Trias: Wörterbuch Multiple Sklerose

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Günter Krämer
Wörterbuch Multiple Sklerose
Der Autor
Dr. med. Günter Krämer ist Facharzt für Neurologie und ist
seit 1994 Medizinischer Direktor des Schweizerischen Epilepsie-Zentrums in Zürich. Neben wissenschaftlichen Aktivitäten und Mitgliedschaften in vielen nationalen und internationalen Fachgesellschaften (seit 2001 Präsident der
Schweizerischen Liga gegen Epilepsie) hat er sich seit vielen Jahren besonders für die Patienteninformationen bei
Epilepsien und anderen chronischen neurologischen
Krankheiten (Multiple Sklerose und Alzheimer-Krankheit)
engagiert.
Dr. med. Günter Krämer
Wörterbuch
Multiple Sklerose
Medizinische Fachbegriffe verständlich erklärt
Inhalt
Zu diesem Buch
5
Was ist Multiple Sklerose (MS)?
6
Wie häufig ist MS und wann beginnt sie?
8
Was sind die wichtigsten Untersuchungen?
10
Was sind die wichtigsten Medikamente zur MS-Behandlung?
11
Wo kann man sich über MS erkundigen?
15
Abkürzungsverzeichnis
19
Fremd- und Fachwörter-ABC
42
Bücher zum Weiterlesen
198
Grußwort
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wir freuen uns, Ihnen hiermit die 5. Auflage des
„Wörterbuches Multiple Sklerose“ präsentieren
zu können. Mit diesem Werk möchten wir Sie
und Ihre Angehörigen dabei unterstützen, die
MS noch besser zu verstehen. Mit einem ausführlichen Fachwörterlexikon finden Sie Antworten auf Fragen, die bspw. bei der Lektüre eines Arztbriefes entstehen können. Fachbegriffe
werden verständlich erläutert und sind schnell
zu finden. Außerdem erfahren Sie in diesem
Buch mehr über die Häufigkeit der MS und erhalten Informationen zu den wichtigsten Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten.
4
Mein herzlicher Dank geht an Herrn Dr. Günter Krämer, der es uns ermöglicht hat, dieses
einmalige Werk noch einmal neu zu verlegen
und zu aktualisieren.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und bin mir
sicher, dass Sie die Informationen in diesem
Wörterbuch gut nutzen können.
Herzliche Grüße
Helmut Schmid, Direktor Marketing
TEVA Pharma, Deutschland
Mörfelden-Walldorf, 2012
Zu diesem Buch
Hiermit erscheint die fünfte Auflage dieses
Wörterbuches für direkt oder indirekt von einer
Multiplen Sklerose (MS) Betroffene und interessierte Laien. Dieser Band hat seinen Ursprung in
dem von mir Ende der 80-er Jahre gemeinsam
mit meinem früheren Oberarzt-Kollegen an der
Neurologischen Universitätsklinik in Mainz (Roland Besser) geschriebenen Buch »MS – Informationen für Betroffene und Interessierte«, das inzwischen (2006) in der 6. Auflage erschienen ist.
In die 2. Auflage hatte ich erstmals ein ausführliches Fachwörterverzeichnis aufgenommen,
das später u. a. auch in ein anderes TRIAS-Buch
(Eva Maida: Der MS-Ratgeber, 1. Auflage 1993)
übernommen wurde. Bei der Fertigstellung der
3. Auflage unserer MS-Informationen zeigte sich
dann, dass ein nochmals erweitertes Fachwörterverzeichnis den Rahmen sprengen würde.
Deshalb erfolgte eine eigenständige und die
anderen Bücher ergänzende Veröffentlichung.
Das Buch ist aufgrund der Erfahrung mit
MS-Betroffenen entstanden, die oft sehr an ihrer Krankheit interessiert sind und möglichst
gut Bescheid wissen wollen, um besser mit
den damit verbundenen Problemen umgehen
zu können. Erfreulicherweise gibt es auch eine
Reihe von verständlich geschriebenen Broschüren und Büchern über MS, die weitgehend auf
Fachausdrücke verzichten oder diese erklären.
Spätestens beim Lesen von Arztbriefen oder von
Beipackzetteln der Medikamente tauchen aber
unverständliche Ausdrücke auf, die oft auch in
den üblichen medizinischen Wörterbüchern
hinsichtlich der Besonderheiten bei MS nicht
oder nicht richtig erklärt sind.
Hier will das vorliegende Buch Abhilfe schaffen. Nach einigen kurzen einleitenden Informationen zur Häufigkeit der MS sowie zu den
wichtigsten Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten werden die häufigsten Begriffe
erläutert, die im Zusammenhang mit einer MS
auftauchen. Die Auswahl der Begriffe wird sicherlich dem einen oder anderen Leser zufällig und ergänzungsbedürftig erscheinen, und
ziemlich sicher haben sich – wie in jedem Buch
– auch Unklarheiten oder gar Fehler eingeschlichen. Daher bitte ich ausdrücklich um kritische
Zuschriften mit Verbesserungsvorschlägen für
weitere Auflagen.
Mein Dank geht zunächst an die Patientinnen und Patienten mit MS und deren Partner
beziehungsweise Angehörige, von denen ich für
dieses Buch viele Anregungen bekommen habe.
Wie immer danke ich ganz besonders auch meiner Frau Doris, unserer Tochter Judith und unserem Sohn Dirk; sie wissen schon wofür.
Zürich, im Juni 2012
Günter Krämer
5
Was ist Multiple Sklerose (MS)?
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche
und degenerative Erkrankung, bei der das körpereigene Abwehrsystem Zellen in Gehirn, Rückenmark und den Sehnerven, kurz im Zentralnervensystem (ZNS) schädigt. Die Erkrankung
verläuft von Patient zu Patient sehr unterschiedlich; ihre Ursache ist noch nicht vollkommen
aufgeklärt. Durch entzündliche Veränderungen
an verschiedenen Stellen des Zentralnervensystems im Rahmen von Autoimmunprozessen
kommt es zur Entstehung von Narben im Gewebe und entsprechenden Funktionsstörungen.
Neben diesen entzündlichen Veränderungen
kristallisiert sich zunehmend heraus, dass auch
sogenannte degenerative (mit einem Zelluntergang verbundene) Veränderungen eine Rolle
spielen. Diese sind nicht nur mit einem Verlust
von Myelin, der schützenden Markscheide der
Nervenzellfortsätze (Axone) in der sogenannten
weißen Substanz, verbunden, sondern parallel
mit dem Untergang der Axone selbst.
Eine MS beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und betrifft Frauen häufiger als Männer. Ausmaß und Schwere der Krankheitszeichen schwanken sowohl zwischen Betroffenen
als auch im jeweiligen Verlauf erheblich, sodass
es zumindest über längere Zeit betrachtet keine
zwei Menschen mit MS gibt, deren Beschwerden und Verlauf völlig übereinstimmen. Zu den
möglichen Symptomen gehören unter anderem
Sehstörungen, Taubheits- und Kribbelgefühle (=
Sensibilitätsstörungen) oder Lähmungen, die oft
nur »anfallsartig« auftreten. Man spricht dann
von einem Schub. Bei den meisten Betroffenen
bilden sich die Symptome zumindest anfangs
vollständig zurück, bei wenigen kommt es von
Anfang an zu einer schleichenden Verschlechterung. Im Verlauf klagen viele Betroffene un-
Tab. 1: Einige wichtige Merkmale der Multiplen Sklerose (MS)
Die MS betrifft das Zentralnervensystem (ZNS).
Es handelt sich um eine sogenannte Autoimmunkrankheit, deren genaue Ursache und Auslösung bislang
unbekannt sind.
Es kommt zu entzündlichen Herden mit narbiger Abheilung und entsprechenden Funktionsstörungen.
Die Veränderungen treten an mehreren Stellen des ZNS auf.
Der Krankheitsbeginn ist am häufigsten im frühen Erwachsenenalter; Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer.
Die Beschwerden entwickeln sich weitgehend unvorhersehbar.
Neben Krankheits-»Schüben« mit mehr oder weniger vollständiger Rückbildung sind langsam zunehmende Störungen mit bleibender Behinderung möglich.
Bislang kann keine Untersuchungsmethode beim lebenden Menschen eine MS absolut zweifelsfrei nachweisen oder ausschließen; weder zu Beginn noch im späteren Verlauf.
Die Diagnose wird anhand des Krankheitsverlaufs und der Befunde von Zusatzuntersuchungen mit mehr
oder weniger großer Sicherheit gestellt. Zur Prüfung einer Verdachtsdiagnose stehen Ärzten die sogenannten MC-Donald-Kriterien zur Verfügung.
Es gibt bislang keine Möglichkeit einer Impfung oder Vorbeugung.
Eine Heilung ist zwar bislang ebenfalls nicht möglich, durch neue Medikamente kann der Verlauf aber
günstig beeinflusst werden.
Die MS hat keinen nennenswerten Einfluss auf die Lebenserwartung.
6
Was ist Multiple Sklerose (MS)?
ter anderem auch über eine vermehrte Müdigkeit, Blasenstörungen oder sexuelle Störungen. Bei allen Patienten, unabhängig von den
Symptomen, ist die zugrundeliegende Entzündung im ZNS jedoch ein chronisch-fortschreitender Prozess. Gerade in der symptomfreien
Zeit zwischen den Schüben zweifeln viele Betroffene an der Notwendigkeit der Therapie
– diese sind jedoch nur Spiegelbild von ca.
10–20 % der Krankheitsaktivität. 80–90 % der
Schädigung von Nervenzellen geschieht, ohne
dass der Patient und der Arzt deutliche klinische
Anzeichen dafür bemerken können.
Die feingeweblichen Veränderungen bei MS
bestehen in zahlreichen (= multiplen), entzünd-
lichen und sich später narbig zurückbildenden,
verhärteten Herden (= Sklerose). Die Beteiligung
des Nervensystems bei der MS erfolgt an vielen
weit verstreuten Stellen (= disseminiert). Darauf
bezieht sich die oft verwendete Ersatzbezeichnung als »Encephalomyelitis disseminata« oder
kurz »E. d.« beziehungsweise »ED«. Das Wortende »… itis« drückt wie bei anderen Krankheiten
(z. B. Bronchitis, Gastritis) aus, dass es sich um
eine Entzündung handelt. Der gleichzeitig beobachtete Zelluntergang (Degeneration) spielt
eine ganz wesentliche Rolle bei der Ausbildung
von bleibenden Funktionseinschränkungen. In
Tabelle 1 sind einige grundlegende Aussagen zur
MS zusammengefasst.
7
Wie häufig ist MS und wann beginnt sie?
Die MS ist die häufigste neurologische Krankheit, die im frühen und mittleren Erwachsenenalter zu bleibender Behinderung führt und die
häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung
des Nervensystems. Weltweit sind ca. zwei Millionen Menschen betroffen. Das Erkrankungsrisiko MS ist in verschiedenen Ländern und
Regionen unterschiedlich und vom Geschlecht
abhängig: Am Äquator ist MS seltener als in
nördlichen oder südlichen Breiten, Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Raucher
haben ein höheres Risiko als Nichtraucher. Die
Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr (Inzidenz)
bezogen auf die Gesamtbevölkerung liegt in
den deutschsprachigen Ländern etwa bei fünf
bis sechs pro 100 000 Einwohnern. Bei rund 80
Millionen Einwohnern sind dies in Deutschland
etwa 4500 neue MS-Erkrankungen pro Jahr. In
Österreich und der Schweiz ergeben sich entsprechend jeweils rund 350 bis 400 Neuerkrankungen pro Jahr.
Die Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt
von einer Störung oder Krankheit betroffenen
Menschen wird als Prävalenz bezeichnet. Sie
wird neben der Zahl an Neuerkrankungen durch
die Krankheitsdauer bestimmt. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird durch eine
MS kaum verkürzt, sodass die meisten Betroffenen viele Jahrzehnte mit ihrer Krankheit leben.
Die MS-Prävalenz wird in den deutschsprachigen Ländern auf rund 150 Kranke pro 100 000
Einwohner oder ein bis zwei Betroffene auf
1000 Einwohner geschätzt. Für Deutschland
entsprechen dem insgesamt etwa 120 000 Menschen mit MS, für Österreich und die Schweiz
jeweils etwa 10 000 Menschen. Da die Zeit bis
zur Diagnose durchschnittlich 3,4 Jahre beträgt,
viele Patienten also lange undiagnostiziert sind,
liegen die tatsächlichen Zahlen wahrscheinlich
noch höher. Dafür spricht auch, dass im Rahmen
einer Studie bei einem von 500 Menschen, die
aus anderen Gründen verstorben waren, und
keine diagnostizierte MS hatten, mikroskopisch
die typischen Veränderungen einer MS im Gehirn nachzuweisen waren.
Bei rund der Hälfte der Betroffenen beginnt
die MS vor dem 30. Lebensjahr und bei jeweils
etwa 20 % zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr beziehungsweise zwischen dem 40. und
55. Lebensjahr. Etwa 90 % der MS-Erkrankungen
werden im Altersbereich zwischen 15 und 60
Jahren festgestellt. Das statistisch gesehen »bevorzugte« häufigste Erkrankungsalter an MS
liegt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr mit
einem Gipfel um das 30. Lebensjahr herum (siehe Abb. 1). Ein erstes Auftreten bei Kindern bis
zum 15. Lebensjahr und jenseits des 60. Lebensjahres ist vergleichsweise selten. Dennoch muss
Frauen
Häufigkeit
Männer
0
10
20
30
Alter (Jahre)
8
40
50
60
Abb. 1: Durch­
schnittliches
­Erkrankungsalter
an MS
Wie häufig ist MS und wann beginnt sie?
auch bei Kindern (siehe nächster Abschnitt) und
im höheren Lebensalter (siehe übernächster Abschnitt) an diese Möglichkeit gedacht werden,
denn jeweils etwa 5 % der MS-Erkrankungen
beginnen in diesen Lebensabschnitten. Da die
anfänglichen Beschwerden oft wenig dramatisch und zeitlich stark begrenzt sind, dauert
es meist einige Jahre, bis häufigere, schwerere
oder bleibende Krankheitszeichen schließlich
zur Diagnose MS führen. Bei der Festlegung
des Krankheitsbeginns muss deshalb zwischen
dem Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens
von Beschwerden und der Diagnosestellung
unterschieden werden. Das Durchschnittsalter für den Beschwerdebeginn liegt bei gut
25 Jahren, dasjenige für die Diagnosestellung
einige Jahre später.
9
Was sind die wichtigsten Untersuchungen?
Die Diagnose einer MS beruht auf einer Verknüpfung der Schilderungen der Betroffenen
über Beginn und Verlauf ihrer Beschwerden
(= Anamnese) mit den Ergebnissen der körperlichen Untersuchung (= klinischer Befund) und
von technischen Untersuchungen (= Zusatzbefunden). Dies hört sich leichter an, als es tatsächlich ist. Viele Betroffene können sich z. B.
zumindest anfänglich nicht an ein vor Monaten
oder gar Jahren für wenige Tage bis Wochen
vorhandenes »komisches« Gefühl in einem Arm
oder Bein als wahrscheinlich erstem Anzeichen
erinnern. Sie hatten es entweder selbst nicht
besonders ernst genommen, oder der behandelnde Arzt hatte nichts finden können. Zudem
waren die Beschwerden wenig beeinträchtigend
gewesen und rasch und folgenlos zurückgegangen, sodass kein Grund zur Beunruhigung oder
zu weiteren Untersuchungen gegeben war.
Die meisten bei der MS auftretenden Beschwerden können auch bei vielen anderen
Krankheiten auftreten, zum Beispiel bei Durchblutungsstörungen oder Bandscheibenleiden.
Außerdem entspricht den Beschwerden der MSPatienten wie etwa dem Kribbeln in einem Bein
oft kein fassbarer Untersuchungsbefund. Es handelt sich dann zwar um eine erlebte Gefühlsstörung, aber nicht um eine Beeinträchtigung der
Empfindung von Berührungen, die mit einem
Wattebausch oder einer Nadel in dem entsprechenden Hautgebiet nachweisbar ist. Es besteht
auch kein Unterschied zur gesunden Körpersei-
10
te. Dies kann dazu führen, dass die Beschwerden
voreilig als »funktionell« oder seelisch bedingt
eingeordnet werden.
Auch für erfahrene Ärzte ist es im Frühstadium einer MS manchmal nicht möglich, die
Krankheit mit ausreichender Sicherheit genau
einzuordnen. Dies ergibt sich dann erst durch
den weiteren Krankheitsverlauf. Für die Betroffenen bedeutet dies eine mehr oder weniger
lange Zeit der Unsicherheit und Ungewissheit.
Eine unverzichtbare Untersuchung für die
Diagnosestellung und die Verlaufsbeobachtung
ist die Kernspin- oder Magnetresonanztomographie (MRT) vom Gehirn und eventuell auch vom
Rückenmark. Mit ihr können aktive MS-Herde
und chronische Veränderungen dargestellt werden. Desweiteren spielt die Lumbalpunktion
zur Entnahme von Nervenwasser eine wichtige
diagnostische Rolle. Die Befunde dieser Untersuchungen zusammen mit der klinischen Beobachtung des Arztes und der Symptombeschreibung des Patienten können unter Verwendung
der sogenannten McDonald-Kriterien zu Hilfe
genommen werden, um die Verdachtsdiagnose
zu erhärten. Darüber hinaus können weitere
Untersuchungen wie Blutuntersuchungen, sogenannte evozierte Potenziale etc. zur Sicherung
der Diagnose notwendig sein.
Es gibt jedoch nach wie vor keinen spezifischen Test und keine Verknüpfung von Befunden, wonach eine MS als sicher nachgewiesen
oder ausgeschlossen gelten kann.
Was sind die wichtigsten Medikamente
zur MS-Behandlung?
Die medikamentöse MS-Therapie hat mehrere
Ansätze. Einige zielen auf eine Beeinflussung
des Krankheitsprozesses selbst, andere richten
sich gegen die durch die Krankheit verursachten
Beschwerden (= symptomatische Therapie). Die
folgenden drei Therapieansätze, die sich gegenseitig ergänzen, sind zur Zeit in der medikamentösen MS-Therapie etabliert:
1. Schubtherapie: Bei akuten Krankheitserscheinungen (einem Schub) geht man von
umschriebenen Entzündungsvorgängen am
Gehirn, Sehnerv oder Rückenmark aus und
behandelt mit Kortikoiden.
2. Symptomatische Therapie: Unspezifische
Beschwerden wie etwa Schmerzen oder eine
Spastik können durch eine Reihe von Medikamenten mit nachgewiesener Wirksamkeit
günstig beeinflusst werden, ohne dass sich
dadurch der Krankheitsverlauf verändert.
3. Immunspezifische Therapie: Für den längerfristigen Verlauf der MS hat die überschießende Reaktion des Immunsystems
CIS1
RRMS1
Schubtherapie
Basistherapie
Eskalationstherapie
Indikation
eine besondere Bedeutung. Die Häufigkeit
und Schwere von MS-Schüben und das
Fortschreiten einer neurologischen Behinderung kann durch Beeinflussung dieser
Immunreaktion gemindert werden. Hierzu
stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung.
Die immunsuppressiven Medikamente unterdrücken (supprimieren) ganz allgemein
die zelluläre Reaktion des Immunsystems,
während die immunmodulatorischen Medikamente die veränderte Immunreaktion bei
der MS gezielter beeinflussen (modulieren).
Welche der Therapiemaßnahmen einzeln oder
in Kombination zur Anwendung kommt, hängt
vom Einzelfall ab und muss bei jedem Betroffenen im Krankheitsverlauf immer wieder neu
festgelegt werden. Wenn eine Behandlung bei
einem Betroffenen Wirkung zeigt, bedeutet dies
noch lange nicht, dass sie auch bei einem anderen in gleicher Weise günstig wirkt. Eine grundsätzliche Orientierung zur MS-Behandlung gibt
das Stufenschema zur Therapie der MS (Abb. 2).
1. Wahl
Fingolimod4
Natalizumab4
Glatirameracetat
Interferon-β 1a i.m.
Interferon-β 1a s.c.
Interferon-β 1b s.c.
SPMS1
2. Wahl
Mitoxantron
( Cyclophosphamid)5
Glatirameracetat
Interferon-β 1a i.m.
Interferon-β 1a s.c.
Interferon-β 1b s.c.
( Azathioprin)2
( Mg)3
mit
aufgesetzten
Schüben
ohne
aufgesetzte
Schübe
Interferon-β 1a s.c. Mitoxantron
Interferon-β 1b s.c. ( CyclophosMitoxantron
phamid)5
( Cyclophosphamid)5
2. Wahl
Plasmaseparation
1. Wahl
Methylprednisolonpuls
1
Abb. 2: Stufen­
therapie bei MS
= Substanzen in alphabetischer Reihenfolge. Die hier gewählte Darstellung impliziert KEINE Überlegenheit
einer Substanz gegenüber einer anderen innerhalb einer Indikationsgruppe (dargestellt innerhalb eines
Kastens).
2
= Zugelassen, wenn IFN-β nicht möglich ist oder unter Azathioprin-Therapie ein stabiler Verlauf erreicht wird.
3
= Einsatz nur postpartal im Einzelfall gerechtfertigt, insbesondere vor dem Hintergrund fehlender Behandlungsalternativen.
4
= Fingolimod und Natalizumab haben neben der Zulassung zur Eskalationstherapie auch eine Zulassung zur
Behandlung Therapie-naiver Patienten bei mindestens zwei behindernden Schüben mit Krankheitsprogression binnen der letzten zwölf Monate und mindestens einer Gd+-Läsion bzw. einer signifikanten Zunahme der T2-Läsionen in der MRT.
5
= Zugelassen für bedrohlich verlaufende Autoimmunkrankheiten, somit lediglich nur für fulminante Fälle als
Ausweichtherapie vorzusehen, idealerweise nur an ausgewiesenen MS-Zentren.
11
Was sind die wichtigsten Medikamente zur MS-Behandlung?
Es wurde 2012 von der Gesellschaft für Neurologie (DGN) und dem krankheitsbezogenen
deutschen Kompetenznetz Multiple Sklerose
(KKNMS) aktualisiert und verabschiedet. Viele
Ärzte und Kliniken, aber auch Betroffene mit
wiederholt aufgetretener Symptomatik, haben
aufgrund ihrer Erfahrung eine eigene Therapiestrategie entwickelt.
Wie bei jeder medikamentösen Behandlung
ist eine langfristige Anwendung von Medikamenten mit der Möglichkeit ernster Nebenwirkungen nur dann sinnvoll, wenn der zu
erwartende Nutzen größer ist als das Risiko.
Außerdem sollte zu Beginn jeder medikamentösen Behandlung eine offene und realistische
Aufklärung über den erwarteten Nutzen wie
auch über die möglichen Risiken durch den betreuenden Arzt stehen.
Das Ziel der Langzeitbehandlung besteht in
einer anhaltenden Hemmung der Entzündungsaktivität und Eindämmung der Degeneration
des ZNS der MS. Diese soll die Zahl und Schwere von weiteren Schüben verringern und damit
auch die langsame Zunahme der Funktionseinschränkungen aufhalten. Man geht heute davon
aus, dass die Entzündungsschübe schon am Anfang einer MS zu sogenannten axonalen Schädigungen führen, deren ungünstige Folgen nicht
mehr zu beheben sind und die daher möglichst
verhindert werden sollten. Die nach heutigen
Vorstellungen diskutierten Vorteile eines frühen
Behandlungsbeginns sind in Abb. 3 dargestellt.
Zur Langzeitbehandlung werden Medikamente
eingesetzt, die die Reaktion des Immunsystems
verändern (Immunmodulatoren) oder dauerhaft unterdrücken (Immunsuppressiva).
Im Gegensatz zu den Kortikoiden, die nur
kurzfristig verabreicht werden, erfolgt eine
Langzeittherapie über mehrere Jahre. Langzeittherapie bedeutet auch nicht, dass die behandelten Patienten in dieser Zeit frei von jeglichen
Krankheitserscheinungen sind.
MS-spezifische Basistherapeutika
Der therapeutische Standard in der Behandlung
der schubförmigen MS ist die Langzeittherapie
mit sogenannten Immunmodulatoren. Dadurch
kann langfristig der Verlauf der MS günstig
beeinflusst und die Lebensqualität gesichert
werden. Zur Basistherapie sind die beiden genannten Substanzgruppen erhältlich – die in
ihrer Wirksamkeit als vergleichbar eingestuft
werden.
natürlicher Verlauf der MS
spätere Intervention
Behinderungsgrad
Intervention bei Diagnosestellung
Krankheitsbeginn
12
Therapiebeginn
bei Diagnosestellung
späterer
Therapiebeginn
Zeit
Abb. 3: Einfluss
eines frühen ­­
Be­hand­lungs­beginns bei MS
Was sind die wichtigsten Medikamente zur MS-Behandlung?
Tab. 2: Immunmodulatoren (Interferone und Glatirameracetat).
Applikations­
weg
Wirkverlust
(durch Anti­
körper möglich)
Typische Nebenwirkungen
nach DGN-Leitlinie (Deutsche
Gesellschaft f. Neurologie)
Regelmäßige
Laborkontrollen
erforderlich?
Täglich unter
die Haut
spritzen
Nein
Reaktionen an der Einstichstelle, Post-Injektionsreaktion
Nein
Interferon
Beta 1a (s.c.)
3 ×/Woche
unter die
Haut spritzen
Ja
Grippeartige Nebenwirkungen,
Reizung an der Einstichstelle
Ja
Interferon
Beta 1a (i.m.)
1 ×/Woche in
den Muskel
spritzen
Ja
Grippeartige Nebenwirkungen,
Reizung an der Einstichstelle
Ja
Interferon
Beta 1b (s.c.)
Alle 2 Tage
unter die
Haut spritzen
Ja
Grippeartige Nebenwirkungen,
Reizung an der Einstichstelle
Ja
Basis­
therapeutikum
Glatirameracetat
Glatirameracetat
Beta-Interferone
* http://www.dgn.org/images/stories/dgn/leitlinien/LL2008/II08kap_034.pdf
Vollständige Angaben zu den Nebenwirkungen und Anwendungshinweisen der Arzneimittel finden Sie in den Gebrauchsinformationen (Beipackzettel). Informieren Sie bitte Ihren Arzt oder Apotheker, wenn eine der aufgeführten
Nebenwirkungen Sie erheblich beeinträchtigt oder Sie Nebenwirkungen bemerken, die nicht in den Gebrauchsinformationen angegeben sind.
Interferon-beta
Interferon-beta wird schon seit mehr als zehn
Jahren zur Langzeitbehandlung der MS eingesetzt. Es handelt sich um ein auch normalerweise im Körper gebildetes Eiweiß, das bestimmte
Entzündungsvorgänge stark unterdrückt. Die
Wirkung beruht vermutlich darauf, dass Interferon-beta aktivierte T-Lymphozyten da­ran
hindert, die Basalmembran von Blutgefäßen zu
durchdringen, wodurch sie nicht in das Nervensystem übertreten können. Zusätzlich hemmt es
die Produktion entzündungsfördernder Eiweiße. In zahlreichen kontrollierten Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass sie die Zahl und
Schwere von Schüben vermindern. Die Hemmung der Entzündungsaktivität lässt sich auch
im Magnetresonanztomogramm nachweisen
und die Zahl neuer Entzündungsherde im Gehirn ist unter Interferon-beta deutlich geringer
als bei nicht behandelten Vergleichsgruppen.
Glatirameracetat
Glatirameracetat wird seit mehr als 15 Jahren
zur Therapie der schubförmigen MS eingesetzt.
Es handelt sich um ein dem basischen Myelinprotein ähnelndes Eiweißgemisch aus den vier
Aminosäuren Glutaminsäure, Lysin, Alanin und
Tyrosin (auf den vier Anfangsbuchstaben beruht
auch der Name), das in einer Dosis von 20 Milligramm täglich unter die Haut gespritzt wird.
Nach den bisherigen Studien vermindert Glatirameracetat wie die Interferone – allerdings
aufgrund eines anderen Wirkungsmechanismus – ebenfalls die Schubrate, vor allem bei
gering betroffenen Patienten. Darüber hinaus
bewirkt eine Behandlung mit Glatirameracetat
eine deutliche Abnahme »aktiver« Läsionen im
Magnetresonanztomogramm einschließlich einer Verringerung des Übergangs in sogenannte
»schwarze Löcher« (englisch: black holes). Derzeit geht man davon aus, dass Glatirameracetat
seine Wirkung doppelt entfaltet und zwar einmal durch eine Verminderung der Entzündung
im ZNS, andererseits durch eine Reduktion der
davon entkoppelten Degeneration von Nervenzellen. Dies geschieht u.a. durch eine Verschiebung der T-Helferzellen-Lymphozytenantwort
vom entzündungsfördernden TH1- zum ent-
13
Was sind die wichtigsten Medikamente zur MS-Behandlung?
zündungshemmenden und eher schützenden
TH2-Typ. Diese durch Glatirameracetat modulierten TH2-Zellen finden sich im ZNS.
Allgemeine Immunsuppresssiva
Azathioprin
Einige Untersuchungen konnten zeigen, dass
eine mehrjährige Therapie eine Abschwächung
der Krankheitserscheinungen im Schub und
eine Verringerung der Schubhäufigkeit bewirken kann. Diese Studien weisen zwar teilweise
methodische Mängel wie geringe Patientenzahlen oder kein doppelblindes Design auf, auf der
anderen Seite vertreten manche Fachleute aber
die Auffassung, dass die schubvermindernde
Wirkung von Azathioprin durchaus mit derjenigen der Interferone und von Glatirameracetat
vergleichbar ist. Auch eine zusammenfassende
Auswertung (sogenannte Metaanalyse) der Ergebnisse von sieben Studien mit Azathioprin
bei insgesamt rund 800 MS-Patienten bestätigte eine Schubverminderung, konnte aber
keinen sicheren Effekt auf den Langzeitverlauf
beziehungsweise das Fortschreiten der Behinderung nachweisen. Seit 2000 zählt die MS in
Deutschland zu den zugelassenen Anwendungsgebieten. Azathioprin wird täglich als Tabletten
eingenommen, wobei die übliche Startdosis
von zwei bis drei Milligramm pro Kilogramm
Körpergewicht im Verlauf in Abhängigkeit von
Veränderungen im Blutbild angepasst wird.
Eskalationstherapie
Natalizumab
Natalizumab ist ein gezielt entwickelter, sogenannter humanisierter (vermenschlichter) monoklonaler Antikörper, der an der Oberfläche von
aktivierten T-Zellen jene Rezeptoren blockiert,
die für die Bindung an der Blut-Hirn-Schranke
und damit die Einwanderung in das Zentralnervensystem notwendig sind. Zur Langzeitbehandlung werden 300 mg dieses Antikörpers alle vier
Wochen als Kurzinfusion intravenös durch den
Arzt verabreicht. Natalizumab hat sich in Studien
über zwei Jahre zur Verhinderung von Schüben
als sehr wirksam erwiesen und auch die langfristige MS-bedingte Behinderung vermindert. We-
14
gen der Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen wurde Natalizumab allerdings nur für sehr
ungünstige Verläufe im Anfangsstadium zugelassen, bei denen eine Interferontherapie bereits
versagt hat oder bei denen die Erkrankung innerhalb eines Jahres rasch fortschreitet. Natalizumab
darf nicht mit Interferonen oder Glatiramer­acetat kombiniert werden, da sich hierunter die
o. g. schwerwiegenden Nebenwirkungen entwickelt hatten. In jedem Fall sollten Patienten
die Nutzen-Risiko-Abwägung mit einem in der
MS-Behandlung erfahrenen Neurologen genau
besprechen.
Fingolimod
Fingolimod ist ein selektives Immunsupres­
sivum zur Behandlung der MS und wird oral
verabreicht. Fingolimod wirkt über die Veränderung (Modulation) einer speziellen Rezeptor-Antwort im ZNS. Dadurch wird der
Einstrom von spezifischen Entzündungszellen,
den Lymphozyten, ins ZNS reduziert, die dort
an Entzündungsvorgängen und der Zerstörung
von Nervengewebe beteiligt wären. Die Wirksamkeit von Fingolimod in der Behandlung der
MS wurde in zwei klinischen Studien nachgewiesen, in denen gezeigt werden konnte, dass
unter Fingolimod im Vergleich zu Placebo und
Interferon sowohl eine Reduktion von Schubrate und Behinderungsprogression als auch der
Anzahl der Läsionen im MRT erreicht werden
konnte. Im Rahmen des Therapiebeginns kann
es unter Umständen zu bedrohlichen Abfällen
der Herzfrequenz kommen, weshalb die Patienten zu diesem Zeitpunkt engmaschig überwacht
werden müssen. Fingolimod darf wegen der allgemein immunsuppressiven Wirkung nicht bei
Patienten mit chronischen und schweren aktiven Infektionen verabreicht werden.
Reservemedikamente
Mitoxantron
Mitoxantron ist ein in der Krebstherapie schon
längere Zeit eingesetztes Medikament. Bei der
MS wird es in Abständen von etwa drei Monaten als Infusion mit einer Dosis von 12 Milligramm pro Quadratmeter Körperoberfläche
verabreicht. Wegen der in höheren Dosen zunehmenden unerwünschten Wirkungen darf
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