M E D I Z I N R E P O R T Masern Vermeintlich harmlose Viruserkrankung Der Entschluss des Deutschen Ärztetages, die Masernimpfung verpflichtend einzuführen, unterstützt das WHO-Ziel, die Viruserkrankung in Europa zu eradizieren. D Foto: NIBSC/SCIENCE PHOTO LIBRARY ie weit verbreitete Vorstellung, Nach Einführung der MasernMasern seien eine harmlose impfung 1967 in der DDR und Kinderkrankheit, ist falsch. 1973 in den alten Bundesländern Nach einer aktuellen Statistik der sind die Masernerkrankungen in Weltgesundheitsorganisation (WHO) Deutschland zwar zurückgegeganstarben 2004 weltweit 454 000 Mengen, wegen der nur suboptimalen schen an den Folgen der ViruserImpfraten konnten die Viren jedoch krankung, die meisten von ihnen weiter zirkulieren. Zurzeit erhalten Kinder aus der Dritten Welt. Obwohl bundesweit 93,5 Prozent aller KleinTodesfälle in Deutschland selten sind, kinder die empfohlene Kombinatibeobachtet man hierzulande aber eionsimpfung gegen Masern, Mumps ne deutliche Zunahme der Erkranund Röteln (MMR). Die Beteilikungsfälle (2004: 121, 2005: 778). In gung an der notwendigen zweiten diesem Jahr sind bereits über 1 400 MMR-Impfung, die etwa vier WoMeldungen eingegangen, was auf chen nach der ersten erfolgen sollte, eine epidemieartige Häufung von liegt jedoch erst bei 65,7 Prozent – Masernerkrankungen in Nordrheinwobei Kinder in den neuen BundesWestfalen zurückzuführen ist. Infekländern deutlich besser geimpft sind tiologen gehen jedoch von einer hoals im Westen. hen Dunkelziffer aus. So ist es nicht verwunderlich, dass Vor diesem Hintergrund votierte es regional immer wieder zu ungeder Deutsche Ärztetag in Magdewöhnlichen Häufungen von Maburg erstmals für eine verpflichtensernfällen kommt – wie derzeit in de Impfung gegen Masern. WeiterNordrhein-Westfalen, wo von Jahhin forderten die Delegierten, dass resbeginn bis zum 31. Mai 1 350 nur solche Kinder in staatlich finanNeuerkrankungen gemeldet worzierten oder geförderten Krippen, den sind. „Die tatsächliche Zahl Maserviren attackieren eine Wirtszelle. Die InkubatiKindergärten und Schulen aufgewird jedoch höher liegen, da vielen onszeit beträgt acht bis zwölf Tage. nommen werden dürften, die einen Kollegen und Krankenhäusern nicht vollständigen Impfstatus gemäß den bekannt ist, dass die Masern zu den Empfehlungen der Ständigen Impfkom- der und Jugendlichen eines Landes ge- meldepflichtigen Erkrankungen gehömission haben. Darüber hinaus sollen die gen Masern geimpft sein müssen. We- ren“, sagt der Leiter der Zentralstelle für Ärztekammern ermächtigt werden, be- gen divergierender Vakzinierungsraten Meldepflichtige Infektionskrankheiten rufsrechtliche Schritte gegen Kollegen musste die WHO ihr ehrgeiziges Ziel in in NRW (Münster), Priv.-Doz. Dr. med. einleiten zu können, die sich „wieder- Europa um zehn Jahre verschieben. Matthias Schröter, gegenüber dem Deutholt gegen empfohlene Schutzimpfun- Während Finnland, Schweden, die Nie- schen Ärzteblatt. gen aussprechen“. (DÄ, Heft 22/2006, derlande und Großbritannien sehr ho206 der Betroffenen mussten aufTätigkeitsbericht) hen Masernimpfraten (und eine ent- grund der Schwere der Erkrankung staBereits 1984 hatte sich die WHO zum sprechend niedrige Krankheitshäufig- tionär behandelt werden, davon drei PaZiel gesetzt, neben Kinderlähmung und keit) aufweisen, gehören Deutschland, tienten wegen Enzephalitis und einer Diphtherie auch die Masern bis zum Frankreich, Italien, Österreich, die wegen Meningitis.. Auffallend sei auch, Jahr 2000 auszurotten. Dazu hätten je- Schweiz und die GUS zu den Ländern dass die Masern nicht mehr nur als Kindoch mindestens 95 Prozent aller Kin- mit ungenügenden Impfraten. derkrankheit erachtet werden können. A 1586 ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 23⏐ ⏐ 9. Juni 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N R E P O R T Während vor 100 Jahren die meisten Kinder zwischen ein und zwei Jahren an Masern erkrankten, sind heute gut ein Viertel der Masernkranken über 15 Jahre alt. Auch bei der aktuellen Epidemie in NRW sind hauptsächlich Heranwachsende zwischen zwölf und 19 Jahren erkrankt. „Dies verdeutlicht, dass die Impflücken nicht erst jetzt, sondern bereits vor zehn bis fünfzehn entstanden sind“, so Schröter. Steckbrief des Paramyxovirus Die Masernerkrankung wird durch ein ausschließlich humanpathogenes RNAVirus hervorgerufen; es gehört zum Genus Morbillivirus in der Familie der Paramyxoviren. Die Viren werden durch das Einatmen infektiöser Exspirationströpfchen (Sprechen) beziehungsweise Tröpfchenkerne (Husten, Niesen) sowie durch Kontakt mit infektiösen Sekreten aus Nase oder Rachen übertragen. Das Masernvirus führt bereits bei kurzer Exposition zu einer Infektion (Kontagionsindex nahe 100 Prozent) und löst bei über 95 Prozent der ungeschützten Infizierten klinische Erscheinungen aus. Die Inkubationszeit beträgt acht bis zwölf Tage. Masern sind eine systemische, sich selbst begrenzende Virusinfektion mit zweiphasigem Verlauf. Sie beginnen mit Fieber, Konjunktivitis, Schnupfen, Husten und einem Enanthem am Gaumen. Pathognomonisch sind die oft nachweisbaren Koplik-Flecken (kalkspritzerartige weiße Flecken an der Mundschleimhaut). Das charakteristische makulopapulöse Masernexanthem (bräunlich-rosafarbene konfluierende Hautflecken) entsteht am dritten bis siebten Tag nach Auftreten der initialen Symptome. Es beginnt im Gesicht und hinter den Ohren und bleibt vier bis sieben Tage bestehen. Beim Abklingen ist oft eine kleieartige Schuppung zu beobachten. Am fünften bis siebten Krankheitstag kommt es zum Temperaturabfall. Infektiös sind die Erkrankten bereits, wenn die ersten erkältungsähnlichen Symptome auftreten und das Fieber ansteigt. Die Ansteckungsgefahr hält höchstens eine Woche an.Wenn der Ausschlag abgeblasst oder in Pigmentflecke übergegangen ist, besteht keine Infektionsgefahr mehr. A 1588 Da die Virusinfektion eine transitorische Immunschwäche von etwa sechs Wochen Dauer bedingt, können bakterielle Superinfektionen folgen – am häufigsten Otitis media, Bronchitis, Pneumonie und Diarrhö. Eine besonders gefürchtete Komplikation ist die akute postinfektiöse Enzephalitis, die sich in 0,1 Prozent der Fälle einige Tage nach Auftreten des Exanthems entwickelt und mit Kopfschmerzen,Fieber und Bewusstseinsstörungen bis zum Koma in Erscheinung tritt. Bei etwa zehn bis zwanzig Prozent der Betroffenen endet sie tödlich. Etwa ein Drittel der Überlebenden muss mit Residualschäden am ZNS rechnen. Eine sehr seltene Spätkomplikation stellt die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) dar (sieben bis elf Fälle pro 100 000 Erkrankungen), die sich nach durchschnittlich sechs bis acht Jahren manifestiert. Beginnend mit psychischen und intellektuellen Veränderungen, entwickelt sich ein progredienter Verlauf mit neurologischen Störungen und Ausfällen bis zum Verlust zerebraler Funktionen. Die Prognose ist stets infaust. Die von Kinder- und Jugendärzten organisierte „Erhebung Seltener Pädiatrischer Erkrankungen in Deutschland“ registrierte von Januar 2003 bis Februar 2006 in Deutschland 14 Fälle. Acht der Kinder waren im ersten Lebensjahr an Masern erkrankt – also zu einem Zeitpunkt, an dem sie noch nicht gegen Masern geimpft sein konnten. Schutz durch Herdimmunität Nach Angaben von Dr. med. Stephan Arenz vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit unterstützen diese Daten die Bedeutung einer hohen Durchimpfungsrate in der Bevölkerung: „Dadurch wird einerseits ein direkter Schutz vor einer Maserninfektion – und gegebenenfalls einer späteren SSPE – gewährleistet. Andererseits werden Säuglinge und Kleinkinder, die noch nicht geimpft werden konnten, durch Herdimmunität indirekt geschützt.“ Doch nach wie vor gibt es in der Bevölkerung – und unter den Ärzten – zahlreiche Impfgegner. Manche Eltern, die der Masernimpfung gegenüber eine skeptische Haltung einnehmen, bevorzugen es daher, ihr Kind auf „Masern-Partys“ bewusst anstecken zu lassen, damit es eine natürliche Immunität erwirbt. „Angesichts der möglichen Komplikationen ist dies ein verantwortungsloses Spiel mit der Gesundheit des eigenen Kindes“, warnt Prof. Dr. med. Berthold Koletzko von der Stiftung Kindergesundheit. Die Weiterverbreitung von Krankheitserregern könne nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) sogar mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden. Schröter erachtet die Masernimpfung sogar als „gesellschaftliche Verpflichtung“. Da die bisherige Freiwilligkeit der Entscheidung für oder gegen die Vakzination zu erheblichen Impflücken geführt habe, begrüßt er das positive Votum des Ärztetages für die Einführung einer Masern-Pflichtimpfung Bei der Masern-Vakzine handelt es sich um einen Lebendvirusimpfstoff, hergestellt aus abgeschwächten Viren, die auf Hühnerfibroblasten vermehrt werden. Die Präparate werden als Monovakzine und in Kombination mit Mumps- sowie Rötelnvirus angeboten. Diese MMRVakzine gilt als Impfstoff der Wahl. Die Erstimpfung sollte im Alter von vollendetem 11. bis zum 14. Monat, also nach dem Verschwinden der maternalen Antikörper, erfolgen. Die in Deutschland zugelassenen Impfstoffe bewirken bei über 90 Prozent der einmal Geimpften eine Serokonversion. Bis zu fünf Prozent der Impflinge entwickeln (meist in der zweiten Woche nach der Impfung) so genannte Impfmasern mit mäßigem Fieber, flüchtigem Exanthem und respiratorischen Symptomen. Die durch die Impfung bewirkte Immunantwort ist nach vier bis sechs Wochen nachweisbar, wobei die mittleren Antikörpertiter niedriger liegen als nach natürlicher Infektion. Die empfohlene Zweitimpfung (sie ist keine Auffrischimpfung) soll den Kindern, die – aus unterschiedlichen Gründen – nach der Erstimpfung keine Impfimmunität entwickelt haben, eine zweite Chance geben. Dies sichert erfahrungsgemäß ein Maximum an Immunität der zu impfenden Jahrgänge. Seit Juli 2001 wird die Zweitimpfung bereits im Alter von 15 bis 23 Monaten empfohlen. Die zweite MMR-Impfung kann vier Wochen nach der ersten MMR-Impfung Dr. med. Vera Zylka-Menhorn erfolgen. ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 23⏐ ⏐ 9. Juni 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐