Blick von aussen – Zusammenfassende Rückschau auf

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Nationale Tagung Schadensminderung, Volkshaus Biel, 13. Dezember 2007
Blick von aussen – Zusammenfassende Rückschau auf die Tagung
Isabelle Jacobi, freie Journalistin, New York
1. Haupteindruck
Ich lebe in New York, in den USA, in einem Land, wo nach wie vor eine repressive Drogenpolitik praktiziert
wird gemäss dem Prinzip „Zero Tolerance“ - null Toleranz - gegenüber Drogen und Drogenkonsumierenden.
Folgerichtig liegt der Schwerpunkt auf der Repression, was zu einer massiven Überbelastung des
Gefängnissystems geführt hat: In den USA sitzen gegenwärtig eine halbe Million Drogendelinquenten in
Haft. Das sind mehr als in Europa mit seiner höheren Bevölkerungszahl insgesamt inhaftiert sind. Rund
eineinhalb Millionen Menschen werden jährlich in den USA wegen Drogenbesitzes verhaftet – davon 40%
wegen Besitzes von Marihuana. Die Prävention setzt auf Abstinenz, so propagiert zum Beispiel das dem
Weissen Haus angegliederte „Büro für nationale Drogen-Politik“ drogenfreie Quartiere und Arbeitsplätze
als erstrangige Präventivmassnahme. Massnahmen zur Schadensminderung werden in den USA sogar
offiziell bekämpft. Seit 1988 dürfen für Spritzenabgabe-Projekte keine Bundesgelder fliessen; in den
meisten Staaten ist der Spritzentausch kriminalisiert. Das Therapieangebot widerspiegelt die soziale
Ungleichheit in den USA: Der einfache Drogensüchtige wird seinem Schicksal überlassen, während sich
„Celebrities“ in die Luxus-Rehab einchecken.
Eingedenk der Situation in den USA möchte ich als Auslandschweizerin in Erinnerung rufen, wie progressiv
die Schweizer Drogenpolitik ist. So ist mir auch heute an dieser Bieler Tagung die Differenziertheit und
Realitätsnähe der unter Drogenfachleuten geführten Diskussion positiv aufgefallen. Wir haben in der
Schweiz eine kohärente, gesetzlich verankerte Drogenpolitik, die auf den drei Säulen Prävention, Therapie
und Repression ruht. Wie SP-Nationalrätin Jaqueline Fehr in ihrem Referat erläuterte, soll demnächst die
vierte Säule der Schadensminderung und Überlebenshilfe hinzugefügt und damit das
Betäubungsmittelgesetz an die Realität der Präventionspraxis angepasst werden.
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2. Zusammenfassung Tagung
2.1. Hepatitis C als Herausforderung
Die Referate am Vormittag der Bieler Tagung waren dem Thema Hepatitis C gewidmet.
a) Handlungsbedarf: Die epidemologischen Zahlen sprechen für einen eklatanten Handlungsbedarf: In
der Schweiz leben zwischen 35'000 und 70'000 Menschen mit Hepatitis C, das sind mehr als HIV-Positive.
Pro Jahr erfolgen ca. 2500 neue Hepatitis-C-Diagnosen, davon sind 50 - 60% Drogen-Konsumierende. Bis zu
90% der intravenös Drogen Konsumierenden (IDU) sind bereits angesteckt.
b) Therapie- und Präventionsdefizit: Obwohl Kontakt- und Anlaufstellen Hepatits-C -Tests
durchführen, ist es schwierig, Infizierte zu einer Therapie zu bewegen. Das hat verschiedene Ursachen, z.B.
mangelndes Problembewusstsein, was mit dem schleichenden Krankheitsverlauf und der langen
Inkubationszeit von Hepatitis C zu tun hat, sowie mangelnde Therapiebereitschaft bei
Drogenkonsumierenden, verursacht durch ihre Lebensumstände, Angst vor Nebenwirkungen einer
Therapie sowie einem gewissen Fatalismus („Früher oder später stecke ich mich sowieso an“). Auch
wurden strenge Zulassungsregeln wie ein Substitutions-Obligatorium zu Therapieprogrammen kritisiert.
Nicht zuletzt seien es Diskriminierungsmechanismen im Gesundheitssystem, die eine höhere
Therapiebeteiligung vereiteln würden.
c) Sensibilisierungs-Kampagne HEPCH: Die Kampagne mit Startschuss im Sommer 2008 will sowohl
Sucht-Fachleute wie auch Drogen-Konsumierende für die chronische Leberkrankheit sensibilisieren.
Kernstück ist ein Materialkoffer (Broschüre, DVD, zielgruppenspezifisches Präventionsmaterial,
Schulungsunterlagen), um die Botschaft zu Hepatitis C via Suchtexperten, Gassenarbeiter und Peers an die
Drogenkonsumenten zu bringen. Ziel ist es, Neuansteckungen zu verringern und Infizierte zu einer Therapie
zu bewegen. Bei der Entwicklung des Materialkoffers ist es von besonderer Wichtigkeit, dass die Kampagne
die Konsumierenden dort abholt, wo sie sich befinden, gemäss dem Marketing-Prinzip: Kenne Deinen
Kunden.
d) Hepatitis C aus der Optik der 4 Säulen der Schweizer Drogenpolitik
- Hepatitis C und Schadensminderung: Bericht aus dem Gassenzimmer von Première Ligne in Genf, wo
Infizierte die Krankheit banalisieren würden.
- Hepatitis C und Therapie: Bericht aus der Zürcher Methadon-Abgabestelle Zokl1, wo hartnäckige
Überzeugungsarbeit geleistet werde, um Infizierte zu einer Therapie zu bewegen.
- Hepatitis C und Prävention: Bericht aus der Sicht eines Migrationsexperten des Schweizerischen Roten
Kreuzes: MigrantInnen würden von Präventionskampagnen oft ausgeschlossen.
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- Hepatitis C und Repression: Bericht aus der Sicht eines Gefängnisarztes. Gefängnisse seien eigentlich Orte,
wo Prävention und Therapie greifen könnte, wo aber der Spritzentausch erschwert seien und viele
Neuansteckungen erfolgen würden.
2.2. Peer-Arbeit: Erfahrungen aus Portugal
Die HEPCH wird beim Marketing der Kampagne auf Peer-Arbeit zählen. Eine Medizinerin und ein
Gassenarbeiter aus Portugal erzählen von ihren positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Peers.
Die Selbstorganisation sei fundamentaler Bestandteil einer erfolgreichen Schadensminderung.
3. Verankerung der Schadensminderung im Betäubungsmittelgesetz
Referat von Nationalrätin Jaqueline Fehr (Nationale Arbeitsgemeinschaft Suchtpolitik) zur neusten
Entwicklung in der Teilrevision des Bundesgesetzes.
4. Ateliers zur Schadensminderung in den 4 Säulen der Schweizer Drogenpolitik
Zu folgenden Themen wurden am Nachmittag Ateliers durchgeführt:
- Schadensminderung – Therapie:
a) Substitution und Beikonsum
b) Therapie & Rückfall
- Schadensminderung – Prävention:
a) Nightlife
b) Jugendliche & Alkohol
- Schadensminderung – Repression:
a) Prostitution & Gewalt
b) Obdachlosigkeit & Randständigkeit
Ich habe mich zu zwei Ateliergruppen dazu gesetzt, um die Diskussion zu den Fallgeschichten genauer zu
verfolgen. Auffallend war, wie schnell Meinungsunterschiede zum Vorschein kamen sowie die Schwierigkeit,
das Wissen aus der Präventionstheorie in die Praxis umzusetzen.
Im Atelier zu „Nightlife“ ging es um einen alkoholisierten Einsteiger, der an einer Party Kokain schnupfen
will, um besser Autofahren zu können. Er besucht den Präventionsstand und will wissen, ob Kokain wirklich
nüchtern mache.
Was soll der anwesende Suchtexperte tun? Die Voten erstreckten sich von 1) dem Mann sofort die Schlüssel
wegnehmen, bis 2) vorsichtig dem Mann erklären, dass Kokain nicht fahrtauglich macht.
Im Atelier „Obdachlosigkeit & Randständigkeit“ ging es um ein junges Paar, das auf der Gasse lebt. Die Frau
interessiert sich für das Methadon-Programm, aber erhält als Auswärtige keinen Zutritt in die Kontaktund Anlaufstelle. Was sollen die Mitarbeitenden der K- und A-Stelle tun? Die Voten erstrecken sich von a)
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der Frau helfen, sich in der neuen Gemeinde anzumelden, bis b) die Frau in ihre alte Gemeinde
zurückzuschaffen.
5. Fazit
Die Tagung verdeutlichte, wie viel fundiertes Wissen es in der Drogenprävention und Schadensminderung
gibt und wie schwierig es ist dieses Wissen in die Praxis umzusetzen, wo Suchtberater oft mit
Krisensituationen konfrontiert sind, die sie aus eigenem Ermessen versuchen zu meistern.
Ich persönlich – so amerikanisiert bin ich – finde den Marketing-Aspekt interessant, der mehrere Male
während der Tagung zur Sprache kam, und zwar Marketing im Sinne von Kundennähe. Je besser man die
Bedürfnisse und das Verhalten von Kunden kennt, desto effizienter kann man die Botschaft übermitteln.
Effizientes Marketing, das mehrere Kanäle simultan für dieselbe Botschaft gebraucht – von persönlichen
Kundenkontakt bis zum Logo – ist aber nur möglich, wenn die zu vermittelnde Botschaft konstant bleibt.
Dies ist in der heterogenen Landschaft der Schweizer Drogenpolitik, wo regionale und kantonale
Differenzen ausgeprägt sind, kaum zu erreichen. Im Sinne einer realistischen, effizienten
Schadensminderung ist
m.E. eine viel stärkere Vernetzung vonnöten, horizontal zwischen den Regionen und vertikal zwischen
Organisationen wie Infodrog, die Wissen generieren, und den Männern und Frauen an der Front. Nicht
zuletzt dienen Anlässe wie die Bieler Tagung dazu. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer sehr wichtigen
Arbeit.
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