KULTUR Eine Taucherin beobachtet einen Punktkugelfisch. Das Great Barrier Reef ist die größte Ansammlung maritimen Lebens auf der Erde. chon Stunden, bevor wir die Nordspitze Australiens überhaupt erreicht haben, können wir uns nicht sattsehen an den Atollen, Inseln, Cays und Sandbänken, die ein gnädiger Gott mit viel Sinn für Ästhetik als Wegweiser von PapuaNeuguinea bis nach „Down Under“ in die Südsee geschüttet hat. Wie eine Perlenkette reihen sich 900 Inseln entlang dem größten Riffsystem der Welt. 2 300 Kilometer zieht sich das Meisterwerk der Natur, das selbst vom Mond aus noch gut zu sehen ist, die gesamte Küste von Queensland bis zu dessen Hauptstadt Brisbane hinunter. Aus dem Flugzeug kann man wunderbar erkennen, wie sich das Riff vor Cooktown, wo James Cook 1770 strandete und so zum unfreiwilligen Entdecker wurde, eng an die Küste schmiegt, um nach Süden immer weiter vom Festland abzurücken. Cairns im Norden ist mit zahlreichen Anbietern das wichtigste Ausgangstor für Bootstouren aller Art zum Great Barrier Reef. Wir jedoch erreichen das Riff weiter südlich mit dem Wasserflugzeug über die Whitsunday Islands. Sind schon die ultraweißen Strände der Inselgruppe nur mit kitschigen Worten zu beschreiben, so verschlägt es uns vor S GREAT BARRIER REEF „Nur gucken, nichts anfassen“ Das Riff an der Nordostküste Australiens ist das am stärksten bedrohte Ökosystem des Planeten. Doch es ist auch eine Zauberwelt aus Blau und Grün. der Landung vollends die Sprache. Mitten im türkisfarbenen Wasser der Lagune liegt ein sportplatzgroßes Herz im Wasser – Heart Reef, das märchenhafte Symbol des Great Barrier Reef. Übernachten mitten im Pazifik Sechs Pontons gibt es an Australiens Ostküste. Die fest im Riff verankerten, doppelstöckigen Plattformen dienen als Basis für Taucher und Schnorchler. Jeder der privaten Betreiber hat ein „lokales Riffmonopol“. Nur seine Boote, Helikopter und Wasserflugzeuge dürfen dort anlegen. Unser Ponton befindet sich in einem tiefen Kanal am Rand des Hardy Reef. Mit seinen Deutsches Ärzteblatt | Jg. 109 | Heft 19 | 11. Mai 2012 zwei Zimmern ist Reefsleep die einzige Plattform Australiens, auf der man auch übernachten kann – mitten im Pazifik, allein unter dem Kreuz des Südens. „Nur gucken, nichts anfassen“, hat John uns vor dem ersten Tauchgang am Außenriff gewarnt. Eigentlich gebe es hier keine „box jellyfish“, wie im Norden, wo an vielen Stellen nur innerhalb von mit Netzen gesicherten Arealen gebadet werden darf. „Aber wenn du das Gift der hübschen Würfelquallen mit den meterlangen Tentakeln abkriegst und nicht gleich stirbst, dann wünschst du dir zumindest, tot zu sein, so weh tut das.“ Da der Tauchlehrer vor Tagen einige der nur zwei Zentimeter großen, gleichwohl gefährlichen Irukandji-Quallen gesehen hat, müssen alle einen hauchdünnen Ganzkörperanzug überstreifen, bevor sie ins Wasser gehen. „Das Great Barrier Reef ist die Heimat für die größte und vielfältigste Ansammlung maritimen Lebens auf der Erde“, wurden wir gleich nach der Ankunft auf der Plattform belehrt. Wir hegen nicht den leisesten Zweifel daran. Beglückt treiben wir zwischen zahllosen Fischen durch den bunten, von A 981 Fotos: mauritius images KULTUR Blick von einem Taucherboot: 2 300 Kilometer zieht sich das Meisterwerk der Natur die gesamte Küste von Queensland hinunter. 900 Inseln reihen sich wie Perlenschnüre entlang des größten Riffs der Welt. Behäbige Suppenschildkröten Heron Island, eine kleine Insel in einmaliger Lage direkt auf dem südlichen Riff, ist heute berühmt und war früher berüchtigt wegen eben jener grünen Schildkröten. Es gibt keine Autos, keine Straßen und wegen der großen Entfernung zum Festland auch keine Krokodile, Schlangen oder Spinnen. Dafür gibt es Hunderttausende von schwarzen Seeschwalben in einem dichten Wald aus seltenen Pasoniabäumen, umgeben von einem Mangrovengürtel. Die hohen Luftwurzeln der Mangroven werden ganz umschlossen von schneeweißem Sand, der sich in den flachen Korallengärten verliert, die in allen erdenklichen Blau- und Grüntönen changieren. Der Ort unserer zweiten Begegnung mit dem Riff war ehemals eine Suppenfabrik und ist heute Nationalpark. Damit sind der touristischen Vermarktung enge Grenzen gesetzt. Früher hingegen wurden auf Heron Island im großen Maßstab Schild- A 982 kröten verarbeitet. Das ist der Grund, warum man überhaupt auf der Insel wohnen darf. Denn das angenehm ruhige Ressort, in dem wir untergebracht sind, und die renommierte Heron Island Research Station mit ihren Forschungslaboren befinden sich auf dem Gelände der ehemaligen Schildkrötensuppenfabrik. Wie Robinson nehmen wir Besitz von der Insel. Zunächst umrunden wir sie auf dem zehn Meter breiten kristallinen Sandstrand. Dann erkunden wir auf schmalen Pfaden durch den Pasoniawald das Inselinnere, immer begleitet von den Black Noddies, die oft nur in Kopfhöhe an uns vorüberfliegen. Der eigentliche Höhepunkt von Heron Island ist aber auch hier die faszinierende Unterwasserwelt. Selbst vom Bootssteg aus kann man beobachten, wie elegante Stachelrochen durch das türkisfarbene Wasser gleiten oder behäbige Suppenschildkröten sich inmitten bunter Fischschwärme die Sonne auf den Panzer scheinen lassen. Es sind nur wenige Schritte vom Ressort bis zur Forschungsstation. Die Heron Island Research Station hat internationale Bedeutung. Sie ist die größte universitäre Meeresforschungsstation in Australien. Tim Harvey zeigt auf Dutzende von Aquarien, in denen mit unterschiedlichen Wassertemperaturen die Widerstandsfähigkeit von Korallen und anderen Meerestieren Frisch geschlüpft Foto: dpa Tunneln und Kanälen unterbrochenen Zauberwald, bis John das Zeichen zum Auftauchen gibt. Absoluter Höhepunkt, da sind sich alle einig, während wir auf dem Oberdeck schon in Schlafsäcke eingemummelt den Geräuschen des Riffs lauschen und den Tag noch einmal Revue passieren lassen, sei das Schwimmen neben einer der riesigen Suppenschildkröten gewesen. getestet wird, und bringt uns gleich die Gefahren nahe, die dem Great Barrier Riff drohen. „Das Riff ist ein äußerst komplexes und fragiles System, das wegen der globalen Erwärmung unter enormen Druck steht“, sagt der Leiter der Forschungsstation. „Korallen leben in Symbiose mit einer Algenart, von der sie ihre Nährstoffe beziehen. Steigt die Temperatur, produzieren die Zooxanthellen keinen Zucker mehr, und die Koralle bleicht aus.“ Im Norden sind einige küstennahe Riffe bereits stark beschädigt. Denn bleiche Korallen sind nicht nur unschön, sondern auch äußerst anfällig. Die „Große Barriere“ schützt die gesamte Ostküste vor Stürmen. Das Great Barrier Riff sei das am stärksten bedrohte Ökosystem des Planeten, meint Tim Harvey. Darüber seien sich Australiens Wissenschaftler einig. Das Gift eines Box Jellyfish ist sehr gefährlich. Deshalb müssen Taucher sich mit Ganzkörperanzügen schützen. Tims Forschungsschwerpunkt und seine große Leidenschaft sind jedoch die Meeresschildkröten. In der Nacht, wenn alle Bungalows abgedunkelt sein müssen, damit die frisch geschlüpften Schildkröten den Weg zum Meer finden, begleiten wir ihn mit schwachen Taschenlampen zum Strand, um bei der Geburt dabei zu sein. Während wir zuschauen, wie eine Babyschildkröte aus dem Nest herauskrabbelt und sich unbeholfen auf den Weg ins Meer macht, erklärt uns Tim, dass die um Heron Island heimischen Schildkröten keineswegs die Eltern sind. Diese kommen nämlich von weit her. Bis zu 1 000 Kilometer schwimmen die Meeresschildkröten von ihren Futterplätzen bis zur Brutstelle, um Eier zu legen. „Seit 120 Millionen Jahren machen sie das nun schon so, aber die Gefahren waren noch nie so groß“, sagt der engagierte Forscher. „Von 1 000 Babys überlebt nur eines.“ Und während unsere Babyschildkröte gerade im fahlen Mondlicht ins funkelnde Wasser eintaucht, haben wir alle für die letzte Nacht auf der Insel nur einen einzigen Wunsch: Gerade sie möge ▄ die eine sein. Roland Motz Deutsches Ärzteblatt | Jg. 109 | Heft 19 | 11. Mai 2012