Tumorschmerz - Deutsches Ärzteblatt

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M E D I Z I N
3
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Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung
zertifiziert.
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Eine ausführliche Kasuistik sowie weitere Medikationsempfehlungen finden Sie unter:
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Kasten 1
Schmerzursachen bei Tumorpatienten
Tumorbedingt (60 bis 90 Prozent)
Knochen-/Weichteilinfiltration
Kompression und Infiltration von Nerven-, Blutund Lymphgefäßen
Tumornekrose an Schleimhäuten mit Ulzeration und Perforation
Hirnödem
Tumorassoziierte Schmerzen
Paraneoplastisches Syndrom
Zosterneuralgie, Pilzinfektion
Venenthrombose
Dekubitus
Therapiebedingt (10 bis 25 Prozent)
Operation (Nervenläsion, Vernarbung, Ödem,
Muskelverspannung)
Radiatio (Fibrose, Neuropathie, Strahlenosteomyelitis, Mukositis),
Chemotherapie (Entzündung, Paravasat, Mukositis, Neuropathie)
Tumorunabhängig (3 bis 10 Prozent)
Migräne
Spannungskopfschmerz
Arthritis
Rückenschmerz
Tumorpatienten mit Schmerzen
werden in Deutschland auch heute
noch unzureichend behandelt.
1 Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie (Chefarzt: Priv.-Doz. Dr. med. Michael Strumpf), Rotes-Kreuz-Krankenhaus, Bremen
2 Universitätsklinik für Anaesthesiologie, Intensiv- und
Schmerztherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Michael Zenz), Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannsheil, Bochum
3 Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin
und Schmerztherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Michael
Zenz), Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer
A 916
Zertifizierte medizinische Fortbildung
Tumorschmerz
Michael Strumpf1, Anne Willweber-Strumpf2, Michael Zenz2, 3
Zusammenfassung
Schmerzen bei Tumorerkrankungen können auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden.
Die Ursachendifferenzierung ist für die Therapieplanung wichtig. Grundlage einer effektiven
Tumortherapie sind umfassende Anamnese, körperliche Untersuchung und eine gezielt eingesetzte apparative Diagnostik. Die Therapie sollte immer interdisziplinär durchgeführt werden
und zunächst alle kausalen Behandlungsmöglichkeiten in Betracht ziehen. Die symptomatische
Schmerztherapie orientiert sich am WHO-Stufenschema zur Krebsschmerztherapie. Es wird eingegangen auf die Grundregeln der Tumorschmerztherapie, auf den sinnvollen Einsatz von Koanalgetika, die Behandlung von Schmerzattacken und die rationale Wahl des Applikationsweges. Spezielle Problembereiche der Tumorschmerztherapie wie Opioidwechsel, typische Nebenwirkungen und die Behandlung von Schmerzattacken werden aufgegriffen. Invasive Verfahren
zur Schmerztherapie können sinnvoll sein, sind aber nur bei wenigen Patienten indiziert. Bedeutsamer Bestandteil der Schmerztherapie bei Tumorpatienten sind die Symptomkontrolle und
die Arzt-Patient-Beziehung.
Schlüsselwörter: Tumorschmerztherapie, Schmerzdiagnostik, Medikament, Therapieregel, ArztPatienten-Beziehung
Summary
Cancer Pain Management
In planning pain therapy for cancer patients it is important to take the different reasons of pain
in oncologic patients into account. The basis for effective cancer pain management is an extensive case history, examination and targeted diagnostic investigation. Cancer pain therapy
should be interdisciplinary and try to use causal therapy options in the first step. Symptomatic
pain therapy follows the WHO guidelines. The basic rules, the use of co-analgesics, break
through pain and different ways of drug application are introduced. Special problems like
opioid rotation, side effects and break through pain are addressed. Interventional procedures
can be reasonable, but are indicated only in a few patients. Significant elements of cancer pain
management are symptom control and the relationship between patient and physician.
Key words: cancer pain management, diagnostic, drug, guideline, relationship between patient
and physician
S
chmerzen gehören bei Tumorpatienten zu den häufigsten Symptomen. Schmerzen sind bei einigen Patienten sogar das erste Symptom, das sie spüren, sodass
eine Tumorsuche und -diagnose erfolgt. Aus epidemiologischen Studien (8)
geht hervor, dass bereits im Anfangsstadium 20 bis 50 Prozent der Patienten unter
Schmerzen leiden. Bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen geben 75 bis 90 Prozent der Patienten Schmerzen an.
Die Häufigkeit von behandlungsbedürftigen Schmerzen hängt sowohl von der
Lokalisation als auch von der Pathophysiologie des Tumors ab. Tumoren mit Skelettmetastasierungen führen bei mehr als 85 Prozent der Patienten zu Schmerzen.
Bei Lymphomen und Leukämien geben nur 25 bis 45 Prozent der Patienten Schmerzen an (8).
Schmerzursachen
„Tumorschmerz“ ist keine Diagnose. Schmerzen bei Malignomen werden durch
verschiedene Schmerzursachen hervorgerufen, die sowohl einzeln als auch in Kombination auftreten können (5) (Kasten 1).
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Tumorbedingter Schmerz
Knochen- und Periostschmerz:
hell, lanzinierend, gut lokalisierbar,
meist bei körperlicher Belastung und
bei bestimmten Bewegungen
Bei tumorbedingten Schmerzen wird hinsichtlich der Ätiologie zwischen Nozizeptorschmerz und neuropathischen Schmerzen unterschieden. Bei den meisten
Patienten treten im Verlauf der Erkrankung verschiedene Schmerztypen und
auch Kombinationen auf. Nach epidemiologischen Daten treten Knochen- oder
Weichteilschmerzen bei 35 Prozent der Patienten auf, viszerale Schmerzen bei
17 Prozent, neuropathische Schmerzen bei 9 Prozent, bei 39 Prozent der Patienten sind mehrere Schmerztypen kombiniert.
Nozizeptorschmerz
Weichteilschmerz:
Dauerschmerzen brennend,
bohrend oder plötzlich einschießende,
blitzartige Schmerzattacken im Sinne
einer Hyperästhesie; Beteiligung
des sympathischen Nervensystems
möglich
Ischämieschmerz:
Schmerzverstärkung bei Bewegung;
bläulich-livide Verfärbung der Haut
Viszeraler Schmerz:
dumpf, schlecht lokalisierbar,
kolikartig
Knochen- und Periostschmerz – Knochenmetastasen erregen über einen lokalen Druck oder Infiltration Nozizeptoren im Periost und lösen dadurch
Schmerzen aus. Anfänglich treten die Schmerzen meist nur bei körperlicher Belastung und bei bestimmten Bewegungen auf, später sind selbst in Ruhe Schmerzen vorhanden. Bei starken Schmerzen klagen die Patienten über Schlafstörungen, weil sie nicht mehr ruhig liegen können. Rippenmetastasen können die
Atemexkursionen schmerzhaft eingeschränkten, sodass der Patient nicht mehr
richtig abhusten kann.
Weichteilschmerz – Weichteilschmerzen können nach Infiltrationen von Skelettmuskulatur oder Bindegewebe entstehen. Häufig sind es Dauerschmerzen,
die unabhängig von Bewegungen auftreten. Sie verstärken sich bei Druck wie
auch beim Sitzen. Eine radikuläre oder nichtradikuläre Schmerzausstrahlung ist
nicht immer festzustellen. Die Schmerzen sind eher diffus lokalisiert.
Ischämieschmerz – Kommt es zu einer Kompression oder Infiltration von
Blutgefäßen, entsteht im entsprechenden Versorgungsgebiet ein Sauerstoffmangel. Neben einem anfänglichen Claudicatio-Schmerz klagen Patienten mit
Ischämieschmerzen in fortgeschrittenen Stadien über Dauerschmerzen. Je
mehr die Patienten ihre Extremitäten bewegen, desto stärker werden die
Schmerzen. Bei der Untersuchung fällt häufig die bläulich-livide Verfärbung der
Haut auf.
Viszeraler Schmerz – Der viszerale Schmerz wird durch Nozizeptoren vermittelt, die im kardiovaskulären System, im Gastrointestinal-, Respirations- und im
Urogenitaltrakt lokalisiert sind. Verdrängt der Tumor zum Beispiel im Bereich
des Abdomens Verdauungsorgane oder verschließt er Hohlorgane, zum Beispiel
Gallengang, Ductus pancreaticus, Coecum, werden solche viszeralen Afferenzen
erregt. Schmerzen können auch bei Entzündungen, Kapseldehnungen und
Schleimhautulzerationen der Haut zur Ausprägung kommen.
Neuropathischer Schmerz
Neuropathischer Schmerz:
brennend, Allodynie, Hypo- oder
Hyperästhesie, Hyperalgesie
– lanzinierend, spitz, hell,
einschießend, attackenweise
– brennender Dauerschmerz,
schlecht lokalisiert
Infiltration oder Kompression von peripheren Nerven, Nervenplexus oder im
zentralen Nervensystem führen zu neuropathischen Schmerzen. Sensible und
seltener auch motorische Ausfälle sowie erhöhte Reizbarkeit in den schmerzhaften Arealen weisen auf eine Nervenschädigung hin, aber nicht immer müssen
objektivierbare neurologische Symptome auftreten. Neuropathische Schmerzen
im Rahmen einer Tumorerkrankung können durch den Tumor selbst, die Chemotherapie, eine Operation oder durch Bestrahlung entstehen.
Bei der körperlichen Untersuchung fällt häufig eine Berührungsempfindlichkeit der Haut auf. Eine normalerweise nicht schmerzhafte leichte Berührung auf
der Haut kann stärkste Schmerzhaftigkeit hervorrufen, die den Reiz zeitlich
überdauert (Allodynie), oder ein leichter Schmerzreiz wird als extrem stark
empfunden (Hyperalgesie). Dabei sind zum Teil erhebliche Sensibilitätsstörungen im Sinne einer Hypästhesie oder Hyperästhesie zu finden. In seltenen Fällen sind zusätzlich Hinweise für eine Beteiligung des sympathischen Nervensystems vorhanden (Brennschmerz, Hauttrophik gestört, Ödem, Temperaturunterschied).
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Grafik
Therapiebedingter Schmerz
Die Tumortherapie kann Ursache für anhaltende Schmerzen sein. Chemotherapie
hinterlässt mitunter schmerzhafte Polyneuropathien, aseptische Knochennekrosen
oder Mukosaentzündungen. Unter Umständen Monate bis Jahre nach Bestrahlungen
treten Schmerzsyndrome durch Fibrosierung des Arm- oder Lumbosacralplexus auf.
Myelopathien und durch Radiatio induzierte periphere Nerventumoren und Knochennekrosen treten ebenfalls auf. Weitere therapiebedingte Schmerzen sind beispielsweise der Postthorakotomieschmerz oder Stumpf- und Phantomschmerzen
nach Amputationen einer Extremität wegen Tumorbefalls.
Tumorunabhängiger Schmerz
WHO-Stufenschema zur Krebstherapie
Tumorpatienten können auch unter chronischen Schmerzen leiden, die nicht mit der
Tumorerkrankung oder der Therapie im Zusammenhang stehen. Ein schon lange bestehender Kopfschmerz oder nicht radikuläre Rückenschmerzen können sich gerade
in der Krisensituation einer Tumorerkrankung verstärken.Auch die langsam nachlassende Reduktion des Allgemeinzustandes und zunehmende Immobilität können zu
einer Schmerzverstärkung chronischer nicht tumorbedingter Schmerzen beitragen.
Diagnostik
Bei einer bekannten Tumordiagnose
müssen alle kausalen Behandlungsmöglichkeiten wie Operation,
Chemo-, Hormon-, Radioisotopenoder Strahlentherapie in Betracht
gezogen werden. Dies verpflichtet
alle an der Therapie beteiligten
Kollegen zur frühzeitigen
interdisziplinären Zusammenarbeit.
Eine symptomatische Schmerztherapie sollte nicht ohne Kenntnis der exakten Diagnose erfolgen. Eine sorgfältige und umfassende Anamnese und eine gründliche körperliche Untersuchung mit neurologischem Status sind Basis der Schmerzdiagnostik.
Viele Patienten mit chronischen Tumorschmerzen haben nicht nur somatische Beschwerden, sondern sind auch psychisch belastet. Die Schmerzanamnese berücksichtigt also auch das psychische und soziale Umfeld des Patienten, sodass psychologische
Faktoren, die das Schmerzausmaß beeinflussen, gezielt bei der Therapie mitberücksichtigt werden. Das Ausmaß der apparativen Diagnostik richtet sich nach Krankheitsstadium und Allgemeinzustand des Patienten. Treten neue Schmerzen auf oder
kommt es zu einer deutlichen Schmerzverstärkung, sollte immer an ein Tumorrezidiv
und Metastasen gedacht werden, was zwingend abgeklärt werden muss. Das genaue
diagnostische Vorgehen, die Indikation für bestimmte apparative Untersuchungsmethoden (wie Computertomographie,Magnetresonanztomographie,Szintigraphie,Angiographie) und die daraus abzuleitenden therapeutischen Konsequenzen sollten immer in Kooperation mit Onkologen und Radiologen erfolgen.
Therapie
Kasten 2
Grundregeln der Tumorschmerztherapie
1. Anamnese und Untersuchung
2. Klärung der Schmerzursache
3. Stellung der Schmerzdiagnose
4. In der Regel medikamentöse Therapie
der Schmerzen
5. Das richtige Arzneimittel, in der richtigen
Dosis, im richtigen Zeitintervall
6. Bevorzugung der oralen Analgetikagabe
7. Gabe der Analgetika nach Zeitplan
8. Individuelle Dosis und Dosisanpassung
bei jedem Patienten
9. Begleitmedikamente den Indikationen
entsprechend
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Kausale Schmerztherapie
Therapie der Wahl ist die kurative Beseitigung von Schmerzen, soweit bei einer Tumorerkrankung überhaupt möglich. Bei bekannter Tumordiagnose müssen zunächst
alle kausalen Behandlungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die zu einer
Beseitigung oder Verkleinerung des Tumors führen oder zumindest zur palliativen Tumortherapie eingesetzt werden können (8). Ursachenerkennung und Ursachentherapie bedingen, dass auch der Schmerztherapeut onkologische Therapiekonzepte zu
überdenken und an den Patienten gegebenenfalls entsprechend weiterzuleiten hat.
Symptomatische Schmerztherapie
Stufenschema der Tumorschmerztherapie
Im Jahr 1986 wurden erstmals von der World Health Organization (WHO) Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie herausgegeben. In großen Fallserien wurde die
Effektivität der WHO-Empfehlungen nachgewiesen und eine zufriedenstellende
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Kasten 3
Substanzen (alphabetische Reihenfolge)
und Dosierungen des modifizierten und
komplettierten WHO-Stufenschemas zur
Krebsschmerztherapie
Substanzen der Stufe I
Acetylsalicylsäure 4 1 000 mg
Celecoxib 2 100–200 mg/Tag
Diclofenac 1–2 25–100 mg/Tag
Etoricoxib 1 60–120 mg/Tag
Ibuprofen retard 2 800 mg/Tag
Metamizol 4 1 000 mg/Tag
Naproxen 2 500 mg/Tag
Valdecoxib 1 10–2 20 mg/Tag
bei unzureichender Wirksamkeit
zusätzlich:
Substanzen der Stufe II
Dihydrocodein retard 2–3 60–180 mg/Tag
Tramadol retard 3–4 100–200 mg/Tag
Tilidin/Naloxon retard 2–3 100–200 mg/Tag
bei unzureichender Wirksamkeit
statt Stufe II:
Substanzen der Stufe III
Buprenorphin s.l. 3–4 0,2–1,2 mg/Tag*1
Buprenorphin transdermal
0,8–5,04 mg / Tag
Fentanyl transdermal 0,6 – ?*2 mg/Tag
Hydromorphon retard 2–3 4–?*2 mg/Tag
Levomethadon 1 10–15 mg/Tag*3
Morphin retard 2–3 10–? mg/Tag*4
Oxycodon retard 2–3 10–?*2 mg/Tag
*1 „Ceilingeffekt“ bei etwa 5 mg: eine Wirkungssteigerung ist nicht mehr möglich
*2 es gibt keine begrenzende Höchstdosis
*3 Kumulationsgefahr bei Anwendung entsprechend
der analgetischen Wirkungsdauer (6 h), deshalb
nach Titration nur 1 tägliche Applikation empfohlen
*4 Die Anpassung der Dosis erfolgt individuell nach
Wirkung und Nebenwirkung. Höchstdosierungen
können nicht angegeben werden.
Schmerzreduktion bei 80 Prozent der Patienten aufgezeigt (Grafik).An diesen Empfehlungen orientiert hat die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im
Jahr 2000 die zweite Auflage ihrer Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie publiziert (1).
Die Grundlage aller Empfehlungen ist das Stufenschema der WHO zur Krebsschmerztherapie (7).
Nach dem WHO-Stufenschema werden bei leichteren Schmerzen Nicht-Opioidanalgetika eingesetzt (Stufe 1). Reicht die analgetische Wirkung nicht aus, wird das
Nicht-Opioidanalgetikum mit einem schwachen Opioid kombiniert (Stufe 2).Bei weiterhin unzureichender Analgesie wird das Nicht-Opioidanalgetikum mit einem stark
wirksamen Opioid kombiniert (Stufe 3). Ein eventuell vorhandener Durchbruchsschmerz (Bewegung, Husten, Defäkation) sollte auf allen Stufen mit schnell anflutenden Opioiden behandelt werden (zum Beispiel unretardierte Morphintabletten 10 bis
20 mg oder Fentanyllutscher 200 bis 1 600 µg). Daraus ergeben sich Kombinationsmöglichkeiten: Entweder werden Substanzen der Stufe 1 und 2 verabreicht oder Substanzen der Stufe 1 und 3. Die Wahl dieser Kombinationen ist abhängig von der Stärke der Schmerzen (Kasten 3).
Das Stufenschema ist kein starrer Plan, der von unten nach oben durchlaufen werden muss. Die Auswahl der Schmerzmedikamente richtet sich auch nach der Schmerzursache, zum Beispiel sollten bei Knochenschmerzen neben Opioiden auch der Einsatz von nichsteroidale Antiphlogistika bedacht werden, oder bei neuropathischen
Schmerzen der Einsatz von Antidepressiva und Antikonvulsiva. Es gibt heute Diskussionen darüber, inwieweit der Einsatz schwach wirksamer Opioide überhaupt notwendig ist. Studien zeigen, dass eine sofortige Einstellung auf stark wirksame Opioide
sicher und effektiv möglich ist. Ebenso gibt es Diskussionen, dass die Opioide wegen
fehlender Organtoxizität sicherer als die Nicht-Opioidanalgetika sind, weshalb auch
auf Stufe I verzichtet werden könne.
Folgende Grundregeln sollten aber bei der medikamentösen Therapie chronischer
Schmerzen möglichst eingehalten werden (6, 7): Es erfolgt primär eine nichtinvasive
Applikation (oral, transdermal), um die Selbstständigkeit des Patienten zu erhalten.
Die Dosisintervalle richten sich nach der Wirkungsdauer des verwendeten Präparates
(zum Beispiel Morphin retard alle acht bis zwölf Stunden). Es sollten so weit wie möglich retardierte Opioide oder Präparate mit einer langen Wirkungsdauer eingesetzt
werden (Kasten 2). Wenn die Schmerzen immer wieder auftreten, bevor die nächste
Dosis fällig ist, sollte die Dosis der Dauermedikation erhöht werden und nicht das Dosisintervall verkürzt werden. Bei der Wahl der Einnahmezeiten sollte man den individuellen Lebensrhythmus des Patienten berücksichtigen (zum Beispiel erste Einnahme nach dem Erwachen).
Für viele Medikamente gibt es zwar Standarddosierungen. Es sollte aber immer eine individuelle Titration des einzelnen Opioids erfolgen. Die individuelle Titration
orientiert sich an Wirkung und Nebenwirkung des verwendeten Präparates. Auftretende Nebenwirkungen müssen behandelt werden (beispielsweise Übelkeit und Erbrechen in der Einstellungsphase – Antiemetika, Obstipation bei längerer Anwendung von Opioiden – Laxanzien). Gerade bei Tumorpatienten ist es erforderlich, für
eine ausreichende Analgesie zu sorgen. Bei den Opioiden können daher für fast alle
Substanzen keine Höchstdosierungen angegeben werden (Ausnahme: Buprenorphin:
„Ceiling-Effekt“).
Die Wirkung und auch die Nebenwirkungen einer medikamentösen Schmerztherapie müssen regelmäßig kontrolliert und auch dokumentiert werden.
Applikationswege
Für eine akut erforderliche
Schmerztherapie sind transdermale
Systeme ungeeignet.
Die orale Applikation ist für die meisten Patienten einfach und unkompliziert. Auch
eine Zufuhr über eine Ernährungssonde ist mit vielen der heute verfügbaren Präparate möglich.In den seltenen Fällen,in denen die orale Therapie an ihre Grenzen stößt
(zum Beispiel bei Schluckstörungen), kommen alternative Applikationswege infrage.
Vorteile der transdermalen Applikation (Fentanyl, Buprenorphin) sind die wenig
belastende Anwendung und die lange Wirkungsdauer der Pflaster (48 bis 72 Stunden).
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A 919
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Regel:
orale und transdermale Applikation
vor subkutaner, intravenöser,
rückenmarknaher Applikation
Kasten 4
Beispiele für die Dosierung von
Koanalgetika
Antidepressiva
Amitriptylin, Doxepin, Clomipramin:
Beginn: 10 mg abends, langsame Steigerung, Gabe möglichst abends (Sedierung)
Imipramin:
10–10–0 bis 25–25–0 mg/Tag, Gabe möglichst
morgens (Antriebssteigerung)
Antikonvulsiva
Gabapentin:
Beginn: 3 100 mg/Tag
Steigerung in Abhängigkeit von Nebenwirkungen
auf 3 300–900 mg/Tag
Pregabalin:
Beginn: 2 75 mg/Tag
Steigerung in Abhängigkeit von Nebenwirkungen
auf 2 300 mg/Tag
Carbamazepin:
Beginn: 2 100 mg/Tag
Steigerung in Abhängigkeit von Nebenwirkungen
auf 2–4 400 mg/Tag
Baclofen:
Beginn: 3 5–10 mg/Tag
Steigerung alle 3 Tage um 5–10 mg
Erhaltungsdosis: 60 mg/Tag in 3–6 Einzeldosierungen, maximal 80 mg/Tag
Bisphosphonate
Pamidronat:
Initial 30 mg in 500 mL NaCl i.v.
Erhaltungsdosis 30–90 mg in 500 mL NaCl i.v.
4 Infusionen im Abstand von 1 Woche, dann gegebenenfalls monatlich wiederholen
Ibandronat:
2–4 mg in 500 NaCl i.v.,
gegebenenfalls im Abstand von 4 bis 6 Wochen
wiederholen
Corticosteroide
Dexamethason:
Initial: 8–12 mg/Tag
Erhaltungsdosis 2–4 mg/Tag
Morgendliche Einnahme
Dosisreduktion nach 4 Tagen
Erhaltungsdosis nach 2 bis 3 Wochen
Cave: Kombination mit NSAID – Gefahr der
Magenblutung!
A 920
Nachteilig ist die schlechte und eher zähe Dosisfindung und -anpassung (voller Wirkungseintritt erst nach 12 bis 24 Stunden.). Für die rektale Applikation stehen in
Deutschland keine retardierten Präparate zur Verfügung, sodass Morphin-Suppositorien alle vier Stunden appliziert werden. Die subkutane oder intravenöse Gabe über
eine patientenkontrollierte Pumpe mit Bolusfunktion ist nur in einzelnen Fällen sinnvoll, zum Beispiel, um ein schnelles Anfluten des Analgetikums bei Durchbruchsschmerzen zu ermöglichen. Es gibt grundsätzlich keine Indikation für die intramuskuläre Gabe von Opioiden bei Tumorschmerzen, da die subkutane Applikation einfacher und weniger schmerzhaft ist. Allerdings sollten möglichst keine wiederholten
Injektionen durchgeführt werden, stattdessen ist eine subkutane Dauerinfusion über
eine Pumpe sinnvoll. Die Indikation für eine rückenmarknahe Applikation von
Opioiden sollte äußerst zurückhaltend und nur in Ausnahmefällen gestellt werden,
dann aber von erfahrenen Schmerztherapeuten. Gründe für eine rückenmarknahe
Applikation können sein:
Terminalstadium der Erkrankung,
stärkste Schmerzen, die mit anderen Applikationsformen nicht beherrschbar
sind,
gravierende, nicht behandelbare Nebenwirkungen bei anderen Applikationswegen.
Koanalgetika
Eine Monotherapie mit Opioiden ist bei vielen Schmerzsyndromen nicht ausreichend
effektiv. Auf allen Stufen können die Analgetika mit Koanalgetika zur Behandlung
verschiedener Symptome der Tumorerkrankung kombiniert werden (Kasten 4).
Antidepressiva (zum Beispiel Amitriptylin) sind sinnvoll zur Behandlung neuropathischer, brennender Dauerschmerzen und schmerzhafter Dysästhesien. Die analgetische Wirkung von Antidepressiva lässt sich auf die Steigerung der Funktion inhibitorischer Transmitter durch Hemmung ihrer Wiederfreisetzung in Neurone zurückführen. In der Schmerztherapie werden Antidepressiva deutlich niedriger dosiert als
in der psychiatrischen Behandlung.
Antikonvulsiva unterdrücken eine erhöhte synaptische Impulsübertragung und
steigern hemmende Einflüsse auf Neuronenaktivität in verschiedenen Gebieten des
Zentralnervengebietes. Sie werden vor allem bei neuropathischen, einschießenden,
elektrisierenden Schmerzen eingesetzt. Seit kurzem kann auch Pregabalin bei peripheren Neuropathien verwendet werden.
Bei osteolytischen Knochenmetastasen können Bisphosphonate zum Einsatz kommen. Sie hemmen die Aktivität der Osteoklasten, das Wachstum osteolytischer Metastasen wird gehemmt und so eine Schmerzreduktion erreicht.
Corticosteroide vermindern das perineurale Ödem und den Druck auf das Nervengewebe und führen so zur Schmerzlinderung. Die Nebenwirkungen der Steroide
wie Appetitsteigerung, Gewichtszunahme und Stimmungsaufhellung werden von den
Tumorpatienten häufig als positiv empfunden (Kasten 4). Benzodiazepine sind zur
Schmerztherapie nicht geeignet.
Die Behandlung von Schmerzattacken
Neben der Dauermedikation brauchen viele Tumorschmerzpatienten eine Bedarfsmedikation zur Behandlung von Schmerzattacken („breakthrough pain“).
Ursachen für Schmerzattacken sind zum Beispiel:
unzureichende Behandlung der Dauerschmerzen (Schmerzattacken treten kurz
vor der nächsten Medikamentengabe auf: „end of dose failure“)
Bewegungen/körperliche Belastungen zum Beispiel bei Knochenmetastasen
Nahrungsaufnahme
Stress.
Bei der unzureichenden Behandlung des Dauerschmerzes muss die Basistherapie
angepasst werden, dabei sollte eine Dosiserhöhung, und nicht die Verkürzung der
pharmakologisch sinnvollen Applikationsintervalle angestrebt werden.
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Tabelle 1
C
Äquivalenzdosen für schwache Opioide
Generika
Einzeldosis
Dosisbeispiel
(mg/Tag)
Morphin
oral
10 mg
retard
2–3 10 mg
Tramadol
150 mg
retard
3–4 150 mg
TilidinNaloxon
100 mg
retard
2–3 100 mg
Dihydrocodein
90 mg
2–3 90 mg
Ebenso wie bei den Dauerschmerzen muss bei den Schmerzattacken zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen differenziert werden. Bei nozizeptiven
Schmerzattacken (Knochen und Weichteilschmerzen, viszerale Schmerzen) wird ein
nicht retardiertes Opioid genutzt. Die Bedarfsmedikation soll möglichst eine schnell
wirksame Form des Opioids sein, das zur Behandlung der Dauerschmerzen eingesetzt
wird. Werden die Dauerschmerzen mit retardiertem Morphin behandelt, so werden
für die Schmerzattacken nicht retardierte Morphinlösung oder Morphintabletten eingesetzt. Wird die Dauertherapie mit transdermalem Fentanyl durchgeführt, kann die
Attackenbehandlung mit einem transmukösen Fentanylstick erfolgen. Die Dosis der
Attackenmedikation richtet sich nach der Dosis der Dauermedikation: Ein Sechstel
der Tagesdosis der Dauermedikation gilt als Richtwert.Allerdings bestehen große individuelle Schwankungen in der verträglichen und benötigten Dosierung. Neuropathische Schmerzattacken werden in erster Linie mit Antikonvulsiva, gegebenenfalls in
Kombination mit Antidepressiva behandelt (siehe Koanalgetika).
Opioidwechsel
Ein Opoidwechsel kann
Nebenwirkungen reduzieren, sollte
aber nicht vorschnell und zu häufig
durchgeführt werden.
´
Tabelle 2
Mit fortschreitendem Tumorwachstum,zunehmender Metastasierung und damit auch
zunehmenden Schmerzen ist bei den meisten Patienten im Laufe der Schmerztherapie eine Dosissteigerung der verwendeten Opioide erforderlich. Dosislimitierungen
sind für Opioide nicht bekannt (Ausnahme: Buprenorphin, „Ceiling-Effekt“ bei etwa
5 mg). Nicht tolerable Nebenwirkungen können aber häufig eine weitere Dosissteigerung verhindern. Mit dem Wechsel auf ein anderes Opioid besteht die Chance, dass
sich die Nebenwirkungen reduzieren und die Schmerzlinderung verbessert wird.Auch
der Wechsel des Applikationsweges kann eine Möglichkeit sein, Nebenwirkungen zu
verringern.Vor jedem Opioidwechsel ist zu prüfen, ob die Nebenwirkungen nicht auf
andere Ursachen zurückzuführen sind (zum Beispiel Übelkeit und Erbrechen bei
Subileus / Ileus;Verwirrtheit bei Hypokalzämie durch Biphosphonate; Übelkeit durch
Chemotherapie) (Tabelle 1, 2).
C
Äquivalenzdosen für starke Opioide
Generika
Tagesdosis
Dosisbeispiel
Morphin
oral
60 mg
3 20 mg
(retardiert)
1 60 mg
(retardiert +*1)
rektal
60 mg
3 20 mg
s.c.
i.v.
epidural
intrathekal
20 mg
20 mg
6 mg
0,6 mg
6 3 mg
6 3 mg
3 2 mg
3 0,2 mg
Oxycodon
oral
30–40 mg
3 10 mg
(retardiert)
2 20 mg
(retardiert)
Hydromorphon oral
8–12 mg
2–3 4 mg
(retardiert)
L-Methadon 10–15 mg
oral
1 10 mg
Buprenorphin
1,2 mg
3 0,4 mg
(sublingual)
Buphre840 µg
norphin
transdermal
35 µg/h für
48–72 h
(sublingual)
*1 Wirkdauer bis zu 24 h
Nebenwirkungen
Die Langzeitanwendung von NSAID und antipyretischen Analgetika wird häufig
durch schlechte Verträglichkeit und gastrointestinale Ulzerationen, Blutungen oder
Wassereinlagerungen limitiert. Die Nephrotoxizität kann bei älteren Patienten ebenfalls die Langzeitanwendung einschränken. Bei einem schlechten Allgemeinzustand
sind die Patienten anfälliger für die Nebenwirkungen der NSAID. Neue COX2-selektive NSAID (Celecoxib,Etoricoxib,Valdecoxib) verursachen weniger gastrointestinale Nebenwirkungen, scheinen aber eine geringere Effektivität und ein höheres kardiovaskuläres Risikoprofil als die älteren nichtselektiven NSAID zu haben. In Anbetracht der Marktrücknahme von Rofecoxib wird der Stellenwert der Coxibe momentan kontrovers diskutiert.Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat
für die Verordnung von Coxiben folgende Empfehlungen ausgesprochen (2):
Kontraindikation bei allen kardiovaskulären Risikopatienten,
strenge Indikationsstellung bei Patienten über 65 Jahren aufgrund der allgemein
erhöhten kardiovaskulären Risiken,
Anwendung nur so lange wie nötig: intermittierend drei bis maximal sechs
Monate,
keine Anwendung vor oder unmittelbar nach chirurgischen Eingriffen,
bei Patienten mit kardiovaskulären und gastrointestinalen Risiken Einsatz von
traditionellen nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAID) plus niedrig dosierte
Acetylsalicylsäure plus Protonenpumpenhemmer, nichtsaure NSAID (Metamizol, Paracetamol), Opioide.
Eine gastroprotektive Begleitmedikation, zum Beispiel mit Protonenpumpenhemmstoffen, ist nicht bei allen Patienten erforderlich. Unbedingt notwendig ist die
Gabe von Gastroprotektiva bei Risikopatienten und wenn eine gleichzeitige Gabe
von Corticosteroiden durchgeführt wird. Bei nichtsauren NSAID (Metamizol, Paracetamol) treten deutlich seltener Nebenwirkungen auf,die zum Abbruch der Therapie
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Deutsches Ärzteblatt⏐
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Eine langsame Dosissteigerung oder
auch eine Dosisreduktion können
Nebenwirkungen verhindern oder
minimieren.
Eine Obstipationprophylaxe muss
fast immer für die gesamte Dauer
der Opioidtherapie erfolgen.
führen. Leberzellschädigungen unter Paracetamol treten unter therapeutischen Dosierungen nur bei Patienten mit vorgeschädigter Leber auf.
Unter Opioiden können eine Reihe gastrointestinaler und zentralnervöser Nebenwirkungen auftreten. Häufige Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit,
Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit. Obstipation tritt fast immer auf. Neurotoxische Nebenwirkungen wie Alpträume, Halluzinationen, Myoklonien oder Hyperalgesien werden seltener beobachtet.
Für viele Nebenwirkungen besteht eine selektive Toleranz: Inzidenz und Schwere
der Nebenwirkungen nehmen im Verlauf der Therapie ab. Im Gegensatz dazu nimmt
die Obstipation im Therapieverlauf zu. Bei nicht beherrschbaren Nebenwirkungen
sollte an einen Opioidwechsel gedacht werden.
Übelkeit und Erbrechen sollten zu Beginn der Opioidtherapie prophylaktisch mit
Antiemetika behandelt werden. Es können Antihistaminika, Neuroleptika,Anticholinergika, prokinetische Substanzen, 5-HT3-Antagonisten und eventuell Glucocorticoide verwendet werden.
Mittel der ersten Wahl sind Metoclopramid in einer Dosierung von 10 mg alle vier
bis fünf Stunden oder Haloperidol 0,3 bis 0,5 mg alle acht bis zwölf Stunden.
Obstipation ist die häufigste Nebenwirkung von Opioiden. Bei vielen Patienten ist
mit Beginn der Opioidtherapie eine forcierte Behandlung der Obstipation erforderlich.
Es können Quellstoffe, osmotisch wirkende Substanzen, antiresorptiv, sekretagog
wirkende Substanzen (Stimulanzien) oder Gleitmittel, auch in Kombination, eingesetzt werden. Eine ballaststoffreiche Ernährung und eine ausreichende Trinkmenge
(mehr als zwei Liter pro Tag) erleichtert die Obstipationsprophylaxe.
Invasive Verfahren
Invasive Verfahren zur
Schmerztherapie können sinnvoll
sein, sind aber nur bei wenigen
Patienten indiziert.
Neben der medikamentösen Schmerztherapie kann die Möglichkeit von Nervenblockaden oder Neurolysen in Abhängigkeit von der Prognose und dem allgemeinen
Gesundheitszustand des Patienten bedacht werden (3).
Klassische Indikationen bestehen in der Therapie viszeraler Abdominalschmerzen
und neuropathischer Schmerzen. Beim Pankreaskopfkarzinom kann eine Plexus-coeliacus-Blockade oder eine Neurolyse für Wochen bis Monate zur Schmerzfreiheit
führen. Bei neuropathischen Schmerzen an der oberen Extremität und am Kopf können Opioidapplikationen am Ganglion cervicale superius oder Stellatumblockaden
sinnvoll sein. Neuropathische Schmerzen an der unteren Extremität können mit einer
Grenzstrangblockade beziehungsweise Neurolyse behandelt werden. Bei streng perianal begrenzten Schmerzen zum Beispiel bei Rektumkarzinomen kann eine S4/S5Neurolyse zu einer deutlichen Schmerzreduktion bis hin zur Schmerzfreiheit führen.
Invasive schmerztherapeutische Verfahren sollten ausschließlich von speziell ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden.
Symptomkontrolle
Die Behandlung
krankheitsbegleitender Symptome
ist genauso bedeutsam wie die
Schmerztherapie.
Tumorpatienten leiden häufig nicht nur unter Schmerzen.Oft sind andere,krankheitsoder therapiebegleitende Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Dyspnoe, Unruhe,Angst,
Schlaflosigkeit) genauso bedeutsam (Tabelle 3) (4, 6).
Schmerztherapie bedeutet bei Tumorpatienten nicht nur Analgesie, sondern auch
eine Verbesserung der Lebensqualität durch Reduktion oder Beseitigung verschiedener erkrankungs- oder therapiebedingter Symptome.
Arzt-Patient-Beziehung
In der Tumorschmerztherapie ist eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung besonders wichtig.Die Patienten erleben neben der Bedrohlichkeit der Schmerzen auch Bedrohungen durch zum Teil unausweichliche physische, psychische und soziale Verlu-
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Tabelle 3
C
C
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Symptomkontrolle
Die Beziehung zwischen Arzt und
Patient ist mitbestimmend für eine
effektive Schmerztherapie.
Symptom
Medikamentöse Therapiemöglichkeiten
Übelkeit/Erbrechen
Obstipation
Antiemetika, vergleiche Nebenwirkungen
Laxanzien, vergleiche Nebenwirkungen
Mikroklysma und/oder Einläufe,
gegebenenfalls manuelle Ausräumung
Dyspnoe
Opioide (nicht retardiert, tritiert),
Benzodiazepine, Phenothiazine, Sauerstoffapplikation nur bei Hypoxämie indiziert
Unruhe/Angst/
Schlafstörungen
Gespräche, Entspannungsübungen, gegebenenfalls
Benzodiazepine
Terminale Agitation
bei Halluzinationen Haloperidol
ste, die zu Trauer, Ängsten und depressiven Verstimmungen führen können (4). Das
Schmerzerleben kann hierdurch wiederum beeinflusst werden. Eine offene, empathische und aktiv zuhörende Gesprächsführung innerhalb eines ausreichenden Zeitrahmens sollte die Basis der Kommunikation sein. Bagatellisieren, Generalisieren, Monologisieren sollte unbedingt vermieden werden. Anstatt dogmatisch eine Therapie
vorzugeben, ist es besser, den Patienten zu fragen, was er sich wünscht, worauf er sich
einlassen kann und womit er einverstanden ist.
Die „beste“ Therapie
Je einfacher die Therapie,
umso besser und sicherer ist sie.
Literatur
1. Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft:
Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie. Sonderheft
Therapieempfehlungen 2000.
2. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft:
„Aus der UAW-Datenbank“. Kardiovaskuläre Nebenwirkungen sind ein Klasseneffekt aller Coxibe: Konsequenzen für die künftige Verordnung. Dtsch Arztebl
2004; 101: A 3365 [Heft 49].
3. Hankemeier U, Schüle-Hein K, Krizantis F: Tumorschmerztherapie. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 2001.
4. Husebø S, Klaschik E: Palliativmedizin. Praktische Einführung in Schmerztherapie, Ethik und Kommunikation. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 2000.
Die beste Behandlung ist die ambulante Therapie, die der Patient selbstständig zu
Hause durchführen kann, und die ihm die Unabhängigkeit von seinem Therapeuten
bewahrt. Die Einstellung und Überwachung der oralen medikamentösen Therapie
wird durch eine Beschränkung auf wenige Monosubstanzen (entsprechend dem
WHO-Stufenschema) erleichtert. Damit ist die orale und transdermale Opioidtherapie nicht nur die beste, sondern auch die einfachste und damit sicherste Therapie; sie
kann über viele Jahre angewendet werden, ohne dass – bis auf die Obstipation – gravierende Nebenwirkungen auftreten müssen.Nicht für alle Patienten ist die orale oder
transdermale Medikation geeignet. Für die verbleibenden Patienten stehen alternative Techniken zur regionalen Lokalanästhetika- oder Opioidapplikation sowie neurolytische Blockaden oder neurochirurgische und palliative strahlentherapeutische
Maßnahmen zur Verfügung. Erfolgreich wird eine Tumorschmerzbehandlung aber
nur dann sein, wenn Patienten und Angehörige über die Prinzipien und den Sinn der
Therapie ausreichend informiert sind und sie verstehen sowie wenn eine regelmäßige
Therapiekontrolle und -anpassung durchgeführt wird.
5. Strumpf M: Krebsschmerz. In: Zenz M, Jurna I eds.:
Lehrbuch der Schmerztherapie. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2001; 715.
6. Twycross R.: Pain relief in advanced cancer. Edingburgh: Churchill Livingstone 1994.
7. World Health Organization: Cancer pain relief. 3rd ed.
Genf, 1996.
8. Zenz M, Donner B: Schmerz bei Tumorerkrankungen.
Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2002.
M. Strumpf und A. Willweber-Strumpf haben in den vergangenen zwei Jahren bezahlte Vorträge zur Fortbildung von Ärzten im Auftrag folgender Pharmafirmen
gehalten. M. Strumpf: Mundipharma, Janssen-Cilag,
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Pfizer, Bristol Meyers Squibb und A. Willweber-Strumpf:
Mundipharma, Pfizer.
Manuskript eingereicht: 15. 12. 2004, revidierte Fassung
angenommen: 15. 2. 2005
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102: A 916–924 [Heft 13]
Anschrift für die Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med. Michael Strumpf
Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie
Rotes Kreuz Krankenhaus
St.-Pauli-Deich 24, 28199 Bremen
E-Mail: [email protected]
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Fragen zur zertifizierten Fortbildung (nur eine Antwort pro Frage ist jeweils möglich)
Frage 1:
Nach dem WHO-Stufenschema zur Krebsschmerztherapie ist welche Medikamentenkombination
nicht sinnvoll?
1. Ibuprofen und Tramadol retard
2. Tilidin-Naloxon retard und Oxycodon
3. Ibuprofen und Morphin retard
4. Diclofenac und Hydromorphon
Frage 2:
Nach den Grundregeln der Tumorschmerztherapie
trifft welche Aussage zu?
1. Die Dosisintervalle der verwendeten Analgetika richten
sich nach der Schmerzrhythmik.
2. Bei Schmerzen, die auftreten, bevor die nächste Dosis fällig ist, sollte das Einnahmeintervall verkürzt werden.
3. Es sollten immer Standarddosierungen verwendet werden.
4. Gerade beim Einsatz von Opioiden bei Tumorschmerzen
müssen Höchstdosierungen beachtet werden.
5. Keine Aussage trifft zu.
Frage 3:
Eine Patientin mit Mammakarzinom links hat eine
Strahlentherapie erhalten.Vier Monate nach Ende
der Bestrahlung berichtet sie über eine schmerzhafte Berührungsempfindlichkeit und einschießende Schmerzen im linken Arm. Motorische Ausfälle bestehen nicht. Worauf können die Symptome am ehesten hindeuten?
1. Fibrosierung des Armplexus nach Strahlentherapie
2. Knochenmetastasen
3. Störung der Krankheitsverarbeitung
4. schonungsbedingte muskuläre Schmerzen
5. Ischämieschmerz
Frage 4:
Welches Koanalgetikum ist bei neuropathischen
Tumorschmerzen nicht sinnvoll?
1. Antidepressivum
2. Benzodiazepin
3. Antikonvulsivum
4. Corticosteroid
5. Alle Aussagen sind richtig.
Frage 5:
Ein Patient mit Knochenmetastasen erhält zur
Schmerztherapie Fentanyl transdermal 75 µg/h.
Das Pflaster wird alle 48 Stunden gewechselt. Zusätzlich erhält er 2 800 mg Ibuprofen retard
pro Tag. Unter dieser Therapie ist der Patient für
etwa 40 Stunden zufriedenstellend schmerzreduziert. In den letzen acht Stunden vor dem Pflasterwechsel berichtet er über ständig zunehmen-
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de Schmerzen. Welche Therapiemaßnahmen sind
sinnvoll?
1. Verkürzung des Applikationsintervalls von Fentanyl
transdermal
2. Wechsel des Opioids
3. Zusätzlicher Einsatz von Gabapentin
4. Erhöhung der Dosis von Ibuprofen retard
5. Erhöhung der Dosis von Fentanyl transdermal
Frage 6:
Zur Schmerztherapie erhält ein Tumorpatient mit
Lungenkarzinom und Knochenmetastasen 3 120
mg Morphin retard pro Tag. Er berichtet über eine
seit zwei Wochen deutlich zunehmende Schmerzintensität. Welche therapeutische Maßnahme ist
sinnvoll?
1. Opioidwechsel
2. Erhöhung der Dosis von Morphin retard
3. Zusätzlicher Einsatz eines Antkonvulsivums
4. Wechsel des Applikationsweges
5. Zusätzlicher Einsatz kurz wirksamer Opioide
2. Die orale oder transdermale Applikation ist der intravenösen Dauerinfusion vorzuziehen.
3. Die Indikation für eine rückenmarknahe Applikation ist
bei Tumorpatienten frühzeitig zu stellen.
4. Ist eine orale oder transdermale Applikation nicht
möglich, sollte eine intramuskuläre Gabe erfolgen.
5. Alle Aussagen treffen zu.
Frage 10:
Welche Aussage zur Tumorschmerztherapie trifft
zu?
1. Die Arzt-Patient-Beziehung und die Gesprächsführung
sind essenzieller Bestandteil der Tumorschmerztherapie.
2. Bei jeder Art von Tumorschmerzen sollte das Therapieregime ein Opioid enthalten.
3. Tumorschmerztherapie beinhaltet nicht die erkrankungs- oder therapiebedingte Symptomkontrolle.
4. Aufgrund von Toleranzeffekten sollten Opioide nur im
Endstadium der Erkrankung eingesetzt werden.
5. Bei manchen Formen von Tumorschmerzen kann die
Kombination verschiedener Opioide sinnvoll sein.
Frage 7:
Unter Opioiden können Nebenwirkungen auftreten. Welche Aussage trifft zu?
1. Obstipation tritt fast immer auf und bleibt häufig für die
Dauer der Opioidtherapie bestehen.
2. Langsame Dosissteigerung kann Nebenwirkungen minimieren.
3. Für viele Nebenwirkungen besteht eine selektive Toleranz
4. Übelkeit und Erbrechen sollten mit Beginn der Opioidtherapie prophylaktisch behandelt werden.
5. Alle Aussagen treffen zu.
Wichtiger Hinweis
Die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung ist
ausschließlich über das Internet möglich:
www.aerzteblatt.de/cme
Einsendeschluss ist der 13. Mai 2005
Frage 8:
Eine Patientin mit einem Kolonkarzinom hat eine
laufende Chemotherapie. Zur Schmerztherapie erhält sie Hydromorphon 3 8 mg. Sie klagt über
ständige Übelkeit und mehrfach tägliches Erbrechen. Was könnte die gastrointestinalen Symptome verursachen?
Einsendungen, die per Brief oder Fax erfolgen,
können nicht berücksichtigt werden.
1. Die Chemotherapie
2. Das Opioid
3. Der Tumor
4. Angst
5. Alle Aussagen treffen zu.
Die cme-Einheit „Die chronische Herzinsuffizienz“
(Heft 9/2005) kann noch bis zum 14. April 2005 bearbeitet werden.
Die Lösungen zu dieser cme-Einheit werden in
Heft 21/2005 an dieser Stelle veröffentlicht.
Für Heft 17/2005 ist das Thema „Basisreanimation“
vorgesehen.
Frage 9:
Welche Aussage zur Wahl der Applikationswege
bei der Verordnung von Opioiden trifft zu?
Lösungen zur cme-Einheit in Heft 5/2005
Parzeller M, Wenk M, Rothschild M: Die ärztliche
Schweigepflicht. 1c, 2a, 3c, 4e, 5e, 6d, 7e, 8d, 9b, 10b
1. Stärkste Tumorschmerzen sollten mit einer intravenösen
Dauerinfusion behandelt werden.
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