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Zitierhinweis
Iwan-Michelangelo D'Aprile: Rezension von: Gustav Seibt: Mit einer
Art von Wut. Goethe in der Revolution, München: C.H.Beck 2014, in
sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015],
URL:http://www.sehepunkte.de/2015/09/25522.html
First published: http://www.sehepunkte.de/2015/09/25522.html
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sehepunkte 15 (2015), Nr. 9
Gustav Seibt: Mit einer Art von Wut
Mit Goethe in der Revolution setzt Gustav Seibt sein Programm fort, den
Klassiker als literarischen Zeithistoriker der großen Epochenumbrüche
des revolutionären Zeitalters zu aktualisieren. Nach seiner fulminanten
und vielbeachteten Studie Goethe und Napoleon , in der vor allem die
politischen und ökonomischen Debatten und deren Reflexion in Goethes
Werken nach 1806 im Fokus standen, kontextualisiert Seibt nun Goethes
Schriften zur Französischen Revolution im juristischen und
rechtshistorischen Diskurs. En passant wirft er dabei Grundfragen zum
Quellenstatus von literarischen Werken, Augenzeugenberichten,
Mémoiren oder Briefen auf.
Seibts Analyse ist selbst in der narrativen Form einer historischen
Spurensuche erzählt. Sorgfältig und explizit werden der jeweilige
Zeugnis- und Quellenwert der historischen Dokumente und - im Fall
eines Autors wie Goethe unerlässlich - unterschiedliche Lesarten und
Wertungen in der Rezeptionsgeschichte abgewogen. Wie ein
Geschworenengericht lässt Seibt so die Leserinnen und Leser teilhaben
an Möglichkeiten der historischen Urteilsfindung.
Ausgangspunkt sind zwei sich beinahe wörtlich widersprechende
Aussagen über den 'weißen Terror' an den Mainzer Republikanern im
Anschluss an die Eroberung der Stadt durch die preußischen Truppen im
Sommer 1793. Der Augenzeuge ist Goethe, der im Gefolge des Herzogs
von Weimar am ersten Koalitionskrieg teilgenommen hat. Nach dem
Abzug der französischen Armee kam es zur von den preußischen
Truppen mindestens geduldeten, eher noch angespornten und selbst
vollzogenen Lynchjustiz und schweren Übergriffen an den in der Stadt
verbliebenen Deutschen, die während der französischen Besatzung die
Mainzer Republik ausgerufen und den ersten demokratischen
Verfassungsstaat auf deutschem Boden gegründet hatten. Während
Goethe in einem Brief vom 27. Juli 1793 an Friedrich Heinrich Jacobi der
"Modus, die Sache gleichsam dem Zufall zu überlassen" "gut deucht",
weil er "unruhigem Volck zur Lehre" diene (122), stellen sich die
Ereignisse in seiner späteren Darstellung 1820 ganz anders dar - und
zwar nicht nur in Bezug auf die Bewertung, sondern auch auf die Fakten.
Nach dem für seine Autobiografie Dichtung und Wahrheit verfassten
Bericht sei er selbst es gewesen, der der "Pöbeljustiz" Einhalt geboten
und die Mainzer Republikaner durch sein beherztes Eingreifen und die
Autorität seiner Person gerettet habe (24).
Von dieser Beobachtung ausgehend sichtet Seibt das umfangreiche
Material des mit den Ereignissen verbundenen juristischen Diskurses,
der durch das Aufeinanderprallen zweier nicht kompatibler
Rechtsvorstellungen charakterisiert ist: dem in den deutschen
Fürstentümern geltenden altständischen Recht und dem damit
verbundenen Treueeid auf den Kurfürsten einerseits und dem neuen
konstitutionellen Rechtsbegriff und dem in der Mainzer Republik
geforderten Verfassungseid andererseits. In diesem Spannungsfeld
entstehen auch neue juristische Kategorien wie die des "politischen
Kollaborateurs". In seiner Darstellung versucht Seibt, beiden Sichtweisen
historisch gerecht zu werden: ausgiebig kommen antirevolutionäre und
frühkonservative Stellungnahmen in der Nachfolge von Edmund Burke
und Friedrich Gentz zu Wort, in denen die Revolution als
Gründungsgeschehen des modernen Totalitarismus gegenüber einem
vermeintlich geordneten und ausbalancierten alteuropäischen
Rechtspluralismus gedeutet wird. Zugleich zeigt Seibt, dass die Vertreter
der antirepublikanischen Koalition selbst gegen jegliche Regeln des
alteuropäischen Völkerrechts operierten, etwa im Manifest des Herzogs
von Braunschweig vom 25. Juli 1792, mit dem die französische Republik
ultimativ aufgefordert wurde, den König und die Adelsprivilegien wieder
einzusetzen - bei Strafe der vollständigen "militärischen Exekution" und
des "gänzlichen Ruins" der Hauptstadt Paris (56). Ausführlich führt Seibt
auch die zahlreichen zeitgenössischen Quellen von Friedrich Christian
Laukhard bis Andreas Georg Friedrich Rebmann an, in denen auf den
Rechtsbruch aufmerksam gemacht wird, der an den Mainzer
Republikanern vollzogen worden sei, da ihnen im Übergabeabkommen
zwischen Preußen und Frankreich ein rechtlicher Schutz als "Geiseln" bis
zur Beendigung der Kampfhandlungen gewährt worden war. Schließlich
werden auch langlebige Mythen der gegenrevolutionären Propaganda
entlarvt, wenn Seibt etwa durch einfache Zählungen belegt, dass sich am
Mainzer republikanischen Club prozentual zur Bevölkerungszahl mehr
Bürger beteiligten als die heutige Gesamtmitgliederzahl aller politischen
Parteien zusammen ausmacht (26). In historischen Umbruchszeiten wie
diesen wird so besonders deutlich, dass Rechtsformen keine
überzeitlichen normativen Maßstäbe sind, sondern vor allem
umstrittener Ausdruck der jeweiligen sozialen Herrschafts- und
Machtverhältnisse.
In Goethes literarischen Werken der 1790er-Jahre sind diese Fragen
allgegenwärtig. Wie akribisch er die Ereignisse und Debatten
reflektierte, zeigt Seibt etwa anhand der Rahmenhandlung der
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten von 1794, die zeitlich und
räumlich bis auf den Tag genau im Umfeld der Mainzer Ereignisse
lokalisiert ist und deren Figurenpersonal ein Panorama der beteiligten
Stände und politischen Fraktionen darstellt (66f.). Wird hier von Goethe
vor allem auf die Gefahr eines kommunikationsverhindernden politischen
Fanatismus auf beiden Seiten aufmerksam gemacht, arbeitet Seibt in
Goethes zahlreichen weiteren literarischen Auseinandersetzungen mit
der Revolution wie den Dramen Der Bürgergeneral und Die
Aufgeregten , heraus, dass sie immer zugleich antirevolutionär wie
antireaktionär und antihöfisch zu deuten sind. Dies gelte schließlich noch
für Dichtung und Wahrheit , das nach Seibt als autobiografische
Zeitgeschichtsschreibung gelesen werden sollte. Die Erlebnisse des
Sommers 1793 werden hier 27 Jahre später zu einer kunstvollen
Erzählung ausgeschmückt, mit der sich Goethe in den Diskurs der nun
europaweit in serieller Form erscheinenden Revolutionsmemoiren
einschreibt, in denen, wie Anna Karla kürzlich überzeugend
herausgearbeitet hat, die Revolution in der Restaurationszeit als
zeitgeschichtliches Ereignis medial noch einmal "erfunden" wird. [ 1 ]
Goethes komplexe Haltung zu den tiefgreifenden gesellschaftlichen
Umbrüchen lässt sich nach Seibt am ehesten dahingehend
zusammenfassen, dass die Französische Revolution aufgrund der
spezifischen Bedingungen des dortigen Absolutismus durchaus "Folge
einer großen Notwendigkeit" (113) war, dass aber der Revolutionsexport
nach Deutschland strikt abzulehnen sei, weil dort andere Verhältnisse
herrschten, die von Goethe je nach Lesart mehr oder weniger
gutgeheißen worden seien.
Noch komplexer werden diese Zusammenhänge, wenn man die luziden
Beobachtungen aus Seibts erstem Goethe-Buch gegenliest, in der der
Revolutionsexport ja erst im großen Stil begann. Nach der preußischen
und damit auch weimarischen Niederlage gegen die napoleonische
Armee hat sich Goethe sehr schnell die neuen Grundsätze des Code Civil
als Rechtsnachfolger der Revolutionsverfassungen zu eigen gemacht: die
Aufhebung der Standesschranken im Eherecht hat er unmittelbar für die
Legalisierung seiner Beziehung mit Christiane Vulpius genutzt, wobei er
als Erinnerungszeichen an die politischen Voraussetzungen der Heirat
das Datum der preußischen Niederlage vom 14. Oktober 1806 an Stelle
des Hochzeitsdatums in den Ehering eingravieren ließ. Seinen Sohn
August schickte er zum Jura-Studium an die Rheinbunduniversität in
Heidelberg, wo der Code Civil gelehrt wurde. In der immer engeren
Zusammenarbeit mit dem frankophilen Johann Friedrich Cotta profitierte
er von den neuen ökonomischen Möglichkeiten auf dem literarischen
Markt durch das nun erstmals eingeführte geistige Urheberrecht. [ 2 ]
Und zu seinen wichtigsten Briefpartnern dieser Phase wurden mit Carl
Friedrich Zelter in Berlin, der die städtische Selbstverwaltung unter
Aufsicht des französischen Stadtkommandanten leitete und Karl
Friedrich Reinhard, der als Deutscher im französischen diplomatischen
Dienst tätig war, Akteure, die nach altständischem und romantischfrühnationalem Verständnis als Kollaborateure galten. Solche Praktiken
sagen meist mehr aus als die wie immer rhetorisch motivierten, von der
Kommunikationssituation und vielfältigen sozialen Zwängen geprägten
expliziten Stellungnahmen: der Brief von 1793 richtet sich als
Frontberichterstattung eines weimarischen Untertanen an den
antirevolutionären Jacobi, im Zeugnis von 1820 stilisiert und historisiert
sich der Weltliterat. Und diese Praktiken machen schlagartig die ganze
Ambivalenz der revolutionären Herausforderungen der alten deutschen
Fürstentümer für Goethe und die große Mehrheit der deutschen
Intellektuellen zwischen Besatzung und Befreiung deutlich. Nicht die
Kategorie des "Exportes" von anderswo nicht passenden
Rechtsverhältnissen wäre dann die entscheidende differentia specifica in
Goethes Bewertung der Revolution, sondern die - von Seibt ebenfalls ins
Zentrum gestellte - Kategorie der "Ordnung". Mit einem von einem
starken Gewaltmonopol garantierten geordneten Umbau der
Ständegesellschaft konnte Goethe sich offenbar gut arrangieren, auch
wenn die neuen Rechtsgrundsätze "von außen" kamen.
Mit seinen überaus inspirierenden Goethe-Studien öffnet Seibt so ein
weites Feld für eine Literaturgeschichtsschreibung, die sich als
praxeologisch orientierte politische Ideengeschichte versteht. Damit
verbunden ist eine doppelte Historisierung: Literatur wird konsequent
als historische Quelle und Reflexionsform der jeweiligen politischen,
ökonomischen und kulturellen Situation verstanden - eben als
Zeitgeschichtsschreibung. Zugleich werden die jeweiligen Kategorien zu
ihrer Deutung selbst historisiert, da es in der politischen Ideengeschichte
keine neutralen Prozessbeobachter gibt.
Anmerkungen :
[ 1 ] Anna Karla: Revolution als Zeitgeschichte. Memoiren der
Französischen Revolution, Göttingen 2014.
[ 2 ] Bernhard Fischer: Johann Friedrich Cotta. Verleger - Entrepreneur Politiker, Göttingen 2014.
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