur dieser Transfers ist bemerkenswert konstant: Zuletzt (1997 und 1998) waren 44% davon Sozialleistungen, 3 1 % allgemeine Finanzzuweisungen, 8% Subventionen und 17% öffentliche Investitionen. Wie sich die Transfers auf konsumtive und investive Zwecke verteilen, lässt sich nicht präzise ermitteln: Sozialleistungen - immerhin 44% - fallen wohl eindeutig in den Konsumbereich, öffentliche Investitionen und Subventionen für Private - zusammen 25% - in den Investitionsbereich. Bei den allgemeinen Finanzzuweisungen - 31 % - hängt es von den betreffenden Gebietskörperschaften ab, wie die Mittel verwendet werden. Konkrete Aussagen sind hier schwierig. Insgesamt dürfte es realistisch sein anzunehmen, dass mehr als die Hälfte der Transfers dem Konsum und entsprechend weniger als die Hälfte Investitionszwecken dienen. Drei Viertel der Transfers, vor allem die Sozialleistungen und allgemeinen Finanzzuweisungen, sind keine Sonderleistungen für den Osten, sondern beruhen auf allgemeineren Rechtsvorschriften, die sich aus den Konstruktionsprinzipien des bundesdeutschen Sozialwesens und des Fiskalföderalismus ergeben. Eine Kürzung dieser Transfers ist deshalb nur möglich im Rahmen einer breit angelegten Reform des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaates. Es ist deshalb auch nicht zu erwarten, dass sich der Transferbedarf ohne Reformen wesentlich verändert, wenn es nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der ostdeutschen Wirtschaftsleistung kommt. Ost/West-Produktionslücke 2. Die Arbeitsproduktivität in der ostdeutschen Wirtschaft liegt deutlich unter der im Westen. Das WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigen betrug im Osten zuletzt etwa 60% des westdeutschen Niveaus. Die gesamtwirtschaftliche Ost/West-Produktivitätslücke von 40% hat sich seit Mitte der neunziger Jahre nicht mehr weiter geschlossen. Im Gegenteil, sie ist im letzten Jahr sogar wieder leicht gewachsen, erstmals seit der deutschen Vereinigung. Die Persistenz und jüngst sogar die Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Ost/West-Produktivitätslücke lässt sich im wesentlichen durch die besondere sektorale Struktur der ostdeutschen Wirtschaft erklären. Kernargument ist dabei, dass die ostdeutsche Wirtschaft noch immer zu einem großen Teil lokale Märkte beliefert und nur wenig „exportiert", sei es ins Ausland oder in den Westen des Landes. Dies zeigt sich an einer Reihe von Indikatoren: D die weiterhin große quantitative Bedeutung der binnenmarktorientierten Bauwirtschaft, die noch immer fast 40% der industriellen Wertschöpfung und fast die Hälfte der industriellen Beschäftigung ausmacht; D ein Verarbeitendes Gewerbe - in Westdeutschland traditionell der Motor der Exporterfolge -, das in Ostdeutschland noch insgesamt sehr klein und zu wenig exportund forschungsorientiert ausfällt; D eine relativ starke Binnenmarktorientierung auch der Dienstleistungen, die wegen des schwachen Besatzes mit Verarbeitendem Gewerbe vor allem die Nachfrage der Bauwirtschaft und privater Haushalte bedienen. Handlungsbedarf bei der Verkehrsinfrastruktur 3. In allen Bereichen der physischen und sozialen Infrastruktur hat es seit der deutschen Vereinigung enorme Fortschritte gegeben, und zwar größtenteils durch öffentliche oder staatlich geförderte private Investitionen: Verkehrsnetz, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gewerbe- und Wohngebiete, Energie- und Wasserversorgung, Schulen und Universitäten, Sozial- und Freizeiteinrichtungen, öffentliche Verwaltung - in jeder Hinsicht wurde massiv ausgebaut, modernisiert bzw. umstrukturiert. Überall hat dies zur Milderung der Engpässe geführt, in einigen Bereichen zur völligen Beseitigung und in manchen sogar zu beträchtlichem Überangebot (z.B. bei der Erschließung von Gewerbegebieten, beim Bau von Kläranlagen). Es verbleibt aber ein wichtiger Bereich, in dem Wirtschaft und Verwaltung, wie Umfragen zeigen, weiterhin massiven Handlungsbedarf sehen: dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, besonders dem Ausbau überregionaler Straßen sowie dem Neubau und der Instandsetzung von Regional- und Gemeindestraßen, insbesondere Ortsumgehungen. Tatsächlich zeigen auch objektivierbare Indikatoren, dass es in dieser Hinsicht noch einen klaren Ost/West-Rückstand gibt, auch wenn man die im Durchschnitt niedrigere Besiedlungsdichte Ostdeutschlands mit in Rechnung stellt. Hohe Arbeitslosigkeit 4. Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ist unverändert hoch. In den letzten drei Jahren lag die Arbeitslosenquote im Bereich von 20%, etwa doppelt so hoch wie im Westen. Rechnet man verschiedene Formen der verdeckten Arbeitslosigkeit hinzu (Personen in Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung und Requalifizierung sowie 399 ZEITGESPRÄCH Kurzarbeit), so erhält man Quoten im Bereich von 25%. Berücksichtigt man ferner, dass durch die allfällige Schrumpfung der Bauwirtschaft eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arbeitsplätzen akut gefährdet ist, ohne dass sich bereits eine entsprechende Beschäftigungszunahme an anderer Stelle abzeichnet, so lässt sich der Grad der Unterbeschäftigung der Erwerbspersonen mit einigem Recht noch höher veranschlagen. Der hohen Arbeitslosigkeit steht allerdings eine Erwerbsbeteiligung gegenüber, die - am Standard des Westens gemessen - sehr hoch ist. Dies liegt daran, dass die Erwerbsquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung (Personen im Alter von 15 bis 65 Jahren) in Ostdeutschland mit fast 77% deutlich höher liegt als im Westen mit 7 1 % Ermittelt man mit dieser Information eine „Quote der fehlenden Erwerbsbeteiligung" - definiert als jener Anteil der erwerbsfähigen Personen, die nicht arbeitet -, so lag diese Quote für beide Teile Deutschlands zuletzt bei etwa 37%. Aus ökonomischer Sicht ist allerdings diese Rechnung wenig relevant, da die Messung des Auslastungsgrads des Produktionsfaktors Arbeit sich natürlich an dem Angebot orientieren sollte, das sich tatsächlich am Markt zeigt, und zwar gemäß der individuellen Präferenzen der Arbeitsanbieter - konkret: der vielen Frauen, die zur DDR-Zeit erwerbstätig waren und dies auch weiterhin sein wollen. Aus sozialpolitischer Sicht sind die Dinge allerdings anders zu beurteilen: Soweit die Erwerbsbeteiligung noch in normalem Rahmen liegt, ist damit zu rechnen, dass die Unterbeschäftigung weniger fatale soziale Konsequenzen hat, 400 als die sehr hohe Arbeitslosenquote suggerieren mag; denn in vielen privaten Haushalten sollte es dann noch mindestens eine arbeitende Person geben, die Markteinkommen erzielt und im Wesentlichen den Lebensunterhalt des Haushalts bestreitet. Stockung der Lohnangleichung 5. Seit Mitte der neunziger Jahre liegen die Effektivlöhne für Arbeiter und Angestellte in Ostdeutschland bei 70-75% des Westniveaus. Spätestens seit 1996 ist kein Trend zur weiteren Ost/West-Angleichung der Löhne mehr erkennbar. Auch das umfassendste Maß für Arbeitnehmerverdienste, das Einkommen aus unselbständiger Arbeit pro abhängig Beschäftigten aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, bewegt sich seither kaum noch: zuletzt 73,8% des Westniveaus (1998) nach 74,4% (1997) und 73,6% (1996). Die Lohnangleichung ist also anscheinend zu einem Stillstand gekommen, trotz der schrittweisen Steigerungen der tariflichen Mindestlöhne, die in den meisten Tarifvereinbarungen festgeschrieben sind. Tatsächlich hat es in Ostdeutschland seit 1994 in vier von fünf Jahren in der Industrie eine negative Lohndrift gegeben, also eine geringere Steigerung der Effektivais der Tariflöhne. Der Hauptgrund für die Stockung der Lohnangleichung liegt in der Verbandsflucht der Arbeitgeber, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat - bis hin zu einem Niveau, das einer faktischen Deregulierung der Lohnsetzung in weiten Teilen der Wirtschaft gleichkommt. Umfragen zeigen, dass derzeit fast 80% der ostdeutschen Industrieunternehmen keinem tariffähigen Arbeitgeberverband angehören, davon überdurchschnittlich viele kleinere und mittlere Unternehmen; 55% aller Industriearbeiter und -angestellten sind in nichttarifgebundenen Unternehmen tätig. Konsequente Standortpolitik erforderlich Soweit die fünf strukturellen Besonderheiten. Sieht man von der Flexibilität am Arbeitsmarkt ab, so sind sie durchweg als ein Rückstand zu interpretieren, und zwar als ein Rückstand auf dem Weg zu einer „normalen" Volkswirtschaft, die in der Lage ist, zumindest auf längere Sicht ihre konsumtive Absorption durch eigene Produktion zu finanzieren und die eigenen Ressourcen voll auszulasten. Oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik muss es deshalb sein, diesen Rückstand zu beseitigen. Um dies zu erreichen, bedarf es einer nachhaltigen Zunahme privater Investitionen zum Auf- und Ausbau eines Kapitalstocks, mit dem überregional handelbare Güter und Dienstleistungen produziert werden können. Alle Anstrengungen der Wirtschaftspolitik sollten auf dieses Zwischenziel konzentriert werden. Es gilt, eine konsequente Standörtpolitik zu betreiben. Dies legt nahe, die Prioritäten zur Vollendung des „Aufbau Ost" zu verschieben: weg vom massiven Einsatz von Instrumenten der Investitionsförderung und hin zur konsequenten Beseitigung der verbleibenden Rückstände in den Standortbedingungen, vor allem bei der Verkehrsinfrastruktur. Eine solche Strategie ist nicht zu verwechseln mit der gerade im Westen oft gehörten pauschalen Forderung nach Kürzung der Transferleistungen. Denn der Grad der öffentlichen Subventionierung privater Investitionen ist in Ostdeutschland zwar sehr hoch; die Gesamtsumme der Fördergelder WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII ZEITGESPRACH macht aber nur einen geringen Anteil des West/Ost-Transfervolumens aus. Insofern würde selbst ein Streichen der Fördermittel nur mäßig zu einer Abnahme der West/Ost-Transfers beitragen. Umgekehrt gilt: Hinter den Sozialleistungen, die weitgehend keine Sonderleistung für den Osten darstellen, machen die Finanzzuweisungen an Länder und Kommunen den größten Anteil der West/OstTransfers aus. Gerade diese Zuweisungen erlauben es den ostdeutschen Ländern und Kommunen erst, die laufenden Kosten des bereits aufgebauten Infrastrukturkapitals zu tragen und jene Infrastrukturinvestitionen weiterzufinanzieren, die aus standortpolitischer Sicht dringend geboten sind. Zum bereits vorhandenen Kapital zählen im weitesten Sinn auch Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen, deren Bedeutung für die Standortbedingungen außer Frage steht. Gleichwohl hat diese Strategie durchaus auch Implikationen für das Finanzgebaren ostdeutscher Länder und Kommunen: Nur dann, wenn deren Ausgabenstruktur eine klare Priorität auf die Verbesserung der Standortbedingungen durch Investitionen setzt, fügt sie sich in eine sinnvolle Gesamtstrategie des Aufbau Ost. Dass dies nicht durchweg der Fall ist, zeigt allein schon der Personalbestand im öffentlichen Dienst, der in allen Ländern des Ostens pro Kopf über dehn der westdeutschen Flächenländer liegt. In eindeutig nichtinvestitiven Bereichen wie Soziale Sicherung, Gesundheit, Sport und Erholung und politische Führung ist der Ost/West-Personalüberhang über 20%; im Hochschulwesen gibt es dagegen im Vergleich zum Westen einen Unterbesatz von rund 15% Bei derartiger Prioritätensetzung müssen WIRTSCHAFTSDIENST 2000/VII sich die ostdeutschen Länder und Kommunen tatsächlich fragen lassen, ob nicht doch ein Teil der Transfers in konsumtive statt investive Verwendung überführt wird. Langfristig gute Aussichten Trotzdem sind die beliebten Vergleiche mit Problemregionen, die dauerhaft zu Subventionsempfängern wurden und auf eigene Anstrengungen verzichteten, derzeit völlig fehl am Platz. Ostdeutschland ist kein Mezzogiorno, im Gegenteil: Die ostdeutsche Wirtschaft ist eine funktionierende Marktwirtschaft. In wichtigen Bereichen ist der Osten im Vergleich zum Westen eindeutig die anpassungsbereitere und flexiblere Region. Dies gilt vor allem für den Arbeitsmarkt: Die durchschnittliche Arbeitszeit liegt höher als im Westen, und es gibt faktisch keine flächendeckenden Tarifverträge mehr, und zwar nicht nur im Dienstleistungssektor, sondern auch in der Industrie. Trotz dieser Flexibilität hat sich der Aufbau einer gesunden und ausreichend großen industriellen Basis als weit schwieriger erwiesen, als viele ursprünglich annahmen. Dass das Startniveau für den Wiederaufbau des industriellen Kapitalstocks seit Mitte der neunziger Jahre so niedrig ist, kann man auch den starken Lohnsteigerungen in der Frühphase der Vereinigung anlasten, die einen Teil des industriellen Kapitalstocks obsolet machten. Dies ist aber heute Geschichte: Inzwischen hat der ostdeutsche Arbeitsmarkt jene Flexibilität, die von Ökonomen aus standortpolitischer Sicht angemahnt wird. Die heute zählenden Engpässe liegen an anderen Stellen: einerseits noch immer bei der Infrastruktur, andererseits an der Verfestigung regionaler Arbeitsteilungen aufgrund von Agglome- rationseffekten, die in gesunden industriellen Ballungszentren des Westens produktivitätsfördernd wirken, im Osten aber noch fehlen. Der Staat kann helfen, die Engpässe bei der Infrastruktur im weitesten Sinn zu beseitigen, aber er kann nur wenig tun, um industrielle Ballungsprozesse darüber hinaus zu fördern. In dieser Hinsicht gibt es keinerlei Patentrezepte, nur noch wohlfeile Empfehlungen für ein kluges Standortmanagement. Wissenschaftlich begründet ist auch ein Appell an die Geduld: Das wirtschaftliche Wachstum und Aufholen in sogenannten strukturschwachen Regionen verläuft typischerweise diskontinuierlich, d.h. in Schüben. Auch richtige standortpolitische Weichenstellungen brauchen Zeit, um ihre Wirkung zu tun - nicht zuletzt über das Preissystem. Wird aber eine Region über einen längeren Zeitraum als zentral gelegener, gut erschlossener und preisgünstiger Standort bekannt (und auch entsprechend von der Politik „vermarktet"), so kann es in relativ kurzer Zeit zu jenen Ballungen von Industrie und Dienstleistungen kommen, die dem Wachstums- und Aufholprozess die erwünschte Dynamik verleihen. Die europäische und die amerikanische Wirtschaftsgeschichte sind voll von Beispielfällen, wo dies geschah, zuletzt in Irland und in einigen Problemregionen Englands und Schottlands. Viel seltener - und oft durch Sonderfaktoren erklärbar - sind die Fälle auf Dauer zementierter Unterentwicklung. Es gibt nach zehn Jahren Aufbau Ost keinen erkennbaren Grund, warum gerade Ostdeutschland ein solch schweres Schicksal beschieden sein sollte. Zu Resignation besteht also kein Anlass. 401