Alkohol- und Tabakprävention – Ändern Verhältnisse das Verhalten? Zürcher Präventionstag Zürich, 14. März 2008 Richard Müller Der Präventionsbegriff ist so vieldeutig wie jener « Glück » oder « Gesundheit » ⇒ Prävention heisst: Auftretenswahrscheinlichkeit von unerwünschten Zuständen oder Zustandsfolgen bei Individuen oder Gruppen von Individuen verhindern oder mindern Mittel der Prävention Verhindern kann man, indem man… – informiert – abschreckt – Strafen fällt oder androht – diszipliniert – kontrolliert – reduziert – sichert – begrenzt – verbessert – fördert – oder die Verhältnisse ändert Verhältnisprävention • Sie versucht die Bedingungen der sozialen und physischen Umwelt so zu gestalten, dass ein unerwünschter Zustand möglichst nicht auftritt ¾Familienpolitik, Jugendpolitik, Migrationspolitik, Bildungspolitik usw. ¾Politisches Bemühen, das sich auf die Zugänglichkeit und die Vermarktung eines gesundheitsschädigenden Produktes bezieht Wahl der Mittel der Prävention hängt von Bildern ab, die wir uns machen, über . . . Mensch Gesellschaft plan- und gestaltbar ohne Plastizität selbstbestimmt fremdbestimmt Staat Nachtwächterstaat Sozialstaat Darf der Staat in die Präferenzen der Bürger eingreifen? • Die Antwort auf diese Frage muss innerhalb der Begrifflichkeit „Freiheit und Verantwortung“ verortet werden • Stimmt man der Aussage zu, dass Menschen gesellschaftliche Wesen sind, so besteht eine gesellschaftliche Mitverantwortung für Suchtgeschehen • Sucht ist ein Kulturprodukt • Paternalismus lässt sich rechfertigen Paternalismus in der Prävention Paternalismus= Versuch, das Wohlergehen anderer Personen auch ohne deren Einwilligung, im Extremfall gegen ihren Willen herzustellen Zwang zum Glück! Begründungszwang? 2 Arten von Paternalismus Weicher Paternalismus Gestattet nur dann Eingriffe, wenn Person nicht autonom handeln kann Harter Paternalismus Intervention in jedem Fall gerechtfertigt, wenn sich der Einzelne der Präventionslogik nicht unterwirft für die “Armen im Geiste” gegen “Unkluge”, die sich wider besseres Wissen verhalten Staat greift seit je her in die Präferenzen der Bürger ein Luxus- und Trinkverbote im Mittelalter Zar Michael verbietet Rauchen (1634) und lässt Raucher auspeitschen, kastrieren Papst Innozenz X. (1574-1655) exkommuniziert Raucher Tabakverbote in Basel, Bern, Zürich Verbote halten sich zum Teil bis ins 2. Jahrzehnt des 18. Jahrhundert Moralisches Unternehmertum • Im 19. Jh. kommt es vielerorts zu eigentlichen Kreuzzügen gegen alle Laster : Trinken, Rauchen, Drogen • Kreuzzügler wollen den Menschen zu ihrem Glück verhelfen, zuweilen gegen ihren Willen • Abstinenz- und Temperenzbewegung, Antiraucherliga finden ihren Ursprung in der protestantischen Ethik • Auch in der Schweiz entfalten gemeinnützige Gesellschaften, Abstinenzbewegungungen ihre Wirkung Handlungsfelder der Alkohol- und Tabakprävention Angebot lenken physisch ökonomisch Vermarktung •Produktion •Handel •Konsum •Preise •Werbung Nachfrage senken Umweltorientiert Reduktion pathogenes Potenzial Personenorientiert Änderung Promotion salutogenes Motive Potenzial Angebot Alternativen Handlungsfeld: Vermarktung Werbung schafft Raucher und Raucherinnen. Sie verändert nicht einfach Marktanteile! (Quelle: Worldbank 1999) Werbung für Alkohol • Alkoholwerbung beeinflusst die künftigen Trinkabsichten von Jugendlichen, selbst dann, wenn sie nicht direkt auf Jugendliche abzielt. • Alkoholwerbung konterkariert das Bemühen der Prävention – vorab bei Jugendlichen – indem sie die positiven Seiten des Trinkens betont und die negativen Seiten vernachlässigt Wege und Abwege der Vermarktung • Werbung ist nur eine Form der Verkaufsförderung. Andere Formen ¾ Sponsoring (Heineken Champions-League) ¾ Markentransfer (z.B. Camel-Kleider und -Schuhe) ¾ Event-Marketing (z.B. Camel-Trophy, Pop-Konzerte) ¾ Preisausschreiben ¾ Werbegeschenke ¾ Produktplatzierung in Kino- und Fernseh-Filmen sowie in Musikvideos, um vor allem die jungen Leute zu erreichen • Rechtsfreier Raum Internet Handlungsfeld: Preise • Alkoholische Getränke und Tabakwaren verhalten sich wie andere Güter im Markt ¾ Die Nachfrage variiert je nach Preis ¾ Beispiel: Senkung des Einheitssteuersatzes für Spirituosen ¾ Beispiel: Preiselastizität der Nachfrage für Zigaretten in der Schweiz • Forschung zeigt: Prävention über den Geldbeutel ist effektivste Form der Prävention Sind preispolitische Massnahmen ungerecht? • Ja, sie treffen den Armen mehr als den Reichen, der sich ein Bier auch zu 10 Franken leisten kann • Aber soziale Gerechtigkeit ist nicht so sehr eine Frage der Preis-, sondern vielmehr der Einkommenspolitik • Zudem: arme Leute sind dem Suchtgeschehen mehr unterworfen als reiche ¾ Zudem: Auch Abhängige lassen sich durch Preise beeinflussen. Sie greifen nicht einfach zu Ersatzmitteln Handlungsfeld: Griffnähe Die Griffnähe alkoholischer Getränke ist gestiegen. Hinsichtlich der Tabakwaren ist sie unverändert hoch. Zeitlich Örtlich Zielgruppen Begrenzung der Öffnungszeiten Reduktion der Violenzrate Einigkeit: 24StundenErhältlichkeit produziert Probleme Beschränkung der Dichte der Verkaufsstellen. Konsumverbote in Öffentlichkeit: Tabak - Italien Rückgang des Verkaufs 8% Mindestkaufalterregeln Tabak: keine zwingende Evidenz für Wirkung Alkohol: Evidenz in den USA Alkoholkonsum bei Jugendlichen – Gefahr oder Panikmache? • Nach den Schülerbefragungen (HBSC) nehmen die Konsumquoten, aber auch die Quoten der Trunkenheitserlebnisse zwischen 2002 und 2006 ab! • Indes: Besäufnisse werden zum Problem bei Sub- und Randgruppen, was sich in mittelwertsorientierten epidemiologischen Studien nicht niederschlägt • Diesem Problem kann man nicht allein mit angebotslenkenden Massnahmen begegnen Alkohol und Gewalt • Zusammenhang ist komplex • Studien zeigen folgende vermittelnde Grössen zwischen Alkoholkonsum und Gewalt ¾ Unterschiede in der Hirnchemie beeinflussen Impulskontrolle und alkoholinduzierte Aggressivität ¾ Anti-soziale Persönlichkeitsstörungen ¾ Erwartete Effekte des Alkohols (Placebostudien) ¾ Störung der Wahrnehmung und der Fähigkeit, Reize richtig zu interpretieren ¾ Situative Umstände Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und Gewalt bei Jugendlichen • Ein Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalt besteht in erster Linie bei Jugendlichen, die auch Probleme in anderen Bereichen haben, wie z.B Kriminalität und Konsum illegaler Drogen • Ein alkoholgeprägtes soziales Umfeld kann gewalttätiges Verhalten provozieren, und diese Gewalt kann durch das Betrunkensein der anderen ausgelöst werden Quelle:Rossow et al. 1999, Addictions 94 Faktoren, die Gewaltakte in Kneipen fördern • Gewalt eher in Unterschichtskneipen – wenig Licht, schlechte Luft, Lärm, Unsauberkeit etc. • • • • Überfüllung Keine Mahlzeiten Spezielle Anreize zum Alkoholkonsum Wirte, die selber zuviel trinken, keine Kontrolle über das Geschehen haben • Keine verantwortungsvollen Bedienungsregeln • Aggressives und/oder rauschtrinkendes Klientel Mehr Verkehrssicherheit/ sicherere Trinkumwelten • • • • • • • • • Einrichtung mobiler Nüchternheits-Checkpoints Einführung technischer Innovationen 0-Toleranz für Neufahrende Aufzeigen der Konsequenzen bei Regelverstoss „Codes of practice“ für Bedienungspersonal Richtlinien für Sicherheitsmanagement an Veranstaltungen Informierung über risikoarmes Trinken an Trinkorten baulich-architektonische Optimierung Kein Alkohol oder nur Getränke mit tiefem Alkoholgehalt an Grossveranstaltungen Angebotslenkung – eine sozialpolitische Aufgabe • Angebotslenkung ist wirksam • Bürger und Bürgerinnen müssen zur Einsicht gebracht werden, dass Einschränkungen der Freiheit notwendig sind und einen Akt der Verantwortung darstellen • Kant: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“ • Diese Einsicht zu verbreiten, bedarf grosser Überzeugungsarbeit • Indes: Prävention, die lediglich die Erhältlichkeit zu beschränken versucht, ist auf einem Auge blind. Es bedarf auch der Verhaltensprävention Vom Nutzen des sanften Zwangs zur Gesundheit • Präventologen singen das Hohelied des autonomen Individuums • Die Realität zeigt, dass wir zumeist weit entfernt von diesem Ideal sind • Kleine auferlegte Zwänge helfen uns über unsere eigenen Schwächen hinweg • Diese Zwänge müssen wir uns alle auferlegen, und nicht etwa nur Jugendlichen • Verbote sind nur wirksam, wenn sie verinnerlicht sind oder wirksam kontrolliert werden Danke fürs Zuhören!