Spielzeitmagazin DREI VON DREI

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Spielzeit
2016 /17
drei
von
drei
Das Magazin des Schauspiel Köln
Die Stadt
von morgen
Das Festival vom 28.06. bis 02.07.2017
Weitere Informationen auf Seite 42.
Foto Mirko Plengemeyer
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Liebes Publikum,
hauchdünn ist der Boden, auf dem unsere Gesellschaft steht.
Ein leises Knacken erst, ein lautes Krachen dann, und das,
woran wir glaubten, droht zu verschwinden.
Einsturz. Umsturz.
Die Welt verändert sich in einer Rasanz, die uns alle erstarren lässt.
Eine andere, eine lautere, eine primitivere Sprache greift
um sich. Eine Sprache der Hetze, der Drohung, der Lüge.
Gesprochen von Führerpersönlichkeiten, die endgültige
Lösungen versprechen. Rauflustig bis zur Kriegsbereitschaft.
Egomanen, Despoten, Wahnsinnige – bejubelt von Menschen, die sich endlich wieder gemeint fühlen. Ihre nationale
Identität geschützt sehen. Denn jetzt gehen die Grenzen
wieder zu, und wunderschöne Mauern verhindern die freie
Sicht. Vorwärts marsch in Richtung Blindheit. Hauptsache ist
doch, die Sache lässt sich auf eine Zeile zwitschern. Knackige
Ansagen ersetzen den Dialog. Und endlich ist alles (wieder)
so einfach …
Nicht bei uns im Theater. Da ist der Dialog gewissermaßen
die Grundsubstanz. Das Ringen mit Worten und ihrer Bedeutung ist unser Geschäft, und je differenzierter, je komplexer
es wird, desto mehr macht es uns Spaß. Einfach ist hier gar
nichts. Und schnelle Antworten gibt es selten. Aber unser
Boden, der die Welt bedeutet, ist zum Glück noch fest gezimmert. Und solange wir spielen, wird es den Dialog geben
– nicht nur den, den die Spieler auf der Bühne sprechen, sondern auch den mit der Stadt, mit der Welt, in der wir leben.
In diesem Heft stellen wir Ihnen die letzten acht Premieren
bis zum Ende der Spielzeit vor, dazu das Finale unseres
großen, zweijährigen Stadtprojektes, in dem die Visionen für
Morgen nun tatsächlich Gestalt annehmen.
Aufführungen werden entstehen, die unterschiedlicher
nicht sein könnten, aber eines gemeinsam haben: den Blick
ins Offene !
Herzlich,
Ihr Stefan Bachmann
Intendant Schauspiel Köln
01
inhalt
04 |Der Spielplan 2016/17
Der gesamte Spielplan der Saison im aktualisierten Überblick.
Der Autor Julian Pörksen
hat ein Stück über die Neurosen des Theaters geschrieben. Die Regisseurin
und Schauspielerin
Melanie Kretschmann
kommt aus einer Familie mit Theatervergangenheit.
Zusammen gehen sie auf Reisen. Ein Stückauszug.
Foto Elisabeth Harloff
30 | Wir wollen Plankton sein
18 | Zabriskie Point
Hoffnungsträger oder schweigende Mehrheit? Nuran
David Calis über die rätselhafte Jugend von Istanbul.
04 | Der Spielplan
Unser Spielzeitmagazin erscheint nun
schon zum dritten
Mal in diesem Jahr.
Es ersetzt das klassische Spielzeitheft,
und führt Sie stattdessen in regelmäßigen Abständen
durch die Spielzeit.
So bleiben Sie immer auf dem aktuellen Stand unserer
Planungen.
02
06 |Die letzten 8 von 23
Inhalte, Teams und Daten – alle
Informationen zu den Premieren
bis zum Ende der laufenden Spielzeit.
10 | CARLsGARTEN
Der Garten im Carlswerk ist nicht nur
das Openair-Foyer des Schauspiels,
sondern auch ein Ort der Begegnung
und der Kulinarik. Ein Rezept von Eschi
Fiege zum Nachkochen.
12 |Einer ganzen Stadt das
Wochenende versauen
Der Regisseur, Musiker und Comedian
Rainald Grebe trifft FC-Keeper Thomas Kessler im Geißbockheim.
18 |Zabriskie Point
Der Autor und Regisseur Nuran David
Calis erzählt Geschichten zusammen
mit den Menschen, die sie gerade erleben. Und er kennt Istanbul – eine Stadt,
die ihm Heimat und Rätsel zugleich ist.
24 |Die nachhumpelnde Kunstform
Der amerikanische Erfolgsautor Ayad
Akhtar denkt über das Theater nach.
30 |Wir wollen Plankton sein
Theater hat Platz auf der kleinsten
Wanderbühne. Ein Auszug aus dem
neuen Stück von Julian Pörksen.
36 |Dann fliegt der Laden auseinander
Veränderung fängt damit an, dass wir
miteinander reden. Navid Kermani
spricht mit Stefan Bachmann und plädiert für einen Dialog auch mit denen,
mit denen man ungern spricht.
42 |Die Stadt von morgen
Ein erster Überblick über das Abschlussfestival unseres Stadtprojektes
im Juni.
48 |Service und Impressum
Illustration Labor Fou
12 | Einer ganzen Stadt das
Wochenende versauen
42 | Die Stadt von morgen
Nach zwei Jahren Laufzeit baut das Stadtprojekt des Schauspiel Köln ein neues
Stadtzentrum. Unter der Mülheimer Brücke.
Alle Infos zum Festival im Juni.
Der Regisseur, Musiker und Comedian
Rainald Grebe beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit den Mythen seiner Heimatstadt Köln. Nach dem Überwinden seines
Angsttraumas Kölner Karneval geht er nun
vermehrt ins Fußballstadion, um dem Erfolgsgeheimnis des 1. FC Köln auf die Spur
zu kommen. Im Geißbockheim traf er den
FC-Torwart Thomas Kessler zum Gespräch.
Was wir brauchen, ist eine Vision für Europa! Der Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani macht im Gespräch
mit Schauspielintendant Stefan Bachmann
Vorschläge zum Umgang mit einer Welt,
die aus den Fugen ist.
Foto Sandra Then
36 | Dann fliegt der Laden auseinander
Foto Fischer Verlag
24 | Die nachhumpelnde Kunstform
Mit GEÄCHTET hat der amerikanische
Dramatiker Ayad Akhtar eines der Stücke
der Saison geschrieben. Nach der Lektüre
seines Textes über das Theater, den er uns
für dieses Heft geschenkt hat, und der hier
erstmals auf Deutsch erscheint, versteht
man, warum das so ist.
03
Der Spielplan
2016 /17
Längst ist das Depot in Mülheim zum neuen
Zentrum des Theaters geworden. Neu dazugekommen ist in dieser Spielzeit die Außenspielstätte am Offenbachplatz, die in wenigen Monaten vom Geheimtipp zum Publikumsliebling
geworden ist. Und auch bei unseren Premieren
sind für die letzte Runde noch zwei dazu gekommen. Insgesamt 23 Premieren werden es in der
laufenden Spielzeit sein. Hier der vollständige
und aktuelle Überblick.
Der Revisor
von Nicolai Gogol
DEPOT 1
Hamlet
von William Shakespeare
Regie Stefan Bachmann
Premiere 23. September 2016
Groß und klein
von Botho Strauß
Regie Lilja Rupprecht
Premiere 14. Oktober 2016
Regie Linus Tunström
Premiere 10. Januar 2017
Eine Produktion des Düsseldorfer Schauspielhauses im
Austausch mit Geschichten aus dem Wiener Wald
vom Schauspiel Köln
Faust I
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie Moritz Sostmann
Premiere 10. Februar 2017
Tod eines
Handlungsreisenden
von Arthur Miller
Adams Äpfel
nach dem gleichnamigen Film von Anders Thomas Jensen
Regie Therese Willstedt
Premiere 18. November 2016
Regie Rafael Sanchez
Premiere 10. März 2017
Effzeh! Effzeh!
ein Fußballoratorium von und mit Rainald Grebe
Iwanow
von Anton Tschechow
Regie Robert Borgmann
Premiere 09. Dezember 2016
04
Regie Rainald Grebe
Uraufführung 23. Juni 2017
Seite 08
DEPOT 2
AuSSenspielstätte
am Offenbachplatz
Die Opferung von
Gorge Mastromas
Karnickel
von Dennis Kelly
von Dirk Laucke
Regie Rafael Sanchez
Premiere 24. September 2016
Regie Pınar Karabulut
Uraufführung 29. September 2016
Robinson Crusoe
Mohamed Achour
erzählt Casablanca
Kinder- und Familienstück nach Daniel Defoe
von und mit subbotnik
Premiere am 30. Oktober 2016
von petschinka und Rafael Sanchez
Regie Rafael Sanchez
Uraufführung 02. Oktober 2016
Jemand wie ich
von Charlotte Roos
Swallow
Regie Bruno Cathomas
Uraufführung 03. Dezember 2016
von Stef Smith
Regie Matthias Köhler
Deutschsprachige Erstaufführung 10. Dezember 2016
Ansichten eines Clowns
von Heinrich Böll
Kleines
Theaterfassung und Regie Thomas Jonigk
Uraufführung 11. Februar 2017
von Hannah Moscovitch
Regie Charlotte Sprenger
Deutschsprachige Erstaufführung 03. Februar 2017
Hit me Baby – Vol. III
Stefko Hanushevsky und Christopher Brand
machen das Beste aus 400 Jahren Musikgeschichte
Premiere 04. März 2017
06
Wir wollen Plankton sein
von Julian Pörksen
Regie Melanie Kretschmann
Künstlerische Mitarbeit Carl Hegemann
Uraufführung 11. März 2017
Faust II
06
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie Moritz Sostmann
Premiere 08. April 2017
07
Sprengkörperballade
von Magdalena Schrefel
Zehn Milliarden – ohne mich
Regie Andrea Imler
Uraufführung 21. April 2017
07
nach dem Bestseller von Stephen Emmott
Import Export Kollektiv | Regie Bassam Ghazi
Uraufführung 20. April 2017
07
Geächtet
von Ayad Akhtar
Regie Stefan Bachmann
Premiere 24. Mai 2017
Istanbul
08
von Nuran David Calis
Regie Nuran David Calis
Uraufführung 13. Mai 2017
08
05
823
Die
letzten
ACHT
von
DREIUNDZWANZIG
Eine paradoxe Komödie,
400 Jahre Musikgeschichte an einem Abend, der
Tragödie zweiter Teil,
eine Sprengkörperballade, eine theatrale Reise,
das Import Export Kollektiv, eine schonungslose
Analyse und ein Fußballoratorium – die letzten
acht Premieren unserer
Spielzeit.
Premiere
11. März 2017 | Offenbachplatz
04. März 2017 | Depot 2
Hit me Baby
– Vol. III
Stefko Hanushevsky und
Christopher Brandt machen das Beste aus
400 Jahren Musikgeschichte
Sie sind wieder da – mit einer dritten
Auflage ihres musikalischen Abends!
Pünktlich zum Frühlingsbeginn
verlassen der Musiker Christopher
Brandt und unser Ensemblemitglied
Stefko Hanushevsky den Probenraum
mit einem neuen Set bekennend
subjektiv ausgewählter und für ihre
Zwei-Mann-Band arrangierter Songs
aus 400 Jahren Musikgeschichte und
diversen Genres.
Eine Hommage an unvergessene
Klassiker und Lieder, die es hätten
werden sollen – und nicht zuletzt an
die absonderlichen Anekdoten, die
persönlichen Plaudereien und das
wertlose Wissen, ohne das die Liebe
zur Musik nicht zu denken ist.
Mit
Christopher Brand
Stefko Hanushevsky
Ausstattung Franziska Harm
Dramaturgie Nina Rühmeier
06
Uraufführung
Wir wollen
Plankton sein
von Julian Pörksen
Immer wieder nehmen sie Anlauf,
suchen nach Konflikten, nach Gefühlen und Gedanken, die sich noch
darstellen lassen in einer von Reflexionen ausgehöhlten Welt: Eine
Grande Dame, ihr junger Liebhaber
und ihr ebenso junger Sohn laden
ein zu einem Theaterabend der
großen Erschöpfung. Sie verstricken
sich in Theorien, verlieren sich in
Gefühlen, suchen nach dem Theater
und nach ihrer eigenen Rolle, kreisen grübelnd um sich selbst, traurig,
schillernd, liebenswert. [→ Wir wollen
Plankton sein | Seite 30]
WIR WOLLEN PLANKTON SEIN ist
eine paradoxe Komödie, ein ziemlich
lautes Plädoyer für Stille, Leere, Ruhe
– die Regression zum Plankton als
verlockende Alternative.
Regie Melanie Kretschmann
Künstlerische Mitarbeit Carl Hegemann
Bühne Thomas Garvie
Kostüme Nadja Zeller
Kostümspecial Herr von Eden
Musik Malakoff Kowalski
Dramaturgie Michaela Kretschmann
3
Premiere
08. April 2017 | Depot 2
Faust II
von Johann Wolfgang von Goethe
Uraufführung
Uraufführung
20. April 2017 | Depot 2
Erst nach Goethes Tod wurde der
zweite Teil des Faust veröffentlicht,
so hatte es der Dichter selbst verfügt. Er wollte sich die Reaktionen
seiner Zeitgenossen auf diese »sehr
ernsten Scherze« ersparen, nahm er
doch an, sie würden ungünstig ausfallen. Und tatsächlich, vielen galt
die Fortführung dieser Tragödie um
den ewig suchenden, rastlosen Helden als misslungen. Zu groß, ausufernd, maßlos erscheint er ihnen.
Heute jedoch gilt gerade dieser
zweite Teil als visionär, wird hier
doch die gesamte Moderne vorweggenommen, ihr Drama, ihre Versprechen. [→ Dann fliegt der Laden auseinander | Seite 36] Faust, die kleine
Welt der Liebe hinter sich lassend,
stürzt sich in die große Welt der Politik, der Macht, der Wirtschaft, der antiken Mythen und Magie. Gesetze von
Zeit und Raum sind aufgehoben, das
Papiergeld wird erfunden, ein künstlicher Mensch erschaffen, Faust wird
Feldherr und Landbesitzer, heiratet
die schönste Frau der Welt, baut Deiche, geht über Leichen – skrupellos in
seiner Selbstbezogenheit und seinem
Drang nach Sinn und Herrschaft.
Moritz Sostmann, Hausregisseur am
Schauspiel Köln, setzt seine Expedition durch Goethes Dramenkosmos
fort, gemeinsam mit einem Ensemble
aus Schauspielern und Puppen.
Regie Moritz Sostmann
Bühne Christian Beck
Kostüm Elke von Sivers
Musik Philipp Pleßmann
Dramaturgie Julian Pörksen
Zehn Milliarden
– ohne mich
nach dem Bestseller
von Stephen Emmott
»We‘re fucked – Wir sind nicht zu retten«, so lautet die unmissverständliche Botschaft von Stephen Emmott
in seinem Buch 10 MILLIARDEN:
Klimawandel, Rohstoffmangel,
Wassermangel … Hunger und Leid
und noch mehr Kriege und noch
mehr Flucht.
Die 22 jungen Menschen des Import Export Kollektivs setzen sich mit
der Behauptung dieser düsteren Zukunft auseinander. Wie wird unsere Welt aussehen? Wie werden ihre
Kinder, wie ihre Enkel leben? Welche
Konsequenzen wird es haben, wenn
aus 7,45 Milliarden irgendwann 10
Milliarden Menschen geworden sind?
Mögliche Szenarien werden anhand
der Buchvorlage gebündelt und mit
dem Leben der Spielenden in Beziehung gesetzt und verflochten.
»Ja, ja macht ruhig so weiter, euch
wird das Lachen noch vergehen.
Ich weiß ihr denkt, dass dieser Spaß
ewig so weitergeht. Aber da habt
ihr euch getäuscht … All dies passiert
vor unseren Augen. Trotzdem tun wir
so, als hätten wir alle Antworten und
alle Zeit der Welt. Ich bin jung und
ich hab nicht alle Antworten. Ich bin
wütend, aber nicht blind. Ich habe
Angst und trotzdem …«
21. April 2017 | Offenbachplatz
Sprengkörperballade
von Magdalena Schrefel
Drei Frauengenerationen, drei Beziehungskonstellationen: Die beiden
uralten Schwestern Cookie und Fuzzi
quälen sich gegenseitig in endlosen
Kinderspielen. Djana, Mutter zweier
halbwüchsiger Töchter, stellt mit
ihrer jüngeren Tochter Gina wieder
und wieder die Trennung vom Vater
nach, während die ältere Tochter
Zabina mit ihrer Freundin Bine durch
die Stadt streunt. Auf ihrer Suche
nach Identität und einem Ort, an
dem man richtig ist, ringen sie alle
um die Deutungshoheit von eigenen
und fremden Erinnerungen.
SPRENGKÖRPERBALLADE erzählt in
dichter, poetisch aufgeladener Sprache vom Grenzverlauf zwischen Spiel
und Verletzung. Die junge Regisseurin Andrea Imler, die am Schauspiel
Köln zuletzt NOTHING HURTS von
Falk Richter inszenierte, bringt Magdalena Schrefels neuestes Stück in
der Außenspielstätte am Offenbachplatz zur Uraufführung.
Regie Andrea Imler
Bühne Thomas Garvie
Kostüme Franziska Harm
Musik Doro Bohr
Dramaturgie Nina Rühmeier
Regie Bassam Ghazi
Dramaturgie Henrike Eis
Es spielt das Import Export Kollektiv
07
dreivondrei | Die letzten acht von 23
Uraufführung
13. Mai 2017 | Depot 2
Uraufführung
23. Juni 2017 | Depot 1
Istanbul
von Nuran David Calis
Es ist noch nicht lange her, da war
Istanbul das Symbol für eine freie
und weltoffene Türkei und zugleich
vielbesungener Sehnsuchtsort für
viele der in Deutschland lebenden
Menschen mit türkischen Wurzeln.
Fast schien die Stadt am Bosporus
mit ihrer zwei Kontinente verbindenden Brücke dabei die europäischste
Stadt überhaupt zu sein. Doch seit
dem Putschversuch vom 15. Juli 2016
und den politischen Reaktionen der
Erdoğan-Regierung ist auch in Istanbul nichts mehr so, wie es war. Oder
hat sich nur unser Blick verändert?
Der Regisseur und Autor Nuran
David Calis hat mit DIE LÜCKE und
GLAUBENSKÄMPFER gezeigt, dass er
ein Händchen dafür hat, Geschichten
aus der Gegenwart gemeinsam mit
denen zu erzählen, die sie gerade
erleben. Auch in ISTANBUL [→ Zabriskie Point | Seite 18] werden wieder
Anwohner und Geschäftsleute aus
der Kölner Keupstraße zusammen mit
Ensemblemitgliedern des Schauspiel
Köln auf der Bühne stehen. Gemeinsam berichten sie davon, welche
Auswirkungen die Ereignisse in der
Türkei auch in Deutschland haben,
was es heißt, um das Lebensgefühl
einer Stadt zu trauern, wie es ist,
plötzlich seinem Nachbarn misstrauen
zu müssen und wie kostbar Freiheit in
bewegten Zeiten geworden ist.
Regie Nuran David Calis
Bühne Anne Ehrlich
Kostüm Amelie von Bülow
Musik Vivan Bhatti
Video Karnik Gregorian
Dramaturgie Thomas Laue
08
Premiere
24. Mai 2017 | Offenbachplatz
Geächtet
von Ayad Akhtar
Amir Kapoor ist angekommen, in
Amerika, in der Wohlstandsblase der
westlichen Welt. Der Sohn pakistanischer Einwanderer ist ein erfolgreicher
Anwalt, trägt edle Hemden, trinkt teure Weine und bewohnt mit seiner Frau
Emily ein Loft in der Upper East Side
von Manhattan. Er ist vollständig assimiliert im Amerika des 21. Jahrhunderts, von seinen Wurzeln, vom Islam,
will er nichts wissen. Emily hingegen,
eine Malerin, hat die islamische
Kultur als Inspirationsquelle für sich
entdeckt. Beim Abendessen mit dem
jüdischen Kurator Isaac und dessen
afroamerikanischer Frau Jory kommt
es zu einer Debatte über Religion und
Tradition, die schleichend eskaliert –
bis Amir die Kontrolle verliert.
GEÄCHTET wurde 2013 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, Ayad Akhtar
avancierte zum Star des amerikanischen Theaters. [→ Die nachhumpelnde Kunstform | Seite 24] Eine
schonungslose Analyse unserer
Gegenwart, eine unterhaltsame wie
tiefschürfende Auseinandersetzung
mit Rassismus und Integration, Religiosität und Terrorismus – und die erste
Inszenierung von Stefan Bachmann
am Offenbachplatz.
Regie Stefan Bachmann
Bühne Olaf Altmann
Kostüm Esther Geremus
Lichtdesign Bernd Purkrabek
Dramaturgie Julian Pörksen
Effzeh! Effzeh!
Ein Fuballoratorium
von und mit Rainald Grebe
Weniges ist so schichtenübergreifend
identitätsstiftend wie der Straßenkarneval oder das Sympathisieren mit
einem Fußballverein. Folgerichtig
widmet sich der Lieder- und Theatermacher Rainald Grebe zwei Jahre
nach seiner musikalischen Auseinandersetzung mit dem Kölner Karneval
nun dem zweiten großen lokalen
– und durchaus theatralen – Mythos:
dem 1. FC Köln. [→ Einer ganzen
Stadt das Wochenende versauen |
Seite 12] Ein Abend über glorreiche
Zeiten und bittere Niederlagen, über
Abstiege, Aufstiege und Umbrüche.
Von Bubi Weyer bis Matthias
Lehmann, von Hennes Weisweiler
bis Peter Stöger und der Bezirksliga
zum UEFA-Pokal. Für alle Hobbytrainer, Freizeitkicker, Linksaußen, Rechtsfüßer, Kölner und jeden, der schon
immer mal die sakrale Dimension
der Stadiongesänge oder das akustische Spektrum letzter Spielminuten
genießen wollte ohne dafür einen
Fuß ins Stadion setzen zu müssen.
Sogar für Mönchengladbacher.
Regie Rainald Grebe
Musikalische Leitung Jens Karsten Stoll
Bühne Jürgen Lier
Kostüme Kristina Böcher
Dramaturgie Nina Rühmeier
Foto Thomas Aurin
Faust I von Johann Wolfgang von Goethe | Regie Moritz Sostmann
Der
carlsgarten
let love rule
Vor fünf Jahren wurde die Idee geboren,
vor dem Schauspiel Köln einen Garten
anzulegen. Um den Vorplatz bunter zu
gestalten, Mülheim einen grünen Ort zu
schenken und die Mitarbeiter der Bühnen Köln, Nachbarn, Abonnenten und
Neugierige auf neue Art und Weise zusammen zu schweißen. All das und mehr
ist seitdem passiert.
Und noch immer gilt: Jeder ist herzlich
willkommen, mitzuhelfen. Wir veranstalten
regelmäßig Gartensprechstunden zum
Gärtnern unter Anleitung. Einmal im Monat gibt es einen großen Gartentag mit
Musik, Essen, Trinken und einem besonderen Angebot, das Sie unter
www.carlsgarten.koeln nachlesen können.
An bereits zwei solcher Gartentage war
die Wiener Köchin Eschi Fiege bei uns zu
Gast. Denn eine Zutat teilen wir mit ihr:
love. Die Liebe ist, was zählt im Garten,
beim Kochen, im Leben. Zum Nachkochen
aus ihrem aktuellen Buch LOVEKITCHEN
und als Dankeschön an all unsere Helfer
hier eines ihrer Rezepte – so bunt wie der
Garten und seine Gäste.
Bon appétit !
A BSU R DE I N T ERV EN T ION.
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GRÜNEM CHILI & FRÜHLINGSZW IEBEL
Für 1 Person
2 grüne Chilis oder
mehr
2 grüne Chilis oder
1 Frühlingszwiebel
mehr
2 Eier, getrennt
1 Frühlingszwiebel
1 EL Mehl
2 Eier, getrennt
30 ml Milch oder
1 EL Mehl
Schlagsahne
30 ml Milch oder
Salz, schwarzer Pfeffer
Schlagsahne
aus der Mühle
Salz, schwarzer Pfeffer
1 EL Butter
aus der Mühle
40 g Ziegenfrischkäse
1 EL Butter
1 kleine Handvoll
40 g Ziegenfrischkäse
gemischte
1 kleine
Handvoll
Kräuter
(z.B. Dill,
gemischte
Schnittlauch,
Kräuter
(z.B.
Dill,
Estragon,
Kerbel)
Schnittlauch,
1 kleine Handvoll
Estragon, Kerbel)
bunte Cherrytomaten
1 kleine Handvoll
1–2 kleine Handvoll
bunte Cherrytomaten
gemischte Blüten,
1–2
kleine
wenn
SieHandvoll
welche
gemischte
Blüten,
haben
wenn Sie welche
haben
Ich war schon sehr früh der Überzeugung, dass Eifersucht und Rache in der Liebe
sinnlos sind. Auch dann, wenn etwas geschehen ist, das mich wirklich kränkt. Ich habe
Ich
warzur
schon
sehr früh gemacht,
der Überzeugung,
dassder
Eifersucht
undhat,
Rache
in der
Liebe zu
es mir
Gewohnheit
demjenigen,
Mist gebaut
etwas
Besonderes
sinnlos
sind.
Auch
dann,
etwas
geschehen ist, das mich wirklich kränkt. Ich habe
schenken.
Der
hat es
dannwenn
nämlich
nötig.
es mir zur Gewohnheit gemacht, demjenigen, der Mist gebaut hat, etwas Besonderes zu
Dieses
Omelett
schenkte
ichnämlich
Bernhard,
als er nach einer sehr langen Nacht erst mit dem
schenken.
Der hat
es dann
nötig.
Zwitschern der Vögel lange nach mir nach Hause kam. Ich sagte „Guten Morgen“ und
Dieses
schenkte
ich Bernhard,
er nach einer
sehr langen
Nacht
erstfrischen
mit dem
machteOmelett
dieses hübsche
Omelett
für ihn –alszugegeben
vielleicht
mit etwas
mehr
Zwitschern
der
Vögel
lange
nach
mir
nach
Hause
kam.
Ich
sagte
„Guten
Morgen“
und
Chilis, als unbedingt nötig gewesen wären. Irgendwann, nach dem dritten oder vierten
machte
dieses
hübsche
Omelett
für
ihn
–
zugegeben
vielleicht
mit
etwas
mehr
frischen
Bissen, hatte er Tränen in den Augen. Ob nun wegen der Chilis, meinetwegen oder einChilis,
als unbedingt
nötigdes
gewesen
wären.
dritten
oder vierten
fach wegen
der Schönheit
Morgens
weißIrgendwann,
ich nicht undnach
es ist dem
mir auch
egal.
Bissen, hatte er Tränen in den Augen. Ob nun wegen der Chilis, meinetwegen oder einIch
mich
seiner
von
losgelösten,
fachhatte
wegen
derursprünglich
Schönheit deswegen
Morgens
weiß
ichjeder
nichtVerantwortung
und es ist mir auch
egal. ungebremsten Energie in ihn verliebt. Jede Art von Gefühl brach mit anarchischer, ansteIch
hatteKraft
mich wie
ursprünglich
seiner
von
jeder
Verantwortung
ungeckender
ein wilderwegen
Bergbach
aus
ihm
heraus.
Wie hätte ichlosgelösten,
ihm nun deswegen
bremsten
Energie
in
ihn
verliebt.
Jede
Art
von
Gefühl
brach
mit
anarchischer,
ansteböse sein können? Wir sollten nie vergessen, warum wir uns in einen Menschen verliebt
ckender
Kraft
wie ein
wilder
ausgut
ihmgefiel,
heraus.
Wienicht
hätteverteufeln.
ich ihm nun deswegen
haben, und
sollten
etwas,
das Bergbach
uns anfangs
später
böse sein können? Wir sollten nie vergessen, warum wir uns in einen Menschen verliebt
haben, und sollten etwas, das uns anfangs gut gefiel, später nicht verteufeln.
Die Chilis halbieren, entkernen und fein hacken. Die Frühlingszwiebel putzen
und fein hacken. Beides beiseite stellen. Eigelb mit Mehl und Milch zu einem
Die
Chilis
halbieren,
entkernen
und fein
hacken.
DieSalz
Frühlingszwiebel
putzen
glatten
Teig
rühren. Würzen.
Eiweiß
mit einer
Prise
zu Schnee schlagen
und
fein
hacken.
Beides
beiseite
stellen.
Eigelb
mit
Mehl
und
Milch
zu
einem
und unterziehen. Die Butter in einer beschichteten Pfannen schmelzen. In
glatten
Teigdie
rühren.
Würzen.
mit einer
Prise
zu Schneedarübergieschlagen
der Pfanne
Zwiebeln
leichtEiweiß
anschwitzen
und
denSalz
Omelett-Teig
und
unterziehen.
Die
Butter
in
einer
beschichteten
Pfannen
schmelzen.
In
ßen. Chili einstreuen. Omelett bei mittlerer Hitze beidseitig goldgelb backen.
der
Pfanne
die
Zwiebeln
leicht
anschwitzen
und
den
Omelett-Teig
darübergieAm besten verwenden Sie dafür eine zweite beschichtete Pfanne, die Sie beim
ßen.
Chili
einstreuen.
bei Pfanne
mittlerer
Hitze beidseitig
goldgelb
backen.
Wenden
passgenau
aufOmelett
die andere
aufsetzen
und dann
mit Schwung
Am
besten verwenden Sie dafür eine zweite beschichtete Pfanne, die Sie beim
umdrehen.
Wenden passgenau auf die andere Pfanne aufsetzen und dann mit Schwung
Den
Ziegenkäse cremig rühren. Die Kräuter zupfen oder fein hacken. Die
umdrehen.
Tomaten je nach Größe halbieren oder vierteln. Das Omelett auf einem Teller
Den
Ziegenkäse
cremig rühren.
Die Kräuter
zupfen
oder fein hacken.
Diemit
anrichten,
mit Ziegenkäse
und Tomaten
füllen,
zusammenklappen
und
Tomaten
je
nach
Größe
halbieren
oder
vierteln.
Das
Omelett
auf
einem
Teller
Blüten bestreuen. Mit frischem Orangensaft und starkem Kaffee servieren.
anrichten,
mit
Ziegenkäse
und
Tomaten
füllen,
zusammenklappen
und
mit
Kurz darauf kommt dann die Versöhnung, da bin ich mir ziemlich sicher.
Blüten bestreuen. Mit frischem Orangensaft und starkem Kaffee servieren.
Kurz darauf kommt dann die Versöhnung, da bin ich mir ziemlich sicher.
Copyrights Foto © Vanessa Maas/Brandstätter Verlag
Für 1 Person
2 grüne Chilis oder mehr
1 Frühlingszwiebel
2 Eier, getrennt
1 EL Mehl
30 ml Milch oder Schlagsahne
Salz, schwarzer Pfeffer
aus
VO
R Sder
P E IMühle
SEN
20
1 EL Butter
20
VOR SPEISEN
40 g Ziegenfrischkäse
1 kleine Handvoll gemischte Kräuter
Foto Sina van Oostrum
(z.B. Dill, Schnittlauch, Estragon, Kerbel)
1 kleine Handvoll bunte Cherrytomaten
1–2 kleine Handvoll gemischte Blüten,
wenn Sie welche haben
11
Einer ganzen
Stadt das
Wochenende
versauen
Interview Rainald Grebe | Fotos Sandra Then
Mit EFFZEH! EFFZEH! EIN FUSSBALLORATORIUM führt der Regisseur, Comedian und Liedermacher Rainald Grebe
seine Auseinandersetzung mit Kölner
Mythen fort. Den FC-Torwart Thomas
Kessler traf er zu einem Gespräch über
Fangesänge, die Verbindung des Fußballs zum Theater und die neue Solidität des 1. FC Köln.
Rainald Grebe: Im Schauspiel spielen wir vor 500 Zuschauern. Ihr spielt im Rheinenergiestadion jedes Mal
vor 50.000. Macht das was mit Dir?
Thomas Kessler: Sicher, aber die 50.000 Leute kommen ja
nicht, weil sie Thomas Kessler sehen wollen oder Anthony
Modeste, die kommen wegen des 1. FC Köln. Wenn hier
elf Mann ausgetauscht werden, dann werden immer noch
50.000 ins Stadion kommen. Außerdem mittlerweile – das
ist mein 10. Jahr als Profi – stumpft man ein bisschen ab.
Ich meine das gar nicht negativ, weil Normalität wichtig
ist. Man kann sich nicht immer so viele Gedanken um das
Drumherum machen. Was da eigentlich passiert, kriegst
du mit, wenn du aufgrund einer Verletzung nicht im Kader
sein kannst oder in einem anderen Stadion ein Spiel von
Freunden guckst. Dann denkst du dir schon: Das ist Wahnsinn. Aber als Spieler tut einem das ganz gut, wenn man
da ein bisschen entspannter draufschaut. Wenn man sich
da Gedanken macht vor wie vielen Menschen man da
eigentlich arbeitet … Nehmen wir ein Spiel gegen Borussia
Mönchengladbach – das ist ja mit sehr viel Emotion verbunden. Du wirst auf der Straße vorher angesprochen, die Leute
wünschen einem Glück. Das ist aber nicht nur ein positiver
Anreiz, den du hast, sondern du trägst natürlich auch Verantwortung auf deinen Schultern. Du kannst einer ganzen Stadt
das Wochenende versauen.
Du weißt ja, wie das ist auf den Tribünen. Was die
Leute da lästern.
Ja, das Lästern gehört dazu. Wenn du im Stadion bist,
hast du 50.000 Trainer, die es alle besser wissen. Die
könnten auch alle besser halten und besser schießen.
Aber das ist okay. Wenn wir als Profis uns im Sommer eine
WM angucken, dann denken wir auch: »Hätte der Ronaldo mal dies oder das gemacht …« Und Liebe und Hass
liegen ja ganz eng beieinander bei diesem Sport.
13
dreivondrei | Einer ganzen Stadt das Wochenende versauen
Ich mache ja unter anderem Comedy und das ist lachabhängig. Dann gibt es Vorstellungen – oder Spiele – da lachen die Leute an bestimmten Stellen nicht. Darüber mache
ich mir schon Gedanken. Ich versuche natürlich, das auch
auszublenden, aber es verändert mich. Gibt es das bei
euch nicht auch? Beispielsweise wenn du ausgepfiffen wirst?
Wenn die eigenen Fans mich auspfeifen würden, würde das
natürlich etwas mit mir machen. Wenn man irgendwo anders spielt und der Gegner pfeift mich aus, dann ist das für
mich eher ein positiver Ansporn. Wenn sie einen ignorieren,
dann kann man nichts Besonderes haben. Deswegen ist
das ganz schön, wenn die gegnerischen Fans ein bisschen
negativer auf einen schauen.
Ich interessiere mich sehr für Fangesänge. Weißt du, was
die da singen?
In Köln weiß ich das natürlich. Das erste Mal war ich mit
sieben im Stadion und regelmäßig dann mit 14, 15. Da bin
ich eigentlich immer ins Stadion gegangen. Ich kenne das
fast in- und auswendig, was die Jungs und Mädels singen.
Wenn ich selber spiele, versuche ich das natürlich so gut es
geht auszublenden. Das ist nicht immer so einfach, gerade
in Spielen, in denen du mal vermeintlich nicht so viel zu tun
hast, da musst du dich schon echt zusammenreißen, um die
Konzentration auf das Spiel zu halten.
Aber noch mal zum Theatereffekt oder dem Mit-dem-Publikum-spielen. Das gibt es doch manchmal auch, dass
man die jetzt besonders mitnimmt oder anfeuert.
Ja, gerade bei Heimspielen ist es für uns unglaublich wichtig,
dass die Leute uns ein Stück weit tragen. Vor allem für die Feldspieler, weil es da auch an die Substanz geht, je länger das
Spiel dauert. Für mich ist das ja eher eine mentale als eine körperliche Anstrengung. Wenn ich nach einem Spiel richtig kaputt
bin, sind das meistens die Spiele, bei denen man von außen
denkt: Der stand doch da 90 Minuten nur rum. Nur, dieses
Aufrechterhalten der Konzentration, in der 89. oder 90. Minute
noch mal zupacken zu müssen, obwohl eben die ganze Zeit
über nichts passiert ist, ist viel, viel anstrengender, als wenn ich
permanent was auf die Hütte kriege und nur am Fliegen bin
und weiß, es kann kommen, was will, es passiert dir eh nichts
mehr. Aber ich glaube, für die Jungs, wenn die schon 80 Minuten gelaufen sind, dann ist es für die schön, wenn sie in den
letzten Minuten noch mal vom Stadion getragen werden.
»Ich kenne das fast in-­und
auswendig, was die Jungs und
Mädels singen.«
Gibt es denn da von Stadion zu Stadion Unterschiede?
Du kennst sie ja alle.
Wenn du bei Traditionsvereinen spielst, ist die Stimmung
immer außergewöhnlich gut. Und in Köln ist es sowieso immer
gut. Man hat jahrelang gesagt, wenn die Mannschaft nicht
wäre, dann wäre es im Stadion richtig schön. Zum Glück haben wir das ja ein bisschen umdrehen können. Aber natürlich
gibt es besondere Stadien – wenn man auswärts in Dortmund
vor 80.000 Leuten spielt, vor dieser riesigen Kulisse, das ist
schon was Außergewöhnliches. Keine Frage. Der komische
Effekt ist ja: Wenn ich irgendwo in der Regionalliga spiele
und da stehen dreihundert Leute hinter mir und ich höre, was
jeder Einzelne sagt, ist das viel schlimmer, als wenn da 50.000
stehen, die mich auspfeifen oder durchgehend beleidigen.
Das hörst du irgendwann nicht mehr. Aber wenn hinter dir
einer steht und der sendet dir 90 Minuten was zu und du
hörst irgendwann nur noch diese eine Person, das ist viel, viel
anstrengender. Deswegen: Je mehr Leute es werden, desto
angenehmer wird es eigentlich für die Spieler. Gerade für
mich. Ich laufe denen ja nicht weg. Ich stehe ja permanent in
einem Bereich, in dem die auf mich zugreifen können.
14
Was sind denn so die Schlachtrufe?
Da gibt es jetzt nichts wo ich sage: »Boah, das hörst du jetzt
jedes Spiel«. Die Fans sind kreativ und bauen auch immer
wieder neue Dinge ein. Das ist wirklich situationsabhängig,
was gesungen wird.
Bei Gladbach-Spielen, was wird da so gesungen?
Da sind natürlich die Anfeindungen ein bisschen größer,
weil die Rivalität sehr extrem ist …
Wie geht denn dieses … irgendwas mit Niederrhein, wie
geht denn das?
Dafür ist mein Gedächtnis nicht gut genug, dass ich das
wiedergeben könnte. (Lacht.)
Da muss ich die Fans noch mal fragen.
Ich bin ja auch nur Fußballer, weißt du, ich kann mir so was
ganz schlecht merken. (Allgemeines Gelächter.)
Der Scheiß Verein vom Niederrhein … oder irgendwie
sowas war das.
Ich weiß es nicht … (lacht). Das kostet mich nur Geld, wenn
ich das hier jetzt sage.
Der DFB liest alles. Ich frage dann jemand anderen. Ich
frage mal den Capo.
Ja, der wird es definitiv wissen.
Gibt es das Wort »Schauspieler« eigentlich noch im Fußball? Das ist ja eher negativ besetzt, oder?
Ja, das ist schon negativ belastet, weil es voraussetzt,
dass jemand eine rote oder gelbe Karte provozieren will
für Situationen, in denen gar nichts passiert ist. Obwohl
ich glaube, dass Schauspielen zu diesem Beruf auch ein
bisschen dazu gehört, weil man nicht immer überall sagen
darf, was man denkt. Deshalb gehört auch außerhalb des
Platzes manchmal ein bisschen Schauspielerei dazu.
Zum Beispiel: eine Glanzparade. Wo geht die Show los?
Klar versuchst du, die Leute ein Stück weit mitzureißen. Aber
in meiner Situation – wenn ein Schuss auf’s Tor kommt,
versuchst du den zu halten. Wenn du im Training einen Ball
sensationell über die Latte lenkst, musst du dir schon mal
anhören: »War kein Fotograf da. Kannst wieder aufstehen.«
(Gelächter.) Das sind so die Sprüche, die man ertragen
muss. Aber das gehört ja dazu. Auf der anderen Seite ist
immer das erste Ziel, seinen Job zu machen und es gibt
Situationen, die sehen spektakulärer aus, als sie sind.
Wie ist das denn bei den berühmten Interviews nach
dem Spiel? Machst du das gerne?
Ich habe da zumindest keine Probleme mit. Es macht mehr
Spaß nach einer persönlich guten Leistung oder nach
einem gewonnenen Spiel zu reden, als wenn man ein Spiel
verloren hat und dann vielleicht in der Niederlage noch
seine Aktien mit drin hatte. Aber unser Job ist nicht nur
Fußballspielen, sondern man muss auch mal was erzählen.
Man darf auch nicht vergessen: Die Leute, die vor dem
Fernseher sitzen, die wollen das hören. Ich versuche, mich
der Situation zu stellen, egal ob sie negativ oder positiv ist.
»Wenn meine Eltern mich
irgendwo anders hingeschleppt
hätten, dann hätte ich denen einen
Vogel gezeigt.«
Früher war es noch so: Da war ein Schauspieler oder
eine Schauspielerin jahrelang an einem Theater, man
kannte die, die sind da alt geworden. Und heute wechseln sie dauernd, die Regisseure genauso. Beim Fußball
ist das ja wahrscheinlich noch krasser. Nun ist es ja
momentan beim 1. FC Köln so, dass sogar plakatiert wird
»so viel Kölsch war noch nie«. Ist das Zufall?
Zufall würde ich es nicht nennen. Ich glaube, dass die
15
dreivondrei | Einer ganzen Stadt das Wochenende versauen
Situation gerade so passt. Nur weil man ein kölsches Herz
hat, hat man nicht automatisch die Berechtigung, beim 1.
FC Köln Fußball zu spielen. Da muss ja beides passen. Da
müssen die Komponenten der sportlichen Leistung passen,
und wenn sich dann jemand noch zu 100 Prozent mit dem
Verein identifiziert, ist das ein schöner Nebeneffekt. Aber
für mich persönlich war es so: Ich bin in Köln geboren, ich
bin hier in der Jugend groß geworden, habe auch meine
ersten Profijahre hier verbracht, wurde dann allerdings ein
bisschen unruhig, weil es nicht so weitergegangen ist für
mich, wie ich das wollte. Dann habe ich zwei Jahre lang etwas anderes gesehen, bin zurückgekommen, als hier vieles
im Argen lag und habe versucht, den Karren mit aus dem
Dreck zu ziehen. Das ist uns ja auch gut gelungen. Und das
ist dann schön, wenn man Jungs neben sich hat, die auch
die gleichen Gefühle für diese Stadt haben. Das ist, glaube
ich, von den Emotionen her schon besonders …
»Nur weil man ein
kölsches Herz hat, hat man nicht
automatisch die Berechtigung, beim
1. FC Köln Fußball zu spielen.«
Du bist auch Fan, oder?
Ja, ich meine, wenn man hier geboren ist und das erste
Stadion, in das man gegangenen ist, das Müngersdorfer
Stadion war, dann hast du ja gar keine andere Wahl. Wenn
meine Eltern mich irgendwo anders hingeschleppt hätten,
dann hätte ich denen einen Vogel gezeigt. »Was soll ich
denn woanders? Ihr habt mich einmal hierher gebracht,
hier will ich nicht wieder weg.« Als Sportler ist das eher
eine Ausnahmesituation, dass man so viele Jahre im gleichen Klub verbringt. Ich habe im Jahr 2000 angefangen hier
zu spielen. Wenn 2019 mein Vertrag hier endet, dann war
ich bis auf die zwei Jahre in Hamburg und Frankfurt
19 Jahre hier und dann bin ich 33 Jahre alt. Das ist mehr
als die Hälfte meines Lebens, die ich in diesem Klub verbracht habe. Für mich ist das eine Auszeichnung. Ich bin in
einem Klub, den ich liebe, ich darf hier Fußball spielen …
Du hast eben gesagt, dann bist du 33 Jahre alt. Bereitest
du dich schon vor auf die Zeit, wenn das Theater vorbei ist?
Ja, natürlich mache ich mir Gedanken. Ich habe nebenher
noch Sportmanagement studiert, bin letztes Jahr fertig geworden. Jeder erwachsene, halbwegs vernünftig denkende
Mensch macht sich Gedanken darüber, was nach dem Fußball passiert. Ich würde gerne so lange gesund bleiben, so
lange fit bleiben, dass ich den Sport noch eine Weile ausüben
16
kann und solange man hier noch mein Gesicht erträgt, möchte ich auch hier Fußball spielen. Aber wenn es mal nicht mehr
so sein wird, wird das auch eine spannende Zeit.
Und hast du schon Vorstellungen, was werden könnte?
Dass ich dem Fußball gerne treu bleiben möchte, ist, glaube
ich, keine Überraschung. Aber in was für einer Funktion das
am Ende sein wird und welche Möglichkeiten man hat, das
muss man abwarten. Es sind nicht immer alle Türen offen und
man muss manchmal im richtigen Moment den Fuß reinstecken. Das kann ich jetzt noch nicht beantworten, wo mein Fuß
dann in welcher Tür stecken wird. Vielleicht sind auch alle
Türen zu und ich mache was ganz anderes. Aber ich habe
da weniger Angst, sondern bin gespannt, was passiert.
Im Moment heißt es ja immer – wie heißt der Spruch von
Schmadtke? – »ruhig, ruhig …«. Alles ist solide geworden,
alle sind zufrieden im Moment. Aber das Theater ist ja so
ein bisschen raus, also das, was man eigentlich früher von
Köln so dachte, dass das so theatral ist, mit dem Auf und
Ab … Siehst du das auch so, dass das Theater raus ist?
Es ist auf jeden Fall ruhig geworden. Wenn die Leute einen etwas fragen, kann man meistens mit der Wahrheit antworten.
(Lachen). Das ist ja auch schon mal was. Deswegen ist es ein
total angenehmes Arbeiten. Ich habe da schon andere Zeiten
erlebt, das war auch spannend, war auch für meine Entwicklung wichtig, weil ich die ganze Bandbreite dieses Klubs so
miterlebt habe. Nur die glorreichen Jahre mit dem Europapokal und so, da bin ich zu jung für, auch als Fan zu jung.
Mich wundert, dass die Stadt, die eigentlich so theatral
ist, das mag. Dass die Leute sagen: »So solide geworden
– schön.«
Ja, das Allerschlimmste ist eigentlich, dass dafür erst ein
Düsseldorfer, ein Schwabe und ein Österreicher kommen
mussten, um hier ein bisschen Ruhe reinzubringen. Wenn es
nicht so gut wäre, wäre es schon fast traurig. Aber wir sind
doch sehr glücklich, dass wir die Immis jetzt hier haben, an
der Spitze des Klubs.
Thomas Kessler, Torhüter, geboren und aufgewachsen in
Köln, spielt – mit kurzen Abstechern zum FC St. Pauli und zu
Eintracht Frankfurt – seit seiner Jugend für den 1. FC Köln und
stieg zweimal mit dem Verein in die Bundesliga auf.
Rainald Grebe, Theater- und Liedermacher und ebenfalls gebürtiger Kölner, kam dem Fußball in der Praxis bisher in der
Fankurve beim Spiel des 1. FC Köln gegen Borussia Mönchengladbach am nächsten.
»Ja, das Allerschlimmste
an unserer aktuellen Situation ist
eigentlich, dass dafür erst ein Düsseldorfer,
ein Schwabe und ein Österreicher kommen
mussten, um hier ein bisschen Ruhe
reinzubringen.«
18
zabriskie
Point
Eine Begegnung mit der türkischen Jugend in Istanbul
dreivondrei | Zabriskie Point
Istanbul im Januar 2016.
Der Regisseur, Autor und Filmemacher
Nuran David Calis bereitet nach
Schau mal, sagt sie, ich weiß wirklich nicht, was sie denken,
DIE LÜCKE und GLAUBENSKÄMPFER mit gibt die Leiterin für Geisteswissenschaft mir beim DurchISTANBUL seine dritte Arbeit am Schau- queren der Aula zu verstehen, auf ihre Studenten blickend.
Dann bleibt sie an den Stufen stehen und hält einen Mospiel Köln vor, bei der Menschen aus
ment entrückt vor mir inne.
der Kölner Keupstraße gemeinsam mit
Stufen zur Geisteswissenschaftlichen Fakultät in der TC
Schauspielern auf der Bühne stehen. Im Die
Universität Istanbul, gegründet 1453, sind stark beschädigt.
vergangenen Jahr hat er im Rahmen ei- Die Marmortreppen haben bessere Tage hinter sich. Mehrenes Stipendiums des Auswärtigen Amtes re Stücke und Blöcke sind herausgefallen oder abgebrochen.
Von den abgebrochenen Steinen fehlt jede Spur. Das kommt
mehrere Monate in Istanbul gelebt – vor mir bekannt vor. Vor einigen Tagen habe ich so etwas schon
einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo?!
dem plötzlichen Putschversuch vom 15.
Juli 2016. Die Jugend Istanbuls, der er
Vor den Stufen schaue ich mich um; das Licht ist gedämpft.
damals begegnet ist, hat ihn ratlos geDie Fensterscheiben sind stark verschmutzt und lassen kaum
die Sonne durch. Hier und da ein paar Tags. Kein Ort, an
macht – und hoffnungsfroh.
Text Nuran David Calis
Fotos Miraz Bezar
dem man sich gerne aufhält. Und dennoch scheinen die
Studenten sich nicht davon abhalten zu lassen, unermüdlich
in den Fluren und Räumen zu diskutieren, zu rauchen, zu
trinken, sich etwas zu notieren, herumzulaufen, hastig zu
telefonieren, sich zu küssen oder einfach nur nebeneinander zu liegen. Keiner will hier weg. Stattdessen strömen sie
in Scharen in ihre Uni. Vor den Toren der Uni, am Security
Check, bilden sich meterlange Schlangen, wie an einem
Grenzübergang in Tijuana. Und alle wollen sie rein ...
Beim Durchqueren der Aula, muss ich an die Eröffnungsszene
von Antonionis »Zabriskie Point« denken. Ein pulsierender
studentischer Vulkan, der um Gedanken, um Ideen ringt. An
den Wänden befinden sich mehrere Leinentücher mit Fotos
von Berkin Elvan, darunter Slogans, »Freiheit!«. Keine anderen
Ikonen, die man sonst so kennt, denke ich. Kein Che Guevara. Nix. Dann noch ein Bild von dem kurdischen Volkssänger
Ahmet Kaya und die Flagge des Fußballclubs von Besiktas.
Und ein kleines Mädchen, das in Soma vor dem Präsidenten
steht und ihn anschreit. Alles Freiheitskämpfer, denke ich, nur
keine, die wir im Westen kennen.
Man hat das Gefühl, dass sich weder die Professoren noch
die vorbeigehenden Dozenten, noch die zahlreichen Hausmeister, die in ihren dunkelgrauen Overalls durch die Menge
bewegen, mit den Studenten anlegen möchten. Und die
Studenten? Sie ignorieren jede Autorität hier. Es ist ihnen egal,
wer da ist, ob sie jemand beim Rauchen oder Bier trinken
sieht. Keine Angst vor niemandem, scheinen sie zu haben.
Von Burka bis Jeans, von Salafisten bis Hipster-Bart, egal, alle
sitzen hier zusammen und ignorieren alle, die über 30 sind.
In diesem Moment gibt die Leiterin mir zu verstehen, dass
ich die Stufen hochgehen soll. Es ist die Leiterin, die mich eingeladen hat, mit den Studenten über einen Film von mir zu
reden. Die Studenten kommen und gehen, meint sie, sie sind
immer pünktlich, nie zu laut, sie stehen oder sitzen hier in den
Gängen, immer in kleinen Gruppen, nie alleine, sie kommen
in meinen Unterricht oder in den meiner Kollegen, die meisten fehlen nie, holen sich fleißig ihre Scheine ab, sind kaum
krank, keine Parties, kein Streit. Aber ... – und dann macht sie
eine lange Pause und schaut mich an: Ich weiß wirklich nicht,
was sie denken!? Manche sind bei mir seit Jahren, aber ich
weiß nichts über sie.
Am Ende meines Vortrags zu meinem Film, bei dem es kaum
Fragen gab, stoße ich beim Rausgehen einen Studenten an.
Die paar Studenten, die sich meldeten, behandelten mich
mit Samthandschuhen. Keine zu aufdringlichen Fragen. Als
hätten sie sich vorher abgesprochen. Ich frage ihn, was hier
los sei, ich bin kein Dozent, aber ich will das hier verstehen.
Bitte. Denn ich verstehe dieses Land nicht. Ich verstehe diese
Stadt nicht. Und ich weiß nicht, was diese Fakultät hier tut.
Warum man mich hier überhaupt eingeladen hat, ohne mir
die wirklich wichtigen Fragen zu stellen? Eigentlich müssten
wir doch über dieses Land reden, wir müssten über Deutschland reden, über Europa, über die Islamophobie, die mein
Film zum Thema hat, über Werte, über Religion?! Dieses Land
ist die Heimat meiner Eltern, ich bin jedes Jahr hier und von
Jahr zu Jahr fällt es mir schwerer, dieses Land zu verstehen.
Was verstehst du nicht, fragt er mich, lächelnd.
Wie kann ein Land solche Verrohungen und solche
Zärtlichkeiten an einem Tag hervorbringen? Ich bin total
ratlos. In einem Moment beschließt die Regierung, neue
orthodoxe Kirchen bauen zu lassen, im anderen Moment
schickt sie den Papst zum Teufel und unternimmt nichts,
wenn ein Christ angezündet wird. Schwule und Lesben sind
frei in diesem Land, sie können ihre Liebe frei wählen und
leben, dann im selben Moment geht die Polizeigewalt auf
ein schwul-lesbisches Straßenfest in Istanbul los, mit Gummigeschossen und Tränengas, unter dem Vorwand, dass man
so eine »teuflische Orgie« den Menschen im Ramadan nicht
21
dreivondrei | Zabriskie Point
zumuten kann. Die Alten klatschen, die Jungen kämpfen
dagegen an. Entsetzt blicke ich auf eine Gesellschaft, die
mich zutiefst in ihren Bann zieht und gleichzeitig abstößt.
Die Heimat und Hölle gleichzeitig für mich ist. Was ist das
für eine Zeit?! Frage ich ihn. Er lächelt weiter höflich und
lässt mich weiterreden.
Und in diesem Moment merke ich, dass ich gar nichts
weiß über dieses Land, über die Menschen, über diese jungen Menschen. Ich weiß nicht, was »Untergrund« bedeutet
hier, ich weiß nicht was »Kunst« oder »Freiheit« hier bedeutet, ich weiß gar nichts und dann maße ich mir an, über
dieses Land und deren junge Generation zu urteilen?!
ganzes Land zum Beben bringt. Daher ist es nur eine Frage
der Zeit, bis diese Bewegung die bestehende Mehrheiten
im Parlament wegspült und neu ordnet. Wenn wir sie von
außen nicht künstlich manipulieren.
Wenn du dich nützlich machen willst, reißt der Student mich
aus dem Gedankenstrom raus, besorg mir und uns ein
Praktikum in Deutschland, ansonsten gibt es nichts, was du
tun kannst für uns! Was wir nicht selber können. Und sag
deinen Theater- und Film-Leuten in Deutschland, sie müssen
für nichts zahlen, denn jedem, der hier an der Geisteswissenschaft studiert, geht es finanziell gut. Wir haben reiche
Eltern. Sie sollen uns nur eine faire Chance geben, den Rest
machen wir hier. Ihr müsst uns nichts lehren.
Eine letzte Frage erlaube ich mir, einem der Studenten beim
Rausgehen zu stellen: Eure Fakultät ist ganz schön runtergekommen, tun sie nichts für euch? Doch, doch, die Marmorsteine werden immer wieder erneuert, aber wir schlagen
die Blöcke immer wieder raus und dann landen sie auf den
Köpfen der Polizei am Taksim. In diesem Moment fällt mir
ein, woher ich die abgebrochenen Marmorsteine kenne ...–
vom Gezi-Park, rausgerissen von den Demonstranten. Jetzt
weiß ich, dass diese Generation all die Fragen lösen wird,
wenn sie gelassen wird.
Und dann wird mir alles klar; die Köpfe der Studenten sind
voll, voll mit Plänen und Fragen, das spürt jeder, der in ihre
Augen schaut. Man muss nur schauen, wie sie sich organisieren; blitzschnell. Die nächste Demo, die nächste Kundgebung.
Das nächste Feuer, das gelegt werden muss gegen die
kalten Säcke da oben. Hier wird illegal ein kurdisches Theaterstück auf die Beine gestellt, da wird illegal eine Lesung
durchgezogen. Alles spontan. Mitarbeiter von namhaften
kulturellen Institutionen unterstützen die Künstler und die Jugend hier heimlich. Aber niemand redet direkt miteinander,
niemand weiß direkt, was der andere denkt. Dieser Staat hat
die direkte freie Kommunikation zerstört, aber die Kommunikation geht abseitige Wege und das Leben und die Kunst
suchen sich ihren Weg an die Öffentlichkeit.
Und jetzt, mit etwas Abstand, bemerke ich, über was diese
Generation verfügt und ich nicht. Die Studenten verfügen
über das Wissen, ihr Land zu deuten und sich so zu verhalten, dass sie es Stück für Stück verändern werden, ohne,
dass wir es hier in Europa so richtig bemerken. Sie zeigen
uns, dass ihr Land sich von innen heraus verändern muss
und kann. Sie sind entfremdet gegenüber gut-gemeinten und
schlecht-gemeinten Autoritäten. Sie sind am Zabriskie Point.
Alles ist möglich und nichts. Eine wirklich undurchschaubare,
unwirkliche Zeit. Vielleicht ist diese Regierung schon Geschichte? Oder eine Zwischenstufe zu etwas hin, wohin die
Menschen in der Türkei seit dem Militärputsch September
1980, angezettelt durch die USA und das türkische Militär,
aufgebrochen sind. War es nicht die Generation nach 1980,
die zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen sind, als
Hrant Dink erschossen wurde, und skandiert haben: Wir alle
sind Armenier!?! Es ist genau diese Generation Gezi, die ein
22
Es heißt immer, dass jede Gesellschaft die Regierung
bekommt, die sie verdient. Aber diese Jugend, die ich hier
sehe, hat diese Regierung nicht verdient. Mach dir keine
Sorgen um uns, sagt mir noch der Student, als er gehen
will. Wir werden kämpfen und ihr in Deutschland, in Europa,
werdet bald die Ergebnisse sehen. Dann dreht er sich um
und lässt mich alleine zurück.
Und so muss ich beim Rausgehen nochmal an Michelangelo Antonionis »Zabriskie Point« denken, diesmal an den wirklichen Ort, den die beiden Liebenden im Film aufsuchen.
Den »Zabriskie Point« am Death Valley. Irgendwann stehen
die Beiden vor einer unwirklichen Landschaft, die entweder gerade kaputtgegangen ist oder am entstehen ist. Wir
wissen es nicht. Alles oder Nichts. Quo vadis Türkiye ...?!
Etwas ahne ich jetzt, die Zukunft liegt in ihren Händen und
darf nicht in unseren liegen. Was für ein großartiges Land
wäre dann die Türkei, wenn sich unsere Rechtstaatlichkeit
mit dem emotionalen Kern, der Solidarität dieser jungen
türkischen Generation binden würde? Dann würden wahrscheinlich einige Europäer an den Türen der Türkei stehen
und um Einlass bitten. Oder?!
Rund 12 Monate später, im Januar 2017.
Und jetzt? Ein paar Monate nach dem versuchten Militärputsch in der Türkei blicken wir von hier aus auf die Heimat
unserer Eltern. Wir wissen immer noch nicht, wohin sich das
Land bewegt. Der Ort, der seit den Erzählungen unserer Eltern
immer auch ein Sehnsuchtsort war, wendet sich von uns ab.
Viele hier sind mittlerweile in der Diaspora und blicken
auf ein Land, das sich ihnen immer weiter entfremdet.
Das Land verschließt sich. Will auch nichts mehr von den
verlorenen Töchtern und Söhnen wissen. Brücken werden niedergerissen. Türen verschlossen. Die Menschen ziehen sich
zurück. Harren aus. Istanbul eine wüste, hitzige, verwegene
Stadt, Schmelztiegel zwischen Orient und Okzident steuert auf
eine Eiszeit zu … Quo vadis Istanbul?! Quo vadis Türkiye?
Foto Nathalie Dampmann
die nachhumpelnde
kunstform
Über das Theater im Zeitalter industriellen Erzählens, den Film
Findet Nemo und die Frage nach dem Menschen auf der Bühne
umpelnde
25
dreivondrei | Die nachhumpelnde Kunstform
Er gehört zu den Stars des amerikanischen Theaterbetriebs – der Schauspieler und Schriftsteller Ayad Akhtar.
Zum Ende dieser Spielzeit inszeniert
Stefan Bachmann sein preisgekröntes
Drama Geächtet in der Außenspielstätte am Offenbachplatz – die erste
Arbeit des Intendanten auf der anderen Rheinseite. Akhtars Stück ist eine
ebenso unterhaltsame wie schonungslose Analyse unserer Gegenwart, ein
brandaktueller Text über Rassismus,
Religiosität und Angst.
Wir haben Ayad Akhtar um einen
Beitrag für dieses Magazin gebeten –
und wurden mit einem Essay über die
Arbeit des Autors, über die Kommerzialisierung des Erzählens und die
Kraft des Theaters beschenkt.
Text Ayad Akhtar
01
Im Pixar-Film FINDET NEMO verliert der Clownfischvater
Marlin seine geliebte Ehefrau – und die Mutter seines
Sohnes Nemo – Coral, an einen marodierenden Barrakuda.
Dieser Verlust, der sich gleich zu Beginn des Films ereignet,
hinterlässt bei Marlin bleibende Spuren und zieht sich wie
ein roter Faden durch die gesamte Geschichte. Als Nemo
dann, ebenfalls im ersten Akt, von einem Taucher gefangen
wird, ist es Marlins Suche nach seinem Sohn, die dem Film
seinen Titel und der Geschichte ihre Richtung gibt.
Für den Autor war das keine leichte Aufgabe: Marlins Beweggründe – sowohl seine Angst, den einzigen Sohn, den
Coral ihm geboren hat, zu verlieren, als auch das verzweifelte Verlangen, ihn wiederzufinden, nachdem er verschwunden ist – mussten innerhalb kürzester Zeit etabliert werden.
Dazu müssen wir, das Publikum, Zeugen jener Kraft und
Schönheit werden, die in dem Bund zwischen Marlin und
seiner Frau liegt, der Liebe und des Trostes, den er mit ihr
verliert. Dem Autor bleibt dafür eine einzige Szene, und
er findet eine ebenso einfache wie elegante Lösung für
diese Aufgabe. In dieser Szene zeigt Marlin seiner Frau ein
»Haus«, das er gefunden hat:
Marlin
Wow.
Coral
Mmm-hmm.
Marlin
Wow.
Coral
Ja, Marlin. Nein, wirklich. Es ist wunderschön.
26
Marlin
Also, Coral, als du meintest, du willst Meerblick, da hast
du sicher nicht damit gerechnet, dass du gleich das ganze
Meer kriegen würdest, oder? (Seufzt) Oh ja. Hier kann ein
Fisch durchatmen. Bin ich gut oder bin ich gut?
Coral
Du bist gut.
Marlin
Und es war nicht einfach.
Coral
Es haben bestimmt viele Clownfische ein Auge drauf
geworfen.
Marlin
Na und ob — jeder Einzelne von ihnen.
Coral
Mm-hmm. Das hast du gut gemacht. Und die Nachbarschaft
ist toll.
Marlin
Also gefällt es dir, ja? Es gefällt dir?
Coral
Ja, nein, das tut es, das tut es. Wirklich, ich mag es sehr.
Tolle Hanglage, großartige Aussicht, gute Schulen in der
Gegend – aber brauchen wir wirklich so viel Platz?
Marlin
Coral, Liebling, wir reden hier von unseren Kindern. Sie
verdienen das Beste. Schau doch, schau. Sie werden aufwachen, ihre kleinen Köpfchen rausstrecken und das Erste, was
sie aus ihrem Schlafzimmerfenster sehen, ist ein Wal! Schau!
Coral
Leise, du weckst die Kinder.
Ziel und Zweck dieser Szene ist es, den Zuschauer mit der
Welt der Fische vertraut zu machen, Identifikation zu stiften. Sie
haben Familie; sie leben in Familien. Sie machen sich Gedanken über das Viertel, in dem sie wohnen, über die Schulen, auf
die ihre Kinder gehen und darüber, ob sie mit den Nachbarn
Schritt halten. Eine schöne Aussicht ist ihnen ebenso wichtig
wie ihr Ansehen in der Gemeinde … Der Identifikationsprozess
verläuft nach einem vorgefertigten Schema, es bleibt keine
Zeit, sich erzählerisch zunächst den Unterschieden zu widmen,
um dann, ganz behutsam, die Gemeinsamkeiten aufscheinen
zu lassen. Nein, Gleichheit muss schnell und mit allem Nachdruck vermittelt werden. Er ist wie du. Sie ist wie du. Sie alle
sind wie du. Deswegen liebst du sie. Denn am Ende aller Tage
gilt doch, dass wir alle – jeder Einzelne von uns – gleich sind.
02
Nach welchen Regeln wird diese Gleichheit erzeugt?
Wer heute, im spätkapitalistischen Zeitalter, empfindsam
ist, sieht sich einem Dauerfeuer von Klischees ausgesetzt,
einer endlosen Litanei von Stereotypen über menschliches
Verhalten, über die endgültige Substanz, die Bedeutung des
Gefühls- und Seelenlebens. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme des Menschen in Formeln und Plattitüden, vorgenommen von einer Mehrheit. Sie will erfassen, was wir lieben.
Was wir hassen. Was wir brauchen. Was wir wollen. Was wir
uns anschauen. Was wir anklicken. Kurz, was wir kaufen.
03
Das Einzige, was fast jeder professionelle Theaterschaffende weiß, ist, dass am Theater kein Geld zu holen ist.
Es kommt einem täglichen Wunder gleich, dass diese
Kunstform überhaupt überlebt, eine traurig nachhumpelnde
Leidenschaft, deren Antiquiertheit sich unangenehm in den
quecksilbrigen Kanälen der industriellen Ausbeutung verfängt – wie verfaultes Laub, das immer wieder die Abflussrohre verstopft.
Theater stellt Ansprüche an die Realität. Es braucht Raum
und Gegenwart. Es braucht einen Ort und Menschen, die
anwesend sind. Es zwingt zu Nähe und Kommunikation. Es
fordert einen lebendigen Dialog, es gedeiht durch ihn. Mit
anderen Worten: Es ist eine Kunstform, die auf geradezu
störrische Art und Weise auf den Menschen zugeschnitten
ist, und deren strukturelle Steifheit und technische Überholtheit ein wichtiger Grund sind, warum sie dem Ausverkauf
standhält. Theater kann nicht kopiert und weiterverkauft, es
kann nicht reproduziert werden. Es findet ausschließlich im
Hier und Jetzt statt.
04
Theater braucht einen Raum. Menschen in diesem Raum. Es
wird durch die Notwendigkeit von Nähe und Anwesenheit
eingeschränkt. Das ist, in ökonomischer Hinsicht, seine Schwäche. In menschlicher Hinsicht jedoch, ist es seine Stärke.
Die Ausrichtung des Theaters am Menschen mit seinen
(Un-)Möglichkeiten erklärt, warum es immer zentral, sogar
essentiell für unser Leben und unsere Gesellschaft sein
wird, unabhängig von den sich wandelnden sozialen und
kulturellen Übereinkünften. In einer Welt, die zunehmend
von Abbildern von Beziehungen bevölkert ist, liegt die subversive Wahrheit des Theaters darin, dass seine Grundlage
reale Beziehungen sind. Im Wesentlichen die Beziehung
zwischen Schauspieler und Publikum.
27
Foto Ana Lukenda
KLEINES von Hannah Moscovitch | Regie Charlotte Sprenger
Der Körper. Auch darin kann man das zutiefst Menschliche des Theaters erblicken. Wir sprechen so häufig über
Figuren, darüber, wie er oder sie geschrieben wurde – aber
kommen wir damit dem, was in einem theatralen Moment
geschieht, wirklich nahe? Entzieht sich diese Verbindung, die
einen solchen Moment ausmacht, nicht gerade jeder Analyse, geht sie nicht darüber hinaus? Was nicht bedeutet, dass
wir sie nicht verstehen können. Doch wären die Grundlagen
dieses Verständnisses keine dramaturgischen. Schließlich
beginnen wir, indem wir unsere eigene Beziehung zu dem
lebenden Schauspieler auf der Bühne ausloten, ein ganz
neues Beziehungsregister zu ermessen. Keine Aufzählung
von Merkmalen und Qualitäten, sondern etwas Unaussprechlicheres. Fleischlicher. Unmittelbarer.
Bedenken Sie: Nicht die Beschreibung des Geschmacks
einer reifen Mango. Eine orange-gelbe Saftigkeit, zum Beispiel. Oder die beißende Süße, die im Mund nachhallt wie
das perfekte Echo einer Quinte im Unterbügel des Cello.
Nein. Nein, nicht das. Nichts dergleichen. Es kann tatsächlich überhaupt nichts gesagt werden. Sondern bloß: der
Geschmack an sich.
05
Derrida hat die Krux der Sache mit der ihm eigenen Eleganz dargelegt:
»Schlägt mein Herz, weil ich jemanden liebe, oder weil ich
liebe, was dieser Mensch verkörpert.«
Darin könnte die Kernfrage aller Schauspieltechniken, jeder
narrativen Dramaturgie bestehen. Bewegt uns eine Identifikation – auf dem Bildschirm, auf der Bühne –, die durch
bekannte Eigenschaften an dem jeweiligen Charakter hervorgerufen wird – oder bewegt uns etwas Unbenennbares?
Mit anderen Worten: Trauere ich um Coral, wegen dem,
was sie ist – nennen wir es eine aufopferungsvolle Vorstadtmutter oder eine unterstützende, liebevolle Ehefrau – oder
trauere ich um sie aus einem anderen, unaussprechlichen,
mysteriöseren Grund, der darauf hinweist, wer sie ist?
Natürlich kann es im Fall von FINDET NEMO nur das erstere
sein. Das ästhetische Feld wird vollkommen von einer Dramaturgie der Aufzählung dominiert, einer Dramaturgie der
Mitte, die an den gemeinsamen Nenner appelliert. Wenn
die Ideen ausgereift, die Drehbücher geschrieben und
verfilmt, wenn alles gesagt, durchgesiebt und entschieden
worden ist, dann kann die gesamte Weisheit des industriellen Prozesses in einen einzigen, magischen Satz destilliert
werden, ein sine qua non zeitgenössischer Narration, die
folgenreiche Erkenntnis aus jeder »Poetik des Was«:
Die Charaktere müssen sympathisch sein.
Der gesamte Prozess der Einfühlung wurde kommerzialisiert,
unsere Erwartungen konditioniert, eine Industrie hat die
die Ausbildung unserer Fähigkeit zu fühlen und mitzufühlen
übernommen.
06
Heutzutage ein erzählender Autor zu sein – Drehbuchautor,
Dramatiker, Schriftsteller – bedeutet, mit der Vorherrschaft
dieser »Poetik des Was« konfrontiert zu sein. Es bedeutet
auch, mit dem Wunsch nach einer sogenannten Entwicklung
konfrontiert zu werden, in deren Verlauf die alten, weniger
wünschenswerten Eigenschaften einer Figur auf organische
Weise durch neue, wünschenswertere ersetzt werden. Was
durch diese Betrachtungsweise der Charakterentwicklung
verloren geht, ist etwas Fundamentales, etwas Wahres über
die Unlösbarkeit des menschlichen Lebens.
Der menschliche Charakter ist nicht bloß die Summe seiner
Teile, die durch eine neue Zusammensetzung ein anderes,
wünschenswerteres Gemisch ergeben. Im Herzen der menschlichen Identität verbirgt sich ein Geheimnis, das stellvertretend
für das große Geheimnis des Lebens steht. Die wahre dramatische Form führt uns den geistigen Kampf mit diesem unlösbaren Rätsel des Daseins vor Augen. Die Erforschung des Lebens
und des Selbst, unberührt von der schwachsinnigen Frage
nach Sympathie, ist der Ausgangspunkt einer »Poetik des Wer«.
Denn Authentizität kann – gleich dem ewigen Geheimnis der
Identität – niemals auf eine Formel reduziert werden.
07
Die Vorherrschaft der »Poetik des Was« hat für die Struktur
unseres Lebens gravierende Konsequenzen. Denn die Geschichten, die wir uns erzählen, vermitteln uns das Spektrum menschlicher Möglichkeiten, die Spielräume unserer
Freiheit. Wenn diese Geschichten nach Maßgaben einer
Industrie erzählt werden – Erlösung um jeden Preis, Gleichheit als Entwicklungsziel, die Fiktion, Identität sei eine Karriereleiter – wie könnte da kein Zusammenhang bestehen zur
Verarmung des menschlichen Daseins?
Deutsch von Julia Fischer, Julian Pörksen und Nina Rühmeier
29
Wir wollen
30
wollen plankton sein
31
dreivondrei | Wir wollen Plankton sein
Der Autor und Dramaturg Julian
Pörksen hat ein Stück über das Theater geschrieben – eine paradoxe
Metakomödie für drei Personen, die
gleichzeitig Schauspieler und Schauspielerinnen und über ihr Spiel reflektierende Figuren sind. Es entspinnen
sich Situationen, die in ihrer Profanität
den wunden Punkt einer überaktiven
Gesellschaft suchen und die mit kleinen
Gesten zu großen Fragen anregen.
KONSTRUKTION
Die Schauspielerin Melanie Kretschmann wird bei diesem Stück ihre erste
Regie übernehmen und selber mitspielen. Sie tritt dabei in die Fußstapfen
ihres Großvaters Hans Harloff: Er war
Schauspieler, Regisseur und Intendant
einer Wanderbühne. So greifen schon
im Probenprozess Realität und Theater
ineinander, lässt sich nicht mehr genau zwischen Theaterfamilie und Familie unterscheiden; eine reflexive Endlosschleife entsteht, unendlich traurig,
unendlich komisch.
Bernadette
Damit wir ein Gefühl entwickeln, wo wir gerade sind.
Traurige Stille.
Bernadette
Und jetzt?
Yorick
Weiß nicht.
Bernadette
Vielleicht lassen wir einfach mal ein bisschen Revue passieren, was bisher so war. Die schönsten Momente.
Yorick
Au ja.
Yorick
Das ist gut, ja.
Bernadette
Dein Anfangsmonolog. Ich fand das sehr schön von dir
gemacht.
Yorick
Und den Tanz? Mochtest du den Tanz?
Bernadette
Und wie! Da hast du für mich wirklich etwas gehabt von:
Wir haben eine Trauer in uns, und diese Trauer ist ganz zart
und ein bisschen zäh und eben nicht laut und groß. Das
hast du für mich da gesagt. Dass wir eben eher Seetang
sein wollen als Feuer. Das hast du ausgedrückt.
Yorick
Danke. Das wollte ich auch ausdrücken.
Bernadette
Das hast du auch ausgedrückt.
Stücktext Julian Pörksen
Fotos Elisabeth Harloff
Yorick
Gut. Das wollte ich.
Bernadette
Ja.
Stille.
WIR WOLLEN PLANKTON SEIN ist als Buchausgabe im Alexander
Verlag Berlin erschienen, bei dem auch die Aufführungsrechte liegen.
32
Yorick
Und dann hat Micha über das Glück gesprochen. Find ich
tief. Find ich tief, von hier aus gesehen. Damals dachte ich
noch: Naja. Aber jetzt finde ich tief, was er da gesagt hat.
Bernadette
Er ist nur immer so ernst. Ich mach mir manchmal ein bisschen Sorgen.
Yorick
Das machen die Theorien. Ich sag dir: Das sind die Diskurse, von denen er immer redet. Und die ganzen Kriege.
Und Großvater. Und die Postmoderne. Da hat er sich ein
bisschen verstrickt, und jetzt glaubt er, dass er für alles
zuständig ist und zu allem etwas denken muss und dass er
die Leute erziehen muss und dass er etwas sieht, was alle
anderen nicht sehen.
Bernadette
Als wir uns kennen gelernt haben, warst du genauso!
Yorick
Ja. Schrecklich.
Yorick
So richtig hab ich das auch nicht verstanden. Irgendwie will
er mit dem Kapitalismus spielen und ihn dadurch pervertieren. Indem er ihn bejaht. Irgendwie so.
Bernadette
Was heißt denn das schon wieder?
Yorick
Keine Ahnung. Er schreibt ein Singspiel darüber, hat er
gesagt. Das will er uns vorführen.
Bernadette
Ich freu mich ja auch, dass er so engagiert ist. Aber er hat
so etwas Verbohrtes. Warum hat der das? Meinst du, er
onaniert nicht genug?
Yorick
Bitte nicht. Bitte bitte nicht.
Bernadette
Du hast immer gesagt: Das ist nur eine Konstruktion! Und
das hast du dann ganz, ganz ausführlich dargelegt.
Yorick
Es tut mir leid.
Bernadette
Das war wahnsinnig langweilig. Wenn ich gesagt hab
»Liebe«, dann hast du sofort losgelegt: Konstruktion! Dabei
wusste ich das doch! Ich wusste das doch, das hättest
du doch gar nicht immer sagen müssen. Aber du hast es
immer gesagt. Immer!
Yorick
Ich weiß. Tut mir leid. Ich war einfach sehr unsicher, damals.
Bernadette
Und jetzt Micha, die Sache mit den Geschlechterrollen.
Das muss man doch nicht immer sagen. Das weiß ich
doch. Aber er erklärt mir trotzdem dauernd, dass ich mein
Geschlecht performativ hervorbringe. Damit ist nun wirklich
nichts gewonnen. Er sagt das auch gar nicht zu mir. Er sagt
das über sich. Eigentlich sagt er zu mir, dass er es durchdrungen hat und dass er zu denen gehört, die die Muster
durchschaut haben. Das ist doch eitel. Einfach unendlich
eitel. Und er kann sich gar nicht vorstellen, dass auch andere Menschen das verstanden haben, nur weil sie nicht die
ganze Zeit darüber reden.
Yorick
Hat er dir auch schon diese Kapitalismus-Sache erzählt?!
Bernadette
Ich glaube nicht. Aber ich höre ja so ungern zu, das weißt
du doch.
Bernadette
Vielleicht hat er einen Luststau. Das kann passieren. Man
verlernt, den eigenen Trieben nachzugeben. Dann staut sich
das an. Das Gleichgewicht geht verloren. Die Persönlichkeit
kippt. In die eine oder andere Richtung.
So hat das mein Therapeut mal erklärt. Ich bin ja in Therapie.
Ich habe eine Depression. Eine wirklich sehr disparate,
hyperkomplexe Depression. Zitat.
Früher, hat mein Therapeut gesagt, wäre ich außerdem eine
klassische Hysterikerin gewesen. Hat er so gesagt. So hätte
man das früher bezeichnet. Eine klassische Hysterikerin. Wie
das klingt, oder? Klassische Hysterikerin.
Manchmal ist es schon ganz schön traurig, heute zu leben,
in dieser Gegenwart.
Es war doch einiges besser, damals.
Die Krankheitsbilder.
Die Künstler.
Die Kleidung.
Die Architektur.
33
dreivondrei | Wir wollen Plankton sein
Es gab noch weiße Flecken auf der Landkarte.
Und Zarah Leander hat noch gelebt.
Und die Schilfdommel war noch nicht ausgestorben.
Ach ja.
Bernadette
Liebling, baust du an einer Wanderbühne?!
Meinst du wirklich, er baut an einer Wanderbühne?
Yorick
Es könnte sein. Er will die Welt sehen, sagt er.
Bernadette
Die Welt!
Warst du in letzter Zeit mal draußen, in der Welt?
Scheußlich.
Die armen echten Menschen.
Es gibt keinen schlimmeren Ort als die Realität.
Du kannst wirklich froh sein, dass du hier lebst, mit uns.
Auf dieser Bühne.
Yorick
Das bin ich.
Früher wusste ich nie, was mit mir los ist.
Ich habe nirgends dazu gehört.
Ich war überall fremd.
Bis ich zu euch kam, ins Theater.
Da wusste ich: Ich bin endlich zuhause.
Sie sehen sich an. Yorick macht merkwürdige Bewegungen.
Bernadette
Was machst du da?
Yorick
Das ist ein Balztanz!
Bernadette
Bist du dir sicher?
Das sieht nicht so aus. Woher hast das denn bitte?
Micha läuft einmal über die Bühne, etwas Schweres, Unförmiges schleppend. Er trägt eine Andy-Warhol-Perücke und
ein Andy-Warhol-Kostüm.
Bernadette
Hallo Liebling.
Yorick
Aus einer Doku. Das ist der Balztanz der Kraniche, der
schönste und komplizierteste Balztanz im gesamten Tierreich.
Auftritt Micha, in Unterhose, eine Krone auf dem Kopf. Er
schleppt eine große Pappkuh mit sich herum.
Micha verschwindet wortlos.
Bernadette
Was machst du denn da wieder?
Bernadette
Liebling, was ist denn?
Man hört Micha hämmern.
Micha
Ich wollte nur mal Hallo sagen.
Bernadette
Was macht er denn da? Das macht mich verrückt. Was
macht er da?
Bernadette
Das ist allerliebst. Aber du weißt doch, dass wir noch etwas
Zeit brauchen.
Yorick
Vielleicht baut er wieder an seiner Wanderbühne.
Micha
Ich weiß.
34
Nichts passiert.
Micha
Ich hab meine Bühne fast fertig.
Bernadette
Toll. Ich komm nachher kucken, ja?
Nichts passiert.
Bernadette
Gehst du jetzt bitte wieder.
Micha
Damit ihr ficken könnt?!
Yorick
Ja.
Micha
Ihr seid ekelhaft.
Bernadette
Liebling, sei jetzt bitte mal erwachsen, ja?
Micha
Ich krieg das immer alles mit, da auf der Seitenbühne.
Yorick
Dann geh in die Kantine.
Micha
Halts Maul.
Bernadette
Liebling, du musst dich langsam damit anfreunden, dass
deine Mutter ein Sexualleben hat. Das hat auch mein Therapeut auch gesagt: »Der Micha muss das echt langsam mal
lernen.« O-Ton mein Therapeut.
Micha
Ich werde mich ganz sicher nicht mit deinem Sexualleben anfreunden. Vor allem nicht, wenn dein Sexualleben so alt ist wie
ich! Ich habe mein ganzes Leben unter deinen Eskapaden gelitten. Unter all den Männern, dieser Parade von Idioten, die hier
durchmarschiert ist. Ich hab es satt. Ich hab es einfach satt hier
zu leben, in diesem Treibhaus der Neurosen, in dem alle nur
mit sich beschäftigt sind und es nur noch darum geht, schön
und originell zu sein und alles nur noch so daher gesagt wird
und meine Mama mit einem Typen ins Bett steigt, der so alt ist
wie ich und mein Freund sein will, aber ich will keinen Freund,
ich will einen Vater, ich will einen richtigen Vater, ich will eine
Linie in meinem Leben, an der ich mich abarbeiten kann und
ich will endlich, endlich einen ernstzunehmenden Gegner.
Stille.
ivanow von Anton Tschechow | Regie Robert Borgmann
Dann fliegt
der Laden
auseinander
Der Kölner Schriftsteller Navid Kermani
ist Friedenspreisträger des Deutschen
Buchhandels und einer der wichtigsten
Intellektuellen in Deutschland. Im Gespräch mit Schauspielintendant Stefan
Bachmann plädiert er für einen Dialog
auch dort, wo es wehtut, und er appelliert an eine westliche Zivilgesellschaft,
für die europäische Idee zu kämpfen.
Foto David Baltzer
Stefan Bachmann: Brexit in England, Donald Trump in den
USA, kriegerische Auseinandersetzungen in Syrien und an
vielen anderen Orten auf der Welt, enorme Fluchtbewegungen und mitten in Europa ein Erstarken des Rechtspopulismus. Was passiert da gerade um uns herum?
Navid Kermani: Man kann weltweit Phänomene von
Fremdenfeindlichkeit, Fanatismus oder Nationalismus beobachten. Das geht mit einer Verunsicherung durch einen
längeren Prozess von Globalisierung einher. Diese Verunsicherung ruft danach, dass man sich seiner Selbst versichert. Und man versichert sich seiner Selbst ja immer auch
durch die Differenz zu anderen. Das muss nicht per se ein
schlechter Prozess sein. Kultur entsteht daraus. Europäische
Kultur ist in der Renaissance auch durch die Abgrenzung
vom arabischen Kulturraum entstanden. Aber im Moment
beobachten wir, wie diese Verunsicherung in Aggressivität
umschlägt. Das ist in Europa unterschiedlich stark ausgeprägt, was auch mit den realen sozialen Faktoren zu tun
hat, die beispielsweise in Deutschland andere sind als in
England oder Südeuropa. Das soziale Gefüge in Deutschland ist noch relativ stabil, aber die ganzen kulturellen
Faktoren schlagen natürlich auch hier durch: Einwanderung,
Globalisierung, fremde Kulturen und so weiter.
Ich glaube, dass es in den westlichen Gesellschaften
immer noch eine sehr deutliche Mehrheit von Menschen gibt,
die die Art und Weise, wie wir leben, im Grunde für richtig
halten. Die für Europa plädieren, die nicht zum Nationalstaat
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dreivondrei | Dann fliegt der Laden auseinander
zurückwollen, die auch Einwanderung nicht per se kritisch sehen. Aber man gewinnt keine Mehrheiten damit, zu sagen, wir
wollen, dass alles so bleibt, wie es ist – zumal die Weltlage
als Bedrohung wahrgenommen wird. Und da gibt es plötzlich
die, die sagen, wir wollen Veränderung, wir lehnen den Status
quo – das mobilisiert natürlich erst einmal viel mehr.
Ist das eine Revolution, die da stattfindet? Und ist es attraktiv, rechts zu sein, weil man meint, man gehöre einer
Bewegung an, die etwas verändert?
Auf jeden Fall wirken plötzlich die, die einmal angetreten
waren, das System zu ändern oder sogar zu stürzen – nehmen wir nur die Achtundsechziger oder die Grünen – seltsam
restaurativ. Wer Veränderung will, der steht plötzlich rechts.
Da hat sich doch etwas komplett pervertiert. Das Kraftfeld der Verlässlichkeit der USA, die ja auch stabilisierend für die Welt gewirkt hat – ob einem das nun immer
gepasst hat oder nicht – wird von etwas abgelöst, das
vermutlich ganz viel mit Willkürherrschaft zu tun hat. Und
mit einer Form von Oligarchie, die genau die Menschen,
die sie gewählt haben, komplett anlügt. Ich verstehe
schon, dass es nicht attraktiv ist, auf dem Status Quo zu
beharren. Auf der anderen Seite ist es für mich trotzdem
nicht verstehbar. Warum kommen diese Rattenfänger
wieder? Man muss doch sehen, dass Trump sozusagen
der große Bruder von Berlusconi ist.
Aber natürlich mit viel gefährlicheren Dimensionen, weil
Trump viel größere Macht hat.
Wie schaffen die das, so die Massen zu mobilisieren?
Ich glaube, dass wir uns gar nicht so sehr Gedanken machen
müssen über »die«, sondern mehr über uns. Wieso kann die
liberale Gesellschaft ihre Anhänger nicht mobilisieren? Wie
kommt es, dass die jungen Menschen, die gegen den Brexit
waren, nicht am Referendum teilgenommen haben? Warum
konnte Hillary Clinton ihre Anhängerschaft so viel weniger mobilisieren als Donald Trump? Wie kommt es, dass womöglich
in Frankreich Le Pen gewählt wird, weil sich sowohl die traditionelle Linke als auch die traditionelle Rechte selbst zerlegen?
Ja, warum ist das so?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir uns vor den Debatten
fürchten, die eigentlich geführt werden müssten und sie so
anderen überlassen. Etwa in Deutschland sind alle wichtigen Entscheidungen der letzten Jahre praktisch im Konsens
getroffen worden, der sich bis in die Opposition zieht, ob nun
zur Griechenlandhilfe, zu den Flüchtlingen, jetzt auch noch
zur Wahl des Bundespräsidenten. Diese Einigkeit erzeugt
natürlich ein Potential dafür, zu sagen: »Nee, finden wir aber
nicht« und damit sofort als Alternative kenntlich werden.
38
Aber wir können doch auch Debatten nicht künstlich
erzeugen. Und müssen wir nicht gerade jetzt Allianzen
bilden? Das ist doch der ständige Vorwurf: Die Linken
zerfleischen sich immer selber und verpassen es, sich
dieser rechten Strömung entgegen zu stellen. Wir müssten uns dann doch eher zusammenschließen und uns
nicht in den ewigen Debatten verlieren, ob wir etwas ein
bisschen mehr so oder so sehen.
Ja, aber die Debatten, die im Moment geführt werden, in
der Politik oder zum Teil auch im Theater, sind ja Debatten,
die vielleicht nicht an die wesentlichen Dinge rühren. Nehmen wir die letzte Silvesternacht in Köln, wo es in diesen
Tagen ausschließlich darum geht, war dieser Polizeieinsatz
gut oder nicht, hat Frau Peters von den Grünen dieses oder
jenes gesagt ...
... oder darf man Nafri sagen oder nicht ...
Ist mir erstmal vollkommen egal im Augenblick.
Aber da geht die Energie hin.
Während die eigentliche Frage, wieso eigentlich in Nordafrika die Verhältnisse so sind, dass so viele junge Leute
hierherkommen, überhaupt nicht gestellt wird – auch nach
der vorigen Silvesternacht nicht.
»Wir müssen echte Alternativen
schaffen und für Veränderungen
einstehen. Man mobilisiert
niemanden mit dem Status Quo.«
Ich habe das Gefühl, dass es gerade eine unglaubliche
Sehnsucht nach einem maskulin geprägten Führertypus
gibt. Etwas archaisch gesprochen: Die Suche nach der
harten Hand des leitenden Vaters. Schwingt da nicht gerade ein Pendel zurück zu einer patriarchalen Gesellschaft?
Ja, aber das deckt ja auch Schwächen auf. Der Freiheitsbegriff, den wir in den letzten Jahren entwickelt haben, ist
extrem individualistisch. Der meint vor allem die persönliche
Freiheit, die persönliche Lebensweise. Nichts darf eingeschränkt werden, alles muss respektiert werden, jeder muss
nach seiner Fasson selig werden. Das ist inzwischen ein
sehr detaillierter Katalog. Ich würde 90, vielleicht sogar 100
Prozent davon unterschreiben, aber wenn man Freiheit nur
als persönliche Entfaltung definiert, dann ist das zu wenig.
Wie müsste man Freiheit heute definieren, damit sie
funktioniert?
Wir reduzieren den Freiheitsbegriff sehr stark auf die
Möglichkeit des Einzelnen, zu tun, was er gerne tun möchte. Aber mir ist in diesem Kontext beispielsweise auch die
soziale Freiheit sehr wichtig, die Voraussetzung für die
persönlichen Freiheitsrechte ist. Mir ist auch die Freiheit der
Syrer wichtig, also nicht nur unsere eigene. Und die Linke
war eigentlich mal international ausgerichtet, das ist aber
komplett weg! Man sieht das doch an der mangelnden
Unterstützung von jedweder Freiheitsbewegung der Welt.
Von links kommt da gar nichts. Aber wir können Lösungen
für unsere Probleme nur finden, wenn wir auch auf andere
Länder schauen, wenn wir akzeptieren, dass wir mit allem,
was wir tun, international eingebunden sind.
»Es hat keinen interessiert, was in
der Welt passiert. Und jetzt sind wir
überrascht, dass diese Welt über
uns hereinbricht.«
Man muss sich mal an den letzten Wahlkampf erinnern, an
die Debatten zwischen Steinbrück und Merkel angesichts
dieser wirklich fundamentalen Konflikte weltweit. Syrien gab
es schon, Afghanistan, auch die Flüchtlingskrise hat es schon
gegeben, auch, wenn niemand davon wissen wollte. Aber in
den beiden Fernsehdiskussionen wurde die Außenpolitik in
drei Minuten gerade mal gestreift. Das heißt, es hat niemanden interessiert, was in der Welt passiert. Und jetzt sind wir
überrascht, dass diese Welt über uns einbricht.
Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass es eine politische Kraft gibt, die sich konsequent zu Europa bekennt, und
dass es dann meinetwegen eine politische Kraft gibt, die
sagt: »Nee, wir wollen dieses Europa aber nicht.« Dann kann
man ja streiten. Dann kann man debattieren. Aber wen könnte
man denn in Deutschland wählen, wenn man sagt, ich bin für
die Vereinigten Staaten von Europa, die im Grundgesetz doch
ganz klar anvisiert ist? Also wirklich entschieden für Europa,
damit für eine politische Union, deren Entscheidungen dann
auch demokratisch legitimiert. Oder eine Kraft, die Europa
befürwortet, aber etwa den Euro kritisch sieht – das ist nicht
meine Position, aber ich finde, sie hätte Berechtigung. Nicht
jeder, der für den Ausstieg der Griechen aus dem Euro ist, ist
deswegen schon gegen das europäische Projekt. Stattdessen
gibt es einen lauwarmen Konsens, irgendwie für Europa zu
sein, und lauter Schreihälse, die zurück zur Nation wollen.
Aber wie willst du Menschen, die gerade dabei sind,
Europa und die Globalisierung für alles Schlechte verantwortlich machen, und einem Populismus folgen, der sagt,
wir müssen uns wieder auf den Nationalstaat konzentrieren, wir müssen wieder dafür sorgen, dass es uns gut
geht und nicht den anderen – wie willst du denen ernst-
haft europäisches Denken als eine Lösung der gefühlten
Probleme anbieten?
Die leben ja genauso in einer Blase wie wir. Die haben ja
auch keinen Kontakt zu anderen Leuten, zu Flüchtlingen, zu
Ausländern, zu Muslimen. Sondern die haben nur Informationen, die ständig ihr Weltbild bestätigen, genauso wie wir
Informationen haben, die unser Weltbild bestätigen.
Gerade weil wir in diesen Informationsblasen leben, ist der
persönliche und direkte Kontakt viel wichtiger als früher. Im
persönlichen Gespräch ist sofort eine andere Stimmung da.
Niemand ändert dadurch komplett seine Meinung, aber
allein schon, dass man ins Gespräch kommt, Dinge erklärt,
Verletzungen zulässt, sich selber nicht ganz so sicher ist,
nachfragt, wie kommen Sie zu Ihrer Position? – Und es ist ja
gar nicht unbedingt notwendig, die zu überzeugen. Sondern,
dass wir auch uns selbst, also denen, die tendenziell für Europa stehen, sagen: Tut etwas für Europa, engagiert euch.
Fehlt es uns an Idealismus? Im Sinne eines wirklich utopischen Denkens?
Du wirst keine Begeisterung erzeugen, wenn du sagst, »für
den Euro«! Das ist doch absurd. Niemand wird doch für den
Euro auf die Barrikaden gehen oder kämpfen, wie man das
in Rumänien oder der Ukraine für die europäische Idee
getan hat und immer noch tut.
Warum gibt es keine Allianz der europäischen Idealisten?
Die Generation über uns hat noch existenziell erfahren,
warum Europa notwendig war. Das haben wir nicht. Aber
ich glaube, dass wir in eine Situation kommen werden, wo
wir es erfahren werden.
Wird uns das verändern?
Entweder werden wir sagen, wir wollen Europa und kämpfen dafür, oder es bricht auseinander.
Und dann?
Dann haben wir ein ziemlich düsteres Zeitalter vor uns.
Was braucht es, um aus der eigenen Blase herauszukommen? Was braucht es, damit aus dem »die« und »wir«
wieder eine gemeinsame Identität wird?
Eine ganz gemeinsame hat es ja nie gegeben, es wird immer Differenzen geben. Die Frage ist, wer gewinnt die Mehrheiten? Das ist ein Wettstreit und ich finde es im Prinzip auch
nicht verkehrt, dass es diese Parteien gibt, die sollen sich
ja formieren. Diese gesellschaftlichen Stimmen gibt es nun
mal, man kann ja nicht sagen, die darf es nicht geben. Die
sollen sich artikulieren, sonst radikalisieren die sich ja noch
39
dreivondrei | Dann fliegt der Laden auseinander
mehr. Natürlich muss man dagegenhalten und stärker sein –
hoffentlich. Ich folge deshalb derzeit dem Impuls, persönlich
hinzugehen, mit Leuten zu reden und darüber zu berichten.
Also nicht nur in die Welt zu reisen und über Afghanistan
oder Indonesien oder Afrika zu schreiben, sondern auch die
Fremde in der eigenen Lebenswelt kennenzulernen. Wirklich
mal in Milieus gehen, in denen AfD gewählt wird, zu den katholischen Nationalkonservativen in Polen, nach Osteuropa.
Dann bist Du eine Ausnahme, denn die Grundstimmung ist
nicht danach. Die Grundstimmung ist nicht nach »Wir reden
miteinander.«, sondern »Mit denen darf man nicht reden.«.
Mit Leuten, die einen beleidigen, kann man nicht reden.
Aber Menschen, die einem argumentativ begegnen, mit
denen muss man immer reden – was denn sonst? Ich bekomme ja viele Briefe, natürlich auch sehr kritische Briefe
– aber solange die Höflichkeit gewahrt bleibt, ist es völlig
in Ordnung, dann nehme ich das auch auf.
»Wenn man Freiheit nur über
persönliche Entfaltung definiert,
ist das zu wenig.«
Ich war ja letzten Sommer als Theaterleiter einem unglaublichen Druck ausgesetzt, weil wir zu einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen von Birlikte auch einen
Mitbegründer der AfD eingeladen hatten. Diese politische Korrektheit ist ein ganz merkwürdiges Hindernis in
der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Es entstehen so
viele neue Tabus, die den Blick verstellen und auch eine
Diskussion unmöglich machen.
Die Antwort auf die AfD kann doch nicht sein, alles zu verteidigen, wie es ist, und sich kollektiv hinter Frau Merkel zu
stellen, wie positiv man auch einzelne Entscheidungen von ihr
findet. Ich habe keinen Zweifel – und das würde ich wahrscheinlich von gar nicht so vielen Staatsführern sagen – an
ihrer persönlichen Integrität. Dennoch muss man doch auch
darauf hinweisen, dass in ihrer Regierungszeit enorm viel
schiefgelaufen ist, gerade mit Bezug auf das europäische Projekt oder in der Flüchtlingsfrage. Man kann nicht die Probleme nicht 15 Jahre lang ignorieren und dann innerhalb eines
Wochenendes mit einem dürren Kommuniqué alles komplett
auf den Kopf stellen und sagen, jetzt sind die Grenzen offen.
Man muss doch auch mal die Frage stellen, wie das Problem
eigentlich entstanden ist. Wie konnte es überhaupt so weit
kommen? Natürlich musste man die Gren-zen öffnen, die
Menschen liefen ja schon über die Autobahn. Aber niemand
spricht darüber, weshalb sie eigentlich losgelaufen sind. Was
war da im Sommer 2015 los, als in den Flüchtlingslagern
rund um Syrien die Lebensmittelrationen um die Hälfte ge-
40
kürzt wurden, weil die Geberländer dem Flüchtlingswerk der
Vereinten Nationen die zugesagten Gelder nicht ausgezahlt
hatten. Warum haben wir eigentlich in Syrien nichts getan, als
es noch Möglichkeiten gab, auf den Konflikt einzuwirken, als
es noch keinen IS gab, keine Dschihadisten, keine russischen
und iranischen Truppen, keine internationalen Söldner. Die
kamen ja erst nach zwei, drei Jahren.Stattdessen verschanzen
wir uns hinter dieser Willkommenskultur und sagen, wir sind
aber für Flüchtlinge und so weiter. Man kann doch nicht für
Flüchtlinge sein, sondern man kann doch nur dafür sein, dass
man versucht, Flüchtlingsursachen auch zu begegnen. Und
dazu gehört die Frage: Wieso entsteht denn Flucht?
Streng genommen kann man eigentlich überhaupt nicht
für Flüchtlinge sein, in dem Sinne, dass man natürlich
niemandem wünscht, dass er überhaupt flüchten muss.
Das meine ich. Und dabei wird überhaupt nicht mehr diskutiert,
dass man die Bundesregierung kritisieren muss für manches,
was sie in den Jahren davor getan hat. Wieso es zum Beispiel
Deutschland war, das eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Staaten über viele Jahre hinweg blockiert hat – und jetzt auf einmal danach ruft. Stattdessen diskutieren wir darüber, ob man Nafri sagen darf oder nicht.
Trotzdem erodieren doch gerade grundsätzliche Werte.
Glauben wir denn wirklich noch an das Grundgesetz, an
die Freiheit, an die Demokratie, an ein Europa? Sind wir uns
da wirklich noch so einig? Und geht nicht längst auch etwas
an gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten verloren? Wer
kauft denn heutzutage zum Beispiel noch eine Zeitung?
Das ist aber nicht nur eine Wertedebatte, sondern auch
eine Debatte des Engagierens. Am Beispiel der Zeitungen:
Einerseits klagen alle darüber, dass die Informationen
unseriös werden, und zugleich kaufen sie keine seriösen
Zeitungen und Zeitschriften, obwohl dort noch am ehesten
recherchierte, auch hintergründige Informationen zu finden
sind. Stattdessen klickt man sich im Internet durch und fragt
sich dann, warum man die Welt nicht mehr versteht.
Ja, aber ich musste doch die letzten 20 Jahre nicht darüber nachdenken, ob ich eine Zeitung abonniere oder
nicht. Die waren einfach da. Jetzt fordert mich so etwas
als Bürger plötzlich ganz ungeahnt heraus.
Aber übertrag das mal auf die Politik: Der Politiker, der nicht
die Frage des Tages stellt, sondern der wirklich überlegt, wie
wir in 20 Jahren leben wollen, also die großen und vor allem
unbequemen Fragen stellt, der würde in den Meinungsumfragen sofort ein par Prozentpunkte verlieren. Aber weshalb?
Einerseits erwarten wir, dass Politiker unpopulär sind und
nach ihrer Überzeugung handeln, und gleichzeitig bestrafen
wir sie, wenn sie es tun. Also liegt es doch nicht an den Politikern, sondern es liegt an der Öffentlichkeit, an uns.
Das Problem ist doch, dass es nicht die große intellektuelle Bewegung gibt, die jetzt Europa oder eine offene
Gesellschaft verteidigt, während der Rechtspopulismus
zunehmend eine Bewegung wird, und zwar in rasant
schnellem Tempo.
Aber es gibt doch Gegenbeispiele. Etwa in Kanada, wo
der Ministerpräsident mit einem wirklich radikalen, offenen
Programm die Mehrheit gewonnen hat. Weil er Leute für
eine Veränderung begeistert hat. Auch Bernie Sanders
hat unglaublich viele Leute mobilisiert. Das zeigt doch,
dass man auch von der anderen Seite Leute begeistern
kann, nicht nur von rechts und national. Wenn man eine
Vision entwickelt, die nicht nur auf ein bloßes Weiter-so
ausgerichtet ist, und ernsthaft darüber nachdenkt, wie wir
in Zukunft leben wollen, dann kann man Leute, gerade die
jungen Leute, begeistern. Das erlebe ich auch, wenn ich in
Schulen gehe. Aber man kann eine globale europäische
Bewegung nicht per Dekret bestimmen. Man muss sich
überlegen, wieso ist denn das so wenig attraktiv, was dieser Politikbetrieb normalerweise so auswirft? Wieso gehen
die Leute nicht in Parteien?
Wobei wir jetzt erleben, dass die Parteien gerade mehr
Zulauf haben als vor der Wahl von Trump.
Foto David Baltzer
Weil die Menschen merken, jetzt bewegt sich etwas. Die
Chiffre für das, was du offene Gesellschaft nennst, ist für
mich schon seit langem Europa. Und zwar ein Europa,
das die europäische Idee aus diesem pragmatischen, auf
die Ökonomie reduzierten Modell rausbringt und wirklich
wieder als Idee begreift, wie wir leben möchten. Das kann
eine politisch linke oder rechte Begründung für Europa sein,
die entschiedenen Europäer gab und gibt es auf beiden
Seiten des politischen Spektrums, aber beruht auf einer
langen geistesgeschichtlichen Entwicklung sowie auf den
realen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen und Völkermord.
Was braucht es, damit das entsteht?
Wir sind in einer Situation, in der Europa wirklich auseinanderbrechen könnte. Wenn Marine Le Pen gewählt wird, wird die europäische Union das mit ziemlicher Sicherheit nicht überleben.
Das heißt, wir sind an einem Punkt, wo Europa, in der Form, wie
es nach dem Krieg entstanden ist, womöglich in fünf oder zehn
Jahren nicht mehr existiert. Und das wäre eine Katastrophe.
Zumal andere Konstanten ja auch nicht mehr existieren. Amerika existiert als Teil einer Wertegemeinschaft so nicht mehr,
Russland agiert zunehmend autoritär und aggressiv. Das Zweite
ist die Frage der, wenn man so will, Weltinnenpolitik. Es ist existentiell, zu begreifen, dass das, was woanders stattfindet, uns
unmittelbar betrifft. Wir sind nicht isoliert von dem, was in Aleppo stattfindet. Oder von dem, was in Afghanistan oder Afrika
stattfindet. Was ist da eigentlich los, außerhalb unserer gated
community? Diesen Einbruch der Wirklichkeit festzustellen, die
Wirklichkeit dann aber auch nicht nur in Form der Flüchtlinge,
die uns erreichen, wahrzunehmen, sondern in Form der Welt,
aus der sie fliehen, und fliehen werden. Zu überlegen, was
bedeutet das, was kann man jetzt noch tun? Nicht nur in Bezug
auf die Kriege. Etwa dass Jahr für Jahr fruchtbares Land in der
Größe der Schweiz aufgrund des Klimawandels versteppt. Das
sind ja wirklich gewaltige Fragen, die wichtiger sind als das,
was wir täglich in den Medien diskutieren. Und das Dritte ist,
dass wir nochmal die soziale Frage in den Blick nehmen müssen. Wir haben ein Wirtschaftsmodell, das einige wenige in den
letzten Jahrzehnten explosionsartig reich gemacht hat. Dieser
Reichtum befindet sich in immer weniger Händen. Wie gesagt,
in Deutschland ist das noch einigermaßen abgefedert, aber
weltweit ist das dramatisch! Wir erleben den Wegfall der Mittelschicht. Die Mittelschicht steht aber für eine Zivilgesellschaft,
die etwas hervorbringt: Partizipation, kulturelle Bildung, all das,
und die bricht weg. Und dann fliegt der Laden auseinander.
Das sind, glaube ich, die drei großen oder meinetwegen drei
der großen Fragen. Die Antworten habe ich nicht, aber es wäre
schon mal gut, wenn wir die richtigen Fragen stellen.
Ansichten eines clowns von Heinrich Böll | Regie Thomas Jonigk
Die Stadt von
Morgen
Was hält die Stadtgesellschaft zusammen?
Wer bestimmt über den öffentlichen Raum?
Und wie sieht die Stadt aus, in der wir zukünftig leben wollen?
Im Rahmen des zweijährigen Projektes DIE STADT VON DER ANDEREN SEITE SEHEN beschäftigt
sich das Schauspiel Köln mit der Stadt von morgen und befragt Bewohner, Künstler und Stadtplaner nach ihren Perspektiven, Träumen und Visionen. Unter der Mülheimer Brücke haben wir zum
Ende der letzten Spielzeit in einem ehemaligen Bauwagen eine Dependance eröffnet, die als
Ankerpunkt im Stadtteil wirkt. Hier entsteht im Juni auch das Zentrum eines fünftägigen Festivals,
mit dem das Stadtprojekt ein vielstimmiges und buntes Finale erlebt.
Illustrationen Labor Fou | Fotos Mirko Plengemeyer
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Eine Agora unter der Mülheimer Brücke
Das Stadtzentrum wird in der Regel dort verortet, wo sich die
meisten Geschäfte aneinanderreihen. Wo aber ist der Platz
in der Stadt, an dem das gesellschaftliche Leben stattfindet?
Wo wir uns treffen? Miteinander in Verhandlung treten? Ins
Gespräch kommen? Und wenn wir einen solchen Ort schaffen
könnten, wie sähe er aus? Unser Festivalzentrum bezieht Quartier unter der Mülheimer Brücke – da, wo einst das historische
Zentrum Mülheims lag und wo jetzt eine vierspurige Brücke
einen gewaltigen Bogen auf die andere Rheinseite schlägt.
Nicht erst mit der anstehenden Sanierung der Brücke ist der
Platz ein Ort der Transformation geworden – ein Durchgangsort, der nicht gerade zum Verweilen einlädt. Genau hier wird
das Festivalzentrum entstehen und diesen Ort beleben und
umdeuten – als Treffpunkt, als Raum für Diskussionen, Performances, Lesungen und Konzerte. Von hier aus werden wir
auch auf Expeditionen durch den Stadtteil aufbrechen.
Gestaltet und gebaut wird das Festivalzentrum von Studierenden der Abteilung raum&designstrategien der KUNSTUNIVERSITÄT LINZ zusammen mit dem Professor, Stadtplaner und
Künstler Ton Matton. Anschließend werden die Studierenden
den Ort beziehen und als Gastgeber und Selbstversorger fungieren – eine temporäre Infrastruktur errichten, zu Kochevents
einladen und von einer Nachrichtenstelle Botschaften auf die
andere Rheinseite schicken.
Komplizenschaften bilden
Damit die Stadt, in der wir zukünftig leben wollen, Gestalt
annimmt, bedarf es Komplizenschaften und der gemeinsamen Arbeit. Mit dem Künstlerkollektiv Labor Fou / Knüvener
Architekturlandschaft, der Theatergruppe subbotnik und
dem Künstler- und Kuratorenduo Markus Ambach und Kay
von Keitz haben wir Verbündete gefunden, die den urbanen
Raum immer wieder zum Schauplatz und Ausgangspunkt
ihrer Arbeiten machen. Drei Komplizenschaften, drei unterschiedliche Perspektiven auf die Stadt von Morgen. Und drei
Einladungen, das Projekt und die Stadt aktiv mitzugestalten.
Labor Fou / Knüvener Architekturlandschaft: Raumfähre
Das Künstlerkollektiv Labor Fou nimmt sich gemeinsam mit
dem Landschaftsarchitekten Thomas Knüvener einem in Köln
heiklen Thema an: der Fortbewegung im öffentlichen Raum.
Doch statt in die üblichen Tiraden über notorisch verstopfte Straßen und verspäteten Nahverkehrs einzustimmen,
entwickeln sie eine unkonventionelle Perspektive auf das
Thema Mobilität und schaffen ein neues Verkehrsmittel samt
Infrastruktur: eine Raumfähre, die mehrmals täglich auf dem
Rhein verkehrt und Schauplatz für Veranstaltungen wird.
Wenn Sie sich an dem Bau des Anlegers für die Fähre beteiligen wollen, wenden Sie sich bitte an Thomas Knüvener unter
[email protected]
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Markus Ambach und Kay von Keitz:
Mülheimer Wunderkammer
Markus Ambach und Kay von Keitz machen sich auf zur
Entdeckung Köln-Mülheims. In Anlehnung an das Prinzip der
»Wunderkammern«, in der Forscher und Pioniere Fundstücke
ihrer Gegenwart versammelten und in einen Kontext brachten, bewegen sie sich durch den Stadtteil und schaffen eine
eigene Mülheimer Wunderkammer. Während des Festivals
wird aus einem für Mülheim typischen Ladenlokal ein »Museum der Stadt«. Von hier aus starten Spaziergänge, die Vorgefundenes und Erfundenes aufgreifen und scheinbar bekannte
Wege und Plätze in einem neuen Licht zeigen.
Wenn Sie Gegenstände und Erzählungen zur »Mülheimer
Wunderkammer« beitragen möchten, wenden Sie sich bitte
an MAP-Markus Ambach Projekte unter
[email protected]
subbotnik: Einweg-Oper DIE TROMPETEN VON JERICHO II
Jede Stadt hat nicht nur ihre eigenen Geschichten, Gesichter, Farben und Gerüche, sondern auch ihre individuellen
Geräuschkulissen. Für die Fortsetzung ihrer Einweg-Oper DIE
TROMPETEN VON JERICHO werden sich subbotnik wieder
aufmachen und den Stadtteil belauschen und befragen. Das
Ergebnis ihrer akustischen Recherche wird als Zusammenspiel von Wort, Bild und Geräusch während des Festivals uraufgeführt. Auf der Bühne unter der Mülheimer Brücke führen
subbotnik das Geräuschmaterial zusammen: Sie entwickeln
assoziativ Geschichten, musizieren und komponieren Live-Geräuschkulissen. Am Ende steht eine große Erzählung – nicht
nur über den Stadtteil und seine Bewohner, sondern auch
über den vielstimmigen Möglichkeitsraum Stadt.
Ab April möchte subbotnik in einen wöchentlichen Austausch
mit interessierten Bewohner Mülheims treten. Wenn Sie Bilder
für die Oper beisteuern oder mitmusizieren möchten, wenden
Sie sich bitte an Oleg Zhukov unter [email protected]
Koproduktion
Die Szenischen Forscher und Künstler aus unseren Kooperationen mit der Ruhr-Universität Bochum und der Kunsthochschule für Medien Köln entwickeln spezifische künstlerische
Arbeiten für das Grande Finale.
Open Call »Die andere Seite«
Im Juni vergangenen Jahres haben wir Künstler und Stadtforscher eingeladen, Projekte zum Thema »Die andere Seite«
zu entwickeln. Eine Experten- und Publikumsjury hat drei
Arbeiten ausgewählt, die während des Festivals präsentiert
werden. Alle drei prämierten Projekte entwerfen neue Ideen
für das Zusammenleben in der zukünftigen Stadtgesellschaft.
»Die Stadt ist das jeweilige Resultat von technischen, ökonomischen,
sozialen und kulturellen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, Ansprüchen und Vorstellungen – als
manifeste Materialisierung und
zugleich als lebendiger Organismus. Die Rolle der Kunst in diesem
Gefüge genauer zu betrachten und
sie auch aktiv ins Spiel zu bringen,
kann für alle Beteiligten eine ebenso spannende wie produktive
Angelegenheit sein.«
(Kay von Keitz)
Mülheimer Zukunftskiste – Gewinner der Expertenjury
Dana Kurz, Nikolaus Hillebrand, Kyne Uhlig und Ulrike Rhode
haben eine mobile Trickfilmwerkstatt entwickelt, die auf
einem Lastenfahrrad durch den Stadtteil tourt und die Anwohner einlädt, ihre Wünsche und Visionen für eine Stadt von
morgen festzuhalten. Der fertige Trickfilm wird an unterschiedlichen Orten im Stadtteil gezeigt.
Zwei Seiten einer Fassade – Gewinner der Expertenjury
Studierende des Lehrstuhls für Gebäudelehre und Grundlagen des Entwerfens der RWTH Aachen haben sich im Rahmen einer Forschungsarbeit mit Mülheimer Cafés und deren
Fassaden beschäftigt. Im Rahmen des Festivals werden
Spaziergänge zu den untersuchten Orten angeboten und mit
den gewonnenen Erkenntnissen eine Fassadeninstallation für
eines der Cafés gebaut.
Dienst ohne Vorschrift – Gewinner der Publikumsjury
In einer performativen Installation verwandeln Armin Nagel,
Claudia Saar, Frank Böhle, Jean Marc Lehmann und Chris
Mersmann die Wartehalle im Bürgeramt Mülheim in ein
Service-Paradies. In Zusammenarbeit mit Bürgern und einem
Kölner Kommunikationsdienstleister erfinden sie außerdem
eine himmlische Service-Hotline für das Amt.
Wenn Sie im Rahmen eines Workshops gemeinsam mit den
Künstlern Ideen für die Halle und die Hotline entwickeln
möchten, wenden Sie sich bitte an [email protected]
Das ausführliche
Programm erscheint im
Mai – bereits jetzt anmelden unter
www.stadtsehen.koeln
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GEMEINSAM GRÖSSER DENKEN
Ein Gespräch mit Eva-Maria Baumeister und Isabel
Finkenberger, die das Stadtprojekt künstlerisch leiten
und kuratieren.
Das Stadtprojekt, angelegt über zwei Jahre, geht dem
letzten Halbjahr entgegen. Was hat euch bisher besonders beeindruckt?
Eva Baumeister: Ich habe den Menschen in Bezug auf die
Stadt, in der sie leben, eine gewisse Gleichgültigkeit unterstellt. Es gibt aber eine große Bereitschaft, sich zu beteiligen,
zu engagieren und die Stadtgesellschaft mitzugestalten!
Isabel Finkenberger: Sehr spannend finde ich, wie komplex
»Stadtmachen« sein kann. Es gibt zahlreiche Ebenen – strategisch, vor Ort, mittendrin und abstrakt – unglaublich viele Erfahrungen und ein breites Wissen, wie die unterschiedlichen
Stadtmacher in Mülheim agieren und sich einmischen.
»Zukünftig wollen wir in einer
Stadt leben, die den Menschen
angepasst ist, nicht den Autos. In
der Veränderungen von unten heraus
passieren und nicht von oben diktiert
werden. Eine Stadt, die mehr ist als
nur Shopping und Restaurants.
Eine Gemeinschaft, die immer
wieder neu verhandelt wird.«
(Thomas Quack, Labor Fou)
Und was können wir bis Juni noch erwarten?
Eva Baumeister: Unser Bauwagen am Wiener Platz wird
bis Juni unser Verbindungsort zum Stadtteil sein: Hier finden
Performances und kleine Diskursrunden statt, die alle auf
das Grande Finale im Juni hinarbeiten. Zudem gibt es im
Rahmen unserer Komplizenschaften Workshops, an denen
man sich beteiligen kann.
Isabel Finkenberger: Neben den sehr konkreten Veranstaltungen sind wir von Anfang an dabei, die vielschichtigen
Erfahrungen und Erkenntnisse miteinander in Beziehung zu setzen und zu bündeln. Dies geschieht nicht immer sichtbar, wirkt
sich aber ganz konkret auf den angestoßenen Prozess und
die Programmierung des Projektes aus. Wir sind außerdem
nicht alleine mit dem Thema Stadt und den dort immanenten
Themen unterwegs. Warum also nicht zusammen mit den
vielen Verbündeten weiterdenken, auch über Juni hinaus?
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»Bei der Performance ›Trompeten
von Jericho I‹ haben wir einen
spektakulären Spielort entdeckt:
eine Naturbühne aus Beton, direkt
unter der Mülheimer Brücke. Über
uns der Großstadtverkehr, unten
der Blick auf den Rhein. Urban und
poetisch zugleich. Die Sicht auf die
andere Rheinseite wird rechts und
links eingerahmt von zwei mächtigen Stahlpfeilern. Wie ein Bilderrahmen in einem Breitbandformat,
der den Fokus schärft.«
(Oleg Zhukov, subbotnik)
IMPULSE
am Schauspiel Köln
Das IMPULSE Theater Festival versteht
sich als Plattform für das freie Theater im
deutschsprachigen Raum. Im Juni wird auch das Schauspiel
Köln zum Spielort ausgewählter Produktionen. Drei Fragen an
den künstlerischen Leiter Florian Malzacher.
Wie würden Sie die künstlerische Ausrichtung des Festivals
beschreiben?
Wir laden jedes Jahr rund zehn herausragende Produktionen
des freien Theaters aus dem deutschsprachigen Raum ein.
Diese Arbeiten zeichnet vor allem aus, dass sie sehr unterschiedliche ästhetische Ansätze haben – eine wirklich große
Bandbreite an künstlerischen Möglichkeiten, die Welt zu sehen.
Hat sich euer Blick auf die Stadt und den Stadtteil Mülheim
durch das Projekt verändert? Und inwiefern?
Gibt es eine inhaltliche bzw. thematische Klammer der
ausgewählten Produktionen?
Isabel Finkenberger: Mülheim selbst ist unglaublich interessant, vielleicht einer der spannendsten Stadtteile in Köln
im Moment. Sicherlich auch, weil hier gerade besonders
viele Themen verhandelt werden und die Transformation
besonders sichtbar ist – und weil dieses Stück Stadt eben
dadurch auch besonders fragil ist.
Wir haben in den letzten Jahren einen sehr klaren Fokus
auf das Verhältnis von Theater und Politik gelegt. Denn
wir sind überzeugt, dass Theater ein immens politisches
Potential hat. Dieses Potential liegt aber nicht allein in den
Inhalten und Themen, sondern auch in der Form, wie wir
zusammenkommen: Für Impulse ist Theater ein öffentlicher
Raum, in dem gegensätzliche Positionen verhandelt, aber
auch ausgehalten werden können. An dieser Stelle werden
wir weitermachen: Die Brexit-Entscheidung kam mitten im
letzten Festival, inzwischen ist Trump in den USA zum Präsidenten gewählt worden. Da stellt sich doch die Frage: Wie
entscheiden wir? Was sind die Grenzen der Demokratie?
Ihr habt mit einigen Künstlern sehr eng zusammengearbeitet und tut das auch im nächsten halben Jahr auch
weiter. Warum habt ihr euch diese »Komplizen« gewählt?
Eva Baumeister: Wichtig bei der Auswahl der Künstler war,
dass sie aus verschiedenen Bereichen oder Genres kommen und dass sie in ihrer Herangehensweise entweder vom
Stadtkontext inspiriert sind oder ganz konkret in Stadtgestaltung
eingreifen. Die Gruppe subbotnik etwa kommt aus dem Theater und arbeitet mit Musik und Geräuschen als Hauptelement
ihrer Stücke. Material für ihre Geschichten und Texte beziehen
sie direkt aus dem »Abhören« oder »Belauschen« der Stadt und
ihrer Bewohner. Labor Fou – in unserem Projekt gemeinsam
mit Knüvener Architekturlandschaft – baut, oft gemeinsam mit
den Bewohnern, ganz konkrete Installationen oder Mobile, die
Themen und Bedürfnisse des Stadtteils aufgreifen, und Markus
Ambach und Kay von Keitz gehen direkt auf die Bewohner und
Orte des Stadtteils zu und sammeln deren Geschichten.
Isabel Finkenberger: In der Zusammenschau der Projekte,
Inszenierungen und Interventionen ergibt sich ein sehr vielschichtiges Bild auf das Thema Stadt – genau das wollen wir!
Im Rahmen von IMPULSE werden in diesem Jahr auch
einige Produktionen im Schauspiel Köln gezeigt. Über
die Beziehung Stadttheater und freie Szene wird viel und
kontrovers diskutiert. Wie sehen Sie das? Braucht es eine
Abgrenzung?
Für mich ist es produktiv, sowohl die Gemeinsamkeiten
als auch die Unterschiede deutlich zu machen. Wir wollen
ja alle eine möglichst vielfältige Kunst. Manchmal ist ein
Stadttheater der perfekte Partner für eine freie Gruppe –
manchmal aber eben auch nicht. In diesem Jahr arbeiten
wir bzw. die beteiligten Künstler mit einem Kunstverein, mit
dem WDR, mit einem Barock-Ensemble, einem Statistischen
Amt, einem Altersheim und mit dem Schauspiel Köln zusammen. Ich denke, unsere gemeinsamen Zuschauer werden
interessante Querverbindungen entdecken – aber auch
Gegensätze. Auf beides sind wir sehr gespannt.
Das IMPULSE Festival findet vom 22. Juni bis 01. Juli 2017 statt.
Mehr Informationen unter www.festivalimpulse.de
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Spielstätten
depot
Depot 1, Depot 2 und Grotte im Carlswerk in Köln-Mülheim
Schanzenstraße 6-20 | 51063 Köln-Mülheim
OFFENBACHPLATZ
Außenspielstätte am Offenbachplatz | 50677 Köln
Kartenservice in den
Opernpassagen
PREISE
Kooperationspartner
Depot 1:Je nach Preis- und Platzgruppe kostet eine Karte
zwischen 10 und 39 Euro.
Depot 2: 17 Euro | 22 Euro (Premierenpreis)
Grotte: 5 Euro
Außenspielstätte am Offenbachplatz: 17 Euro | 22 Euro
Schüler und Studenten zahlen nur 7 Euro auf allen Plätzen in
allen Spielstätten (außer Gastspiele u. Sonderveranstaltungen).
KARTEN
Den Karten- und Aboservice finden Sie in den Opernpassagen zwischen Breite Straße und Glockengasse.
Öffnungszeiten Theaterkasse
Mo bis Fr von 10 bis 18 Uhr, Sa von 11 bis 18 Uhr
Kulturpartner
Tickets gibt es außerdem unter www.schauspiel.koeln,
über die Tickethotline 0221-221 28400 oder per Mail an
[email protected]
ABO-SERVICE
Ihre persönliche Aboberaterin Frau Susanne Müller erreichen
Sie unter [email protected] oder unter der
Abo-Hotline 0221-221 28240. Ausführliche Informationen zu
unseren Abonnements finden Sie unter www.schauspiel.koeln
Das Schauspiel Köln wird gefördert von
Einzelne Produktionen und Projekte werden gefördert von
IMPRESSUM
Herausgeber Schauspiel Köln / Intendant Stefan Bachmann
Geschäftsführender Direktor Patrick Wasserbauer /
Redak­tion Intendanz · Dramaturgie · Öffentlichkeitsarbeit
und Künstlerisches Betriebsbüro / Konzept, Satz und Gestaltung ambestengestern.com / Druck Köllen Druck und Verlag GmbH / Auflage 40.000 / Redaktionsschluss 20.02.2017
Änderungen vorbehalten.
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Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bühnen Köln finden Sie unter
www.schauspiel.koeln im Menüpunkt »Karten«. Die angegebenen Preise
verstehen sich zzgl. 10 % Vorverkaufsgebühr.
Wir wollen
Plankton sein
von Julian Pörksen
Regie Melanie Kretschmann
Uraufführung 11. März 2017 | Aussenspielstätte am Offenbachplatz
www.schauspiel.koeln
7
Produktionen
in der AuSSenspielstätte
am Offenbachplatz
Karnickel
Kleines
von Hannah Moscovitch
Wir wollen Plankton sein
von Julian Pörksen
von Dirk Laucke
Mohamed Achour
erzählt Casablanca
von petschinka und Rafael Sanchez
Sprengkörperballade
von Magdalena Schrefel | Uraufführung am 21. April 2017
Geächtet
von Ayad Akhtar | Premiere am 24. Mai 2017
Swallow
von Stef Smith
Alle Termine finden Sie unter www.schauspiel.koeln
Foto Tommy Hetzel
»Es gibt keinen schlimmeren
Ort als die Realität.«
Spielzeit
2016 /17
Faust
Das
Theaterevent
FAUST I und FAUST II
inklusive Abendessen
am 07.05., 03.06.
und 11.06.17
Faust I und Faust II
Regie Moritz Sostmann
Mehr Infos unter www.schauspiel.koeln
Foto Jez Timms
von Johann Wolfgang von Goethe
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