424_480_BIOsp_0414_- 06.06.14 07:29 Seite 478 478 I M S PE KTR U M · VOR SCH AU The Föhr Reef Ein Korallenriff in Handarbeit © Springer-Verlag 2014 ó Als ein Wunder der Natur erstreckt sich entlang der Küste Australiens das Great Barrier Reef. In seiner überschwänglichen Fülle an Formen und Farben ist es einzigartig und zugleich ein fragiles Ökosystem, dessen Gesundheitszustand als Indikator für die Auswirkungen der globalen Erwärmung, Verschmutzung und Übersäuerung der Meere gilt. Der sich durch den Klimawandel dramatisch verändernde Zustand der Korallenriffe war den australisch-stämmigen Zwillingsschwestern Margaret und Christine Wertheim (die eine Physikerin, die andere Künstlerin) bewusst, die am Great Barrier Reef aufwuchsen und die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf diese Veränderungen lenken wollten. Ausschlaggebend für die Kombination aus Natur und Naturwissenschaft war Margaret Wertheim, die Korallen als Variation des „hyperbolischen Raumes“ kennt – einer abstrakten mathematischen Struktur. Die Mathematikprofessorin Daina Taimina wählte bereits 1997 die Form des Häkelns als ideales Medium für die Umsetzung der hyperbolischen Geometrie. Mithilfe korallenartiger Gebilde gelang es ihr, den hyperbolischen Raum zu visualisieren. Daina Taiminas Algorithmus war strikt mathematisch: ein in sich selbst gekrümmter und sich an jedem Punkt weiter ausdehnender Raum – ein wenig wie ein Salatblatt oder gewellte Häkelteilchen, in denen reihenweise überzählige Maschen aufeinanderprallen. Dies entspricht der natürlichen Bauweise von Korallen. Indem die Wertheim-Schwestern Variationen und Abweichungen in den Häkelcode einführten, entdeckten sie eine sich kontinuierlich entwickelnde Taxonomie von Formen, die Korallenriffen ähnelten. Mit Häkelnadel und Wolle schufen sie naturgetreu fransige Anemo- nen, zinnenartige Korallen und verschnörkelte Blumentiere, eine textile Nachbildung der teilweise verblichenen maritimen Wunderwelt. Mit dem 2003 in Los Angeles, USA, gegründeten Institute for Figuring als Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft gelang es Margaret und Christine Wertheim, das Projekt des gehäkelten Korallenriffs als ökologisches Mahnmal und kollektives Kunstwerk in diversen Kunstmuseen auszustellen. Das Hyperbolic Crochet Coral Reef (HCCR) ist seinem Wesen nach ein gemeinschaftliches, dynamisches Projekt, welches Menschen aus allen Gesellschaftsschichten verbindet. Mit der Hilfe über 5.000 Freiwilliger entstanden lokal gehäkelte Satellite Reefs in den USA, Japan, Südafrika und England, Lettland und Kroatien, in denen sich Geometrie, Handarbeit, Meeresbiologie, ökologisches Bewusstsein und kollektive Kunstpraxis vereinen. Das deutsche Satellite Reef – The Föhr Reef entstand im Museum Kunst der Westküste auf der Nordseeinsel Föhr zwischen Januar und Juni 2012. An dem grenzübergreifenden Projekt in Verbindung mit dem Museum Sønderjylland in Dänemark beteiligten sich über 750 Teilnehmer, entweder bei lokalen Häkelsitzungen oder durch Zusendungen der gehäkelten Korallen aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Österreich, Luxemburg und der Schweiz. Aus über 5.000 Korallen wurde ein 30 Quadratmeter großes Riff entwickelt, das von Juni bis September 2012 präsentiert wurde. Nach Ausstellungen im Museum Kunst der Westküste, im Museum Sønderjylland in Tondern und dem Museum der Universität Tübingen wird The Föhr Reef vom 23. Juni bis zum 14. Dezember 2014 im Deutschen Textilmuseum Krefeld in der Ausstellung „Häkelkosmos – Von ˚ Über 750 fleißige Teilnehmer(innen) aus sechs Ländern gestalteten in unzähligen Häkelstunden mehr als 5.000 Korallen für das Föhr Reef. © Gerhard Kassner. Korallenriffen, Biotopen und schwarzen Löchern“ zu sehen sein. Parallel zum Föhr Reef entstand das West Coast Plastic Reef – ein giftiges Riff in Form wild wuchernder Konglomerate aus Plastikabfällen, welches als postmoderner Zwilling zum gehäkelten Riff aus Garn auftritt. Das Plastic Reef wird auf der Sonderausstellung „Anthropozän“ des Deutschen Museums in München ab Dezember 2014 zu sehen sein. Die ausgesprochen starke globale sowie mediale Verbreitung der Satellite Reefs lässt hoffen, dass sich bezüglich des Klimawandels und der stetig wachsenden Ansammlung von Plastikmüll in den Meeren Veränderungen im Denken der Menschen ergeben, um die hierdurch besonders gefährdeten Naturphänomene unserer Erde schützen und bewahren zu können. ó Martina Nommsen, Gabriela von Hollen-Heindorff, Museum Kunst der Westküste, Föhr Weitere Informationen zum HCCR-Projekt auf www.crochetcoralreef.org, zum Museum Kunst der Westküste auf www.mkdw.de VORSCHAU WISSENSCHAFT ANWENDUNGEN & PRODUKTE KARRIERE, KÖPFE & KONZEPTE Aufbau und Funktion einer bakteriellen Nanomaschine Präparation von Hartgeweben und anderen Materialien Toxikologie-Preisträger 2014 Bildgebende Massenspektrometrie Membranfusion für den direkten Zellimport Wachstumskontrolle durch Transkriptionsinhibitoren Special: DNA-/RNA-Sequenzierung Tissue Engineering Im Spektrum: Vom Spinnen in der Kunst Erscheinungstermin: 02. September 2014 BIOspektrum | 04.14 | 20. Jahrgang