Hochschule für Musik Saar ‐ Projekt: Freie Improvisation lehren und lernen Prof. Claas Willeke Dr. des. Barbara Neumeier Lecture 4 Lecture 4 beschreibt mögliche Arbeitsweisen, die die Umsetzung von instant composing und graphischer bzw. struktureller Komposition im Probenprozess verdeutlichen. Sie baut somit auf die Einzelarbeitsschritte aus Lecture 3 auf. In dieser Art zu arbeiten liegt die Fokussierung auf dem gemeinsamen Kreieren im Ensemble von Stücken mit unterschiedlichen Vorgaben. Selbstverständlich sind alle erarbeiteten Parameter, die in den anderen Lectures dargestellt wurden, Teil dieser Stücke. Somit fliessen die Erfahrungen, die die Musiker des Ensembles im Laufe der Arbeitsphase gemacht haben, ein. Daher stammen alle Beispiele von Proben, die erst gegen Ende des ersten und im zweiten Semester, sprich nach einer Vielzahl von detaillierten Arbeitsphasen zum freien Spiel, gemacht wurden. Die Frage nach dem „Schaffensprozess“ kann nicht nur auf der Ebene des spontanen Komponierens untersucht werden, auch das „geplante“, schriftlich niedergelegte Entstehen einer Musik soll in diesem Zusammenhang erläutert werden. Daher stand in dieser Lecture Komposition und Dirigieren im Vordergrund. Das Dirigieren hatte zunächst den Zweck, eine spontane „instant composition“ zu vermitteln. Es gab somit nur einen Komponisten, der die Band als Orchester nutzt, um seine Klangvorstellungen aus dem Moment heraus zu realisieren. Ähnlich wie bereits in Lecture 2 erläutert, stand der jeweilige Dirigent in der vollen Verantwortung, andererseits konnte er nur gestisch Modelle andeuten. Mittlerweile wurde aber zusätzlich eine Zeichen-Sprache in vorausgehenden Proben eingeführt und erprobt. Somit gibt es bestimmte Gesten, die im Ensemble bekannt sind. Das Bewusstsein, dass es eine Diskrepanz zwischen Imagination und realem Klang gibt, wurde geschärft. Die Interpretation geschah nach wie vor improvisatorisch durch die Spieler. Man konnte Dynamik, Energie und Besetzung zeigen, das WAS allerdings konnte ohne Notation nicht eindeutig festgelegt werden. Somit entstand eine Interaktion zwischen Schaffendem und Ausführenden, die gleichzeitig auch Schaffende waren. Die Kommunikation und Interaktion innerhalb der Band spielte eine große Rolle, das Heraustreten aus der Gruppe, das Eingebettet sein in die Metastruktur „Band“ bezweckte eine dialogische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Musikmaterial. Auch das Gespür, wann Formteile zu Ende sind und wie man damit umgeht, reagiert, interagiert, wurde über diese Übung geschärft. ‐ 1 ‐ Hochschule für Musik Saar ‐ Projekt: Freie Improvisation lehren und lernen Zur Wiederholung wurde die Aufgabe gestellt, aus dem Moment heraus, ohne Vorgaben und im Spannungsfeld zwischen der Idee des Dirigenten und den Angeboten der Musikerinnen ein Stück zu improvisieren bzw. komponieren. Ziel war wie zuvor, ohne selbst spielen zu müssen, eine größtmögliche Flexibilität im Gestalten von ganzen Stücken, einen offenen Umgang mit den musikalischen Ereignissen und außermusikalische Bühnenkommunikation zu üben. (V4, ab Min 0:59) Nun aber wurde diese Spielform verändert. Alle Ensemblemitglieder wurden gebeten, innerhalb von 5 Minuten eine kurze musikalische Struktur, die spontan dirigierbar ist, zu entwerfen. Struktur im Sinne von Art des Stücks, Form, Besetzung, Solistin, Sound, Dynamik, etc. Diese wurde in Stichworten notiert, dem Ensemble in wenigen Sätzen verbal vorgestellt und dann dirigiert. Die Umsetzung ist wiederum ein improvisatorischer Umgang seitens des Ensembles und ein offenes Dirigieren seitens des Leiters. Ziel war hier, vor der Kreation allen Beteiligten eine Vorstellung vom Stück in wenigen Worten zu formulieren, und es dann anzuleiten. (V4, ab Min 5:57) Das Aufschreiben und Umsetzen von Ideen half, eine deutlichere Reflexion über die Idee des „Stückes“ an sich zu schaffen. In der schriftlichen Darstellung wurde der Aspekt der Struktur wiederum auf anderer, für die Studierenden oftmals konkreteren Ebene, verdeutlicht. Das Nachdenken über diese Schnittmenge aus Improvisation und Komposition bildete schließlich den temporären Endpunkt der methodischen Entwicklung, der in das Spielen eines freien Stückes mündete, das alle Lernfelder mit einbeziehen sollte: Parameter wie Dynamik, Timing, Artikulation, u. a., Kommunikation, Interaktion, in der direkten Reaktion auf eine musikalische Idee, die Form mit eventuellen Wiederholungen und der Gesamtausdruck und Gesamtklang als Band. Die anschließende Arbeit zeigte ein ähnliches Prinzip, mit ähnlichen Zielen. Die Musiker waren beauftragt, eine graphische Komposition zur nächsten Probe mitzubringen. Graphisch im Sinne von Symbolen, Kollagen und gezeichneten musikalischen Spielanweisungen oder Verläufen. Es war Vorstellungskraft, formales Denken und ungewöhnliche Notierung von Musik gefragt, ebenso das Verbalisieren all dessen. Denn die Stücke wurden einmal vom Blatt, und ein zweites Mal nach detaillierter Erläuterung gespielt. Die Ergebnisse waren nicht nur graphisch, sondern auch musikalisch geprägt von vielen in den letzten Monaten gearbeiteten Lernerfolgen. Auch die Reflektion und Interpretation erfuhr in der gemeinsamen Analyse der Aufnahmen eine deutliche Konkretisierung. (V4, ab Min 9:56) Vergleicht man nun diese letzten Stücke mit den ersten, ist eine deutliche Entwicklung erkennbar. Die Musiker agieren als Band, alles, was geschieht, geschieht mit Umsicht und Wahrnehmung der aktuellen Situation. Man sieht sich als Teil einer Gruppe und kann nach bestimmten „Regeln“ agieren: mal als Solist, mal als ‐ 2 ‐ Hochschule für Musik Saar ‐ Projekt: Freie Improvisation lehren und lernen Begleitinstrument, mal im Duo, mal als Initiator, mal als Reagierender. Das Bewusstsein für die musikalische Idee, das Kreieren eines ästhetischen „Ergebnis“ bleibt reflektierend im Hintergrund, während der Prozess sich aus dem Moment heraus entwickelt. Gruppendynamische „Störfaktoren“, wie etwa das provozierende „Nichtagieren“ oder „Nichtreagieren“ werden nicht als solche wahrgenommen, sondern bilden – sich erklärend aus unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen der individuellen Spieler – Ansatzpunkte eines kreativen Umgangs mit musikalischem Material im anthropologischen Bedingungs- und Entscheidungsfeld einer Unterrichtssituation. So scheint offensichtlich, dass die individuellen Persönlichkeitsmerkmale direkter in der Musik zu spüren sind, als dies vielleicht in der „klassischen Musik“ der Fall ist; in dem Sinne, dass jeder Moment im Spielkontext aus dem Spannungsfeld „Bedingung / Entscheidung“ beeinflusst wird. Der Rahmen der Spielsituation ist vorgegeben, doch muss jeder Spieler immer entscheiden, ob und wie er nun reagiert. Auch das o. g. Nicht-Spielen ist eine musikalische Äußerung, die aus einer bewussten Entscheidung entstanden ist. Die Gründe liegen weniger im Spieltechnischen als im intrapersonellen Kontext. Diese Lecture vereinigt kumulativ die Komponenten und Arbeitsweisen der vorausgehenden Lectures. So lassen sich schließlich Einzelergebnisse übertragen und generalisieren. Daher seien an dieser Stelle die Kernthesen, Ergebnisse bzw. Dimensionen des Projektes zusammenfassend dargestellt. Kernthese 1: (Freie) Improvisation ist erlernbar und lehrbar; Kernthese 2; (Freie) Improvisation folgt Strukturen, ist analysierbar, bewertbar und damit gattungsästhetisch positionierbar; Die Dimensionen des Projektes lassen sich vielleicht am besten in Anlehnung an die Feedbackrunden, die die Dozenten mit den Studierenden durchführten, beschreibend aufzeigen. Es kristallisierten sich die Aspekte Kommunikation, „Sinnesschärfung“/Sensibilisierung und vor allem auch Transfereffekte auf das Spielen anderer Musik, z. B. traditionellem Jazz, als Kerninhaltsbereiche des Lernens, in denen alle Teilnehmer eine persönliche Weiterentwicklung und Lernerfolge für sich verzeichnen, heraus. Kommunikation wird hier als die Verständigung zwischen den einzelnen Ensemblemitgliedern verstanden. Dazu gehört zunächst das Hören und Wahrnehmen der Mitspieler, der schnellen Analyse des Gehörten und dann dem Reagieren darauf. Die Möglichkeit, in welchen Weisen man darauf reagieren kann, entwickelt sich mit zunehmendem Fortschritt des Projektes. So geschieht eine stetige Differenzierung der „Basisreaktionen“. Diese sind das „sich-der-Idee-des-anderenAnschließen“ einerseits und das „ich-spiele-„gegen“-die-aufgebrachte-Idee“ ‐ 3 ‐ Hochschule für Musik Saar ‐ Projekt: Freie Improvisation lehren und lernen andererseits. Daraus entwickelt jedes Ensemblemitglied individuelle Techniken, die im Laufe des Projektes durch gezieltere Aufmerksamkeit und immer versiertere Spieltechniken geformt werden. Die eigene Rolle innerhalb der Band wird wahrgenommen, gefestigt oder verändert und eine gemeinsame Ensemblesprache – im Sinne eines Zeichensystems, das nach und nach mit Bedeutungen belegt wird, die jeder verstehen kann, wird gefunden. Durch die anwachsende Komplexität der Aufgaben wird die Sensibilität für die Musik und die Äußerungen der anderen geschärft, man fühlt sich sicherer und setzt sich mehr mit Unbekanntem auseinander, lässt sich darauf ein. Die Transfereffekte, die von den Studierenden benannt werden, lassen sich nicht isoliert betrachten. So wird es keinen monokausalen Zusammenhang mit der Teilnahme an diesem Improvisationsensemble und dem freien Spiel in einem anderen Bandzusammenhang im Studium geben. Dennoch wird diese Art, mit Musik umzugehen, positive Effekte auf die Persönlichkeit und das Spielverhalten haben, die dann im Zusammenspiel mit allgemeinen psycho-sozialen und instrumententechnischen Entwicklungen der einzelnen positive Auswirkungen auf das Spiel im Allgemeinen haben. Abstraktere Effekte lassen sich allgemein auf Handlungs- und Lösungskompetenzen verzeichnen, indem divergentes Denken im kreativen Spiel gefordert wird, das wiederum flexiblere Handlungsmöglichkeiten offen legt. Die Kernthese der Bewertbarkeit impliziert die Entwicklung von Bewertungskriterien und Vergleichsmaßstäbe. Diese ergeben sich einerseits aus der Individualentwicklung der Ensembles und andererseits im Vergleich mit Experten, im Sinne eines „Experten-Novizen-Paradigmas“. Die Bewertungskriterien, ob eine Improvisation gelungen war, setzt schließlich die Überprüfbarkeit der einzelnen Parameter aus dem Unterricht voraus: der musikalische Umsetzung einerseits (Zusammenspiel, Form, Spannungsverlauf, melodisch-harmonische Zusammenhänge), aber immer in Verbindung mit der Fähigkeit der individuellen Reaktion andererseits. Die Studierenden hatten relativ schnell ein Gespür dafür, ob das Stück „gelungen“ war oder nicht und konnte im Verlauf des Projektes auch immer differenzierter benennen, woran sie dies maßen. Die Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen und Ergebnissen lautet: Kernthese 3: Alle Musiker müssen und alle Menschen sollten Improvisation erlernen. Nun sei das Stück nicht vorenthalten, welches zum Abschluss des Prozesses gespielt wurde. Frei improvisiert, keine Vorgaben, keine Absprachen, aus dem Moment heraus. (V4, ab Min 23:10) ‐ 4 ‐