Selektive Prävention in der Schwangerschaft – eine wissenschaftliche Einordnung Dr. Anneke Bühler AG Präventionsforschung Jahrestagung der Bundesdrogenbeauftragten 2014 „NEIN zu Tabak und Alkohol in der Schwangerschaft“ Erlangen, 12.12.2014 Institut für Therapieforschung München Einordnung „Nein zu Tabak und Alkohol in der Schwangerschaft!“ Institut für Therapieforschung München Wo im Portfolio der Präventionsmöglichkeiten einzuordnen? In welchen Präventionsbereich einordnen? (Klassifikation von Prävention) Konsum während der Schwangerschaft – wie bedeutend für die Entwicklung unerwünschter Folgen? Warum selektive Prävention? + Effektivität + Erreichung der Zielgruppe Institut für Therapieforschung München Klassifikation von Prävention Zielgruppe Ziel Prävention Individuen oder Gruppen ohne Diagnose Verhindern von neuen Fällen der psychischen Störung oder der somatischen Krankheit Intervention Individuen oder Gruppen mit Diagnose Heilung der psychischen Störung oder somatischen Krankheit Institut für Therapieforschung München Zwei Zielgruppen in einer Person und drei Präventionsbereiche Mutter Substanzbedingte Folgen Kind Abstinenz in Schwangerschaft Langfristig Substanzmissbrauch Somat. Folgen Kurzfristig somatische Folgen Maßnahme Institut für Therapieforschung München Klassifikation von Prävention Zielgruppe Ziel Universell präventiv Unausgelesene Normalbevölkerung, Population Verhindern von neuen Fällen der psychischen Störung oder der somatischen Krankheit Selektiv präventiv Individuen oder Gruppe, deren unmittelbares oder späteres Risiko überdurchschnittlich ist Verhindern von neuen Fällen der psychischen Störung oder der somatischen Krankheit Indiziert präventiv Individuen mit hohem Risiko mit minimalen aber erkennbaren Zeichen oder Symptomen aber keiner Diagnose Verhindern von neuen Fällen der psychischen Störung oder der somatischen Krankheit Intervention Individuen oder Gruppen mit Diagnose Heilung der psychischen Störung oder somatischen Krankheit Auch nach National Academy of Sciences, 2009 Institut für Therapieforschung München Selektive Prävention mit Zielgruppe Kind ● Zielgruppe: Ungeborene Kinder, die ein höheres Risiko dafür haben, dass ihre Mütter Alkohol trinken, ihre Mütter (und Väter) rauchen ● Erhöhtes Risiko für Alkoholkonsum in Schwangerschaft Alter > 30 Jahre, binge drinking < 27 Jahre Nationalität: kein Migrationshintergrund, hohe Akkulturation Alkoholkonsum: AK insbesondere binge drinking vor der Schwangerschaft, vorherige Therapie wegen Alkoholproblemen, Konsum illegaler Drogen, Rauchen Schwangerschaftsbesonderheiten: ungeplante oder ungewollte Schwangerschaft, wenig oder späte pränatale Vorsorge Sozioökonomischer Status : hoch, sehr niedrig Soziale Umgebung: Single oder unverheiratet, Alkohol- oder Drogenkonsum in der Familie oder beim Partner, geringe soziale Unterstützung Psychische Faktoren: Stattgefundene oder aktuelle körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch durch Partner oder Fremden, Depression, Angststörung, Panikstörung, sexuelle Funktionsstörungen Landgraf & Heinen (2009) Bedeutung der selektiven Prävention des Konsums während der Schwangerschaft Alkoholkonsum Institut für Therapieforschung München FASD Tabakkonsum Übermäßiger Alkoholkonsum frühzeitige Geburt, geringes Gewicht Adoleszente Mutter Schlechte Ernährung Fruchtbarkeitsbehandlung OECD, 2010 Prävention des Substanzmissbrauchs Werbung Elterlicher Substanzkons um Geringe elterliche Wärme Familie Medien Individuum Vor der Geburt: Genetische Disposition Pränatale Exposition Inkonsistentes Erziehungsverhalten Monitoring Teilnahme Konflikt Überbehütun g Permissivität Jugendalter: vermeidendes Coping negative Emotionalität Verhaltensstörungen positive Einstellung Aufmüpfigkeit Frühe Kindheit: Schwieriges Temperament Auszug Deviante Peer Gruppe Freunde frühes Erwachsenenalter: Ablehnung konventioneller Mittlere Kindheit: Erwachsenenrollen Schwache Impulskontrolle Antisoziales Verhalten Sensation seeking Schwaches Selbstmanagement Aggressivität, antisoziales Verhalten Ängste, Depression ADHD, Hyperaktivität Anhaltendes Problemverhalten Früher Substanzkonsum Schule Missbrauch Konsumnorm Positive Darstellung in Filmen Tertiäre Biildung Schulversage n Zugehörigkeits- und Verpflichtungsgefühl Legale Modelle Altersgrenz Preis Verfügbarkeit e Kontrolle des Community/Gese Armut Zugangs tzgebung Bühler & Bühringer, in Druck KonsumNormen Konsum Entfremdung von Peers Zurückweisun g durch Peers Institut für Therapieforschung München Bedeutung der selektiven Prävention Zielgruppe Schwangere Institut für Therapieforschung München ● Selektive Prävention tabak- und alkoholbezogener Folgen bei der Mutter Rauchstopp für Mortalität bedeutend Nichtraucherinnen leben 11 Jahre länger Pirie (2012 Für substanzbezogene Morbidität: Je früher man aufhört, desto geringeres Risiko Institut für Therapieforschung München Pirie et al., 2012 10 Institut für Therapieforschung München Warum selektive Prävention wählen? ● Potentiell höherer Nutzen (Impact) als universelle Prävention Impact = Erreichung der Zielgruppe x Effektivität ● Vorteil: höhere Effektstärke und damit meist effizienter Durchschnittliches Risiko bei universellem Vorgehen niedriger als bei selektivem Vorgehen Deswegen auch Effekte bei selektivem Vorgehen stärker sichtbar (zu viele behandelt, die sowieso nicht rauchen oder Alkohol trinken würden bzw. die erwischt, die wirklich Unterstützung brauchen) Dann in Gruppensetting, mehr Personen mit gleichen Ressourcen behandelt - kosteneffizienter So weit die Theorie... Institut für Therapieforschung München Rauchstopp- Interventionen in Schwangerschaft Cochrane Review: Chamberlain et al., 2015 Ansatz Studien RR Wenn in Kontrollgruppe 10 oder 20% aufhören Beratung (u) 48 1,4 14 oder 28% Inzentivierung (s) 7 3,6 36 oder 72% Feedback (s) 7 4,4 44 oder 88% Aufklärung (u) 4 - - Soziale Unterstützung (s) 10 1,5 15 oder 30% Umfassend 7 mixed Indikator: Rauchstopp in später Schwangerschaft Indikator vorzeitige Geburt und geringes Geburtsgewicht RR=0,8 Insgesamt SES nicht bedeutsam für Wirksamkeit Alkoholabstinenz oder -reduktion in Schwangerschaft Institut für Therapieforschung München ● Cochrane Review 2009: 4 Studien, inkonsistente Ergebnisse ● Universelle Aufklärung Alkohol: Wissen verbessert, Konsum nicht zusätzlich beeinflusst (Crawford et al., 2014) ● Kurzintervention Alkohol: Konsum zusätzlich beeinflusst (Gebara et al., 2014) Indikator: Unterschiedliche Konsumindikatoren Einzelbehandlung! Institut für Therapieforschung München Warum selektive Prävention wählen? ● Nachteil: Zielgruppenerreichung schwierig Zugang, Inanspruchnahme, Motivierung zur Teilnahme Stigmatisierung Problembewusstsein & Wirkerwartung + Sowohl bei Personen selbst als auch bei denen, die Zugang haben In der Gruppe + Zielgruppe gruppenaffin? + Entgegengesetzte Wirkung: Die macht das ja auch... Was kann man erwarten? Beispiel Schottland Schottland allgemein Beratung Institut für Therapieforschung München Sozial schwache Region Inzentivierung & Feedback Schwangere N=52370 N= 1752 Aktuell Rauchende Sp ont an 2025 % 25% 28% Überweisungen 34% 24% % Inanspruchnahme Zwischen 10-20%, 13% Aufgehört nach 4 Wochen, 12 Wochen 30-35%, 15% 47%, 29% Radley et al., 2013, Solomon et al., 2004 56% Inanspruchnahme verbessern – Erfahrungen aus der selektiven Prävention Institut für Therapieforschung München ● An für Zielgruppe relevanten Themen ausrichten und Substanzkonsum integrieren (parallel Bottom-Up & Top-down) ● Auf Motivationslagen zuschneiden In Hinblick auf Rauchstopp (TTM und Stadien der Veränderungsbereitschaft) In Hinblick auf Methode (Typen reagieren unterschiedlich) ● Attraktive Bedingungen schaffen Wertschätzende, kompetente, vertraute Behandler Logistische Rahmenbedingungen Laverack, 2012; Prochaska & DiClemente, 1991; Radley et al., 2013, Bröning et al., 2012 Typen rauchender Schwangerer in schwieriger sozialer Lage Institut für Therapieforschung München Typ Merkmale RS-Hilfen Teilnahme Auf Kind Fokussierende Kind und Kindergesundheit steht im Mittelpunkt Motivation hoch RS-Hilfen nicht so bedeutend regelmäßig Rauchstopp-Neulinge Jung, oft noch zu Hause lebend Motivation niedrig Simple RS-Hilfe, intensive Betreuung, Gruppe, Inzent. unwichtig Unregelm., auf Anraten Dritter Existenzminimumüberlebende Am stärksten benachteiligt, Wenig soz.Unterstützung, allein oder alleinerziehend, Geringer Selbstwert und Selbstwirksamkeit Inzent. wichtig, Geld für Lebensmittel, Konflikte mit Apotheker Unregelmäßig Begeisterte Amateure Hohe Motivation, viele unsystematische RSVersuche, Äußere Struktur ebenso wichtig wie Inzentivierung regelmäßig Gelegenheitsnutzer Hohe Motivation und Selbstwirksamkeit Kein Bedarf aber Geld regelmäßig ist auch ok Impulsive Mitnehmer Niedrige Motivation, viele Versuche, resigniert gleichgültig Unregelmäßig Inanspruchnahme verbessern – Erfahrungen aus der selektiven Prävention Institut für Therapieforschung München ● Gesundheitsberufe dazu bringen In der Ausbildung verankern + „Normalisierung“ des Ansatzes Maßnahmen werden eher implementiert, (Durlak & Pre, 2008) + Wenn der Bedarf dafür gesehen wird, + wenn sie als flexibel einzusetzen und wirksam wahrgenommen werden + wenn sich die durchführende Person kompetent ist und sich selbstwirksam fühlt + Wenn Rahmenbedingungen stimmen Monetär - wie? (Flodgren et al., 2014) + Pro Dienstleistung + Pro Patient oder Patientengruppe + Für verbesserte Maßnahme + Nicht für Zeitraum 3 Take Home Messages Institut für Therapieforschung München Frauen dazu zu motivieren und dabei zu unterstützen, in der Schwangerschaft auf Tabak und Alkohol zu verzichten, kann gleich drei Mal präventiv wirken: • es kann den unmittelbaren dramatischen Folgen für das ungeborene Kind vorbeugen • es kann das Risiko für eine spätere Suchtentwicklung des Kindes abmildern • es kann einer beginnenden Suchtentwicklung der Mutter vorbeugen oder den Ausstieg aus der Sucht einleiten Das Problem dabei ist nicht, was man mit den Schwangeren tun sollte (welche Maßnahmen wirksam sind), sondern sie zu erreichen (sie in die Maßnahmen zu bringen). Dies ist ein generelles Problem der selektiven Prävention und nicht spezifisch für die Arbeit mit Schwangeren. Allerdings muss man eine zugeschnittene Lösung finden. Ein partizipatives Vorgehen, dass sowohl auf die eigentlichen Bedürfnisse der Zielgruppe eingeht als auch den Tabak- und Alkoholkonsum thematisiert, kann eine Lösung sein. Eine andere Möglichkeit ist die Verankerung des Themas in der standardisierten Versorgung der Zielgruppe, die versorgende Berufsgruppen ermöglicht das Thema zu einer Routinemaßnahme werden zu lassen. Institut für Therapieforschung München Vielen Dank! [email protected]