Mehr Demokratie wagen, und was die Linke

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Mehr Demokratie wagen, und was die Linke davon hat. Ein Blick in die Schweiz gibt Einblick - 04.06.2016
von Christoph Mayer - Attac Theorieblog - http://theorieblog.attac.de
Mehr Demokratie wagen, und was die Linke davon hat. Ein Blick
in die Schweiz gibt Einblick
by Christoph Mayer - 04.06.2016
http://theorieblog.attac.de/2016/06/mehr-demokratie-wagen-und-was-die-linke-davon-hat-ein-blick-in-dieschweiz-gibt-einblick/
Die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz sind zur Revolution befugt. Die Bundesverfassung der
Schweizerischen Eidgenossenschaft sieht eine Totalrevision ihrer selbst qua Volksabstimmung vor.[1]
Bislang sah die Stimmbevölkerung allerdings davon ab, Gebrauch von ihrem Privileg zu machen.
Stattdessen stimmte sie seit Begründung des schweizerischen Staates im Jahr 1848 über mehr als 600
sachbezogene Fragen auf Bundesebene ab.
Am 5. Juni steht nun die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zur Abstimmung. Dass
das Thema an die Stimmurne gelangt ist, ist ein Erfolg für sich. Vorhaben einschlägiger politischer
Couleur haben es in der Alpenrepublik indes meist schwer, zumal bei Volksentscheiden: Seit 2010 sind
etwa Initiativen, die darauf abzielten, die Länge des Mindesturlaubs anzuheben, betriebliche Lohngefälle
einzuebnen, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, die öffentliche Krankenversicherung zu stärken
oder große Erbschaften zu besteuern, bei Volksabstimmungen gescheitert. Auch die Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens wird aller Voraussicht nach keine mehrheitliche Zustimmung
erhalten. Ein Durchbruch wäre, so der Begründer der Initiative, jede fünfte Stimme für die Idee zu
gewinnen.[2] Nicht viel mehr Zuspruch erhielten 2014 auch die InitiantInnen der Mindestlohn-Initiative,
für die lediglich 23 Prozent der Abstimmenden ein „Ja“ einlegten.
Die verpasste Stunde der Linken
Dabei proklamierten Gewerkschaften und Arbeiterparteien Ende des 19. Jahrhunderts in der noch jungen
helvetischen Republik selbstbewusst den Ausbau der Mitwirkungsrechte. Ihr Ziel war es, die Mehrheiten
des Freisinn und der konservativen Repräsentanten im Parlament auf direktdemokratischem Weg zu
umgehen. Die politischen Kräfteverhältnisse im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sollten so zu
Gunsten der aufstrebenden Linken verschoben werden.
Was die Idealisten[3] von damals auch heute noch auf ihrer Seite wüssten, ist eine gängige Annahme in
den Sozialwissenschaften: Die sogenannten Robin Hood-These konstatiert, dass die
Bevölkerungsmehrheit angesichts einer linksschiefen Einkommensverteilung von umverteilenden
Maßnahmen profitieren würde. Die Massen der unteren und mittleren Einkommensschichten
befürworteten daher eine Politik, die den Reichen nimmt und es den weniger Reichen gibt. Folgt man
dieser These, müsste die Stimmbürgerschaft der Schweiz distributive Maßnahmen per Volksabstimmung
forcieren.[4]
Nun lässt sich der Robin Hood-Effekt für die eingangs erwähnten Volksinitiativen nicht bestätigen.
Stimmkampagnen von linker Seite können aber durchaus erfolgreich sein, obgleich sie dies in der
Vergangenheit nur unter engen Voraussetzungen waren.
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Wann, so lautet deshalb die erkenntnisleitende Frage des Beitrags, erlangen linke Positionen Mehrheiten
bei Volksentscheiden? Analysiert werden dafür verteilungspolitisch relevante Abstimmungen mit
wirtschafts-, sozial- und fiskalpolitischen Bezug.[5] Die Ergebnisse der Auswertung stammen aus einer
eigenen Untersuchung aus dem Jahr 2014.
Funktionen und Verfahren der Schweizer Direktdemokratie
Um die Ergebnisse von Volksabstimmungen bewerten zu können, müssen die zentralen Verfahren der
direkten Demokratie, ihre Funktion und Wirkungsweise bekannt sein. Auf Schweizer Bundesebene sind
insbesondere drei Instrumente von Bedeutung: Erstens, die Volksinitiative, die es den stimmberechtigten
BürgerInnen ermöglicht, Verfassungsänderungen per Unterschriftensammlung (mind. 100.000)
einzureichen und an der Urne zur Abstimmung zu stellen. Mit dem fakultativen und dem
obligatorischen Referendum stehen der Stimmbevölkerung zudem zwei Instrumente zur Verfügung, die
es ermöglichen, über ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz oder eine Verfassungsänderung
mit abschließender Entscheidungshoheit abzustimmen. Im Fall des fakultativen Referendums wird nach
erfolgreicher Unterschriftensammlung (mind. 50.000 Unterschriften) über eine Vorlage abgestimmt.
Bestimmte Beschlüsse des Parlaments, die etwa die Ausgaben- und Bundesfinanzordnung oder den
Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften betreffen, sind abstimmungspflichtig – sie unterliegen dem
obligatorischen Referendum und gelangen automatisch an die Urne.
In der folgenden Analyse wurden 23 Abstimmungen zu fakultativen Referenden, 20 Abstimmungen zu
Volksinitiativen (bei drei parlamentarischen Gegenentwürfen) sowie acht Abstimmungen zu
obligatorischen Referenden berücksichtigt.
Wer profitiert von Volksabstimmungen?
Von den Abstimmungsvorlagen mit linker Ausrichtung wurde nur jede vierte an der Urne angenommen
(25,8 Prozent). Hingegen hatten von den Vorlagen mit rechter Ausrichtung 65,2 Prozent Erfolg
(Schaubild 1). Noch deutlicher fällt der Unterschied zwischen linken und rechtslastigen Vorlagen aus,
wenn nur jene berücksichtigt werden, die einen dezidierten Anspruch verfolgten: Während weitreichende
linke Forderungen bei Volksabstimmungen fast immer chancenlos waren, haben dezidiert rechte
Vorlagen eine Erfolgsquote von 60,0 Prozent.
Schaubild 1: Erfolgsquote von Vorlagen nach Stoßrichtung und Stärke
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Eigene Darstellung
Der Erfolg von Abstimmungen variiert also sowohl hinsichtlich der politischen Zielrichtung als auch
hinsichtlich der Stärke der Vorlagen. Wird zudem nach Abstimmungstypen, das heißt nach
Volksinitiativen, fakultativen und obligatorischen Referenden unterschieden, fällt das Bild noch
eindeutiger aus. Dezidiert linke Volksinitiativen waren bei den StimmbürgerInnen faktisch chancenlos:
Alle 19 Initiativen mit dezidiertem Anspruch erzielten keine Mehrheiten, während rechtslastige Vorlagen
in obligatorischen Referenden immer ein „Ja“ erhielten.
Diese Ergebnisse zeigen, dass Linke Positionen in der Direkten Demokratie der Schweiz marginalisiert
sind. Berücksichtigt man jedoch nur jene Abstimmungen, die eine Eigenwirkung haben, in denen das
Votum der Stimmbürgerschaft also von jenem des Parlaments abweicht, dann waren meist linke
Positionen an der Urne mehrheitsfähig. In Zahlen ausgedrückt: In drei Viertel der Fälle (75,9 Prozent)
votierte die Stimmbevölkerung zwar in Übereinstimmung mit der Empfehlung des Parlaments. Linke
Positionen hatten dabei meist das Nachsehen. Wenn die Stimmbevölkerung jedoch von der
parlamentarischen Empfehlung hoheitlich abwich, dann tat sie dies in 85,3 Prozent der Fälle nach links
(Schaubild 2).
Schaubild 2: Ausgänge von Volksabstimmungen mit und ohne Eigenwirkung
Eigene Darstellung, Fallzahl in Klammern
Die gesellschaftliche und politische Linke in der Schweiz würde kaum von sich behaupten, dass sie
mittels der direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten eine programmatische Verschiebung der
politischen Kräfteverhältnisse erreicht hätte. Vielmehr wundert es nicht, dass die beiden großen linken
Organisationen bei Volksabstimmungen häufig das Nachsehen hatten. Sowohl die Parolen der
sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP; 42,6 Prozent) als auch die Empfehlungen des
Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB; 35,2 Prozent) erzielten in weit weniger als der Hälfte der
Abstimmungen Mehrheiten (Schaubild 3).
Schaubild 3: Erfolgsquote Parteienparolen bei Volksabstimmungen
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Eigene Darstellung
Das schlechte Abschneiden der SP hängt vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Partei mit ihren
Empfehlungen meist in Opposition zu den übrigen Regierungsparteien – der nationalistisch konservativen
SVP, der marktliberalen FDP und der gemäßigten CVP – befand (57,5 Prozent). Schaubild 4 unterstützt
diese Annahme: Die Parteien waren mit ihren Parolen meist dann erfolgreich, wenn sie sich in einer
Koalition mit mindestens zwei der drei anderen Regierungsparteien befanden. Bemerkenswert ist, dass
die SP die höchste Erfolgsquote aller Regierungsparteien aufweist, wenn diese in zwei Lager mit je zwei
Parteien geteilt waren (87,5 Prozent). Gespaltene Regierungskonstellationen gab es jedoch nur acht Mal,
bei allen anderen Abstimmungen schlossen sich mindestens drei Regierungsparteien zusammen.
Schaubild 4: Erfolgsquote nach Parteien und Koalitionskonstellationen
Eigene Darstellung
Befunde konstatieren, dass sowohl die politische Zielrichtung von Abstimmungsvorlagen, die Stärke der
Vorlagen als auch die Empfehlungen der Regierungsparteien das Stimmergebnis potentiell beeinflussen.
Aber haben diese potentiellen Bestimmungsfaktoren tatsächlich einen direkten Effekt auf den Ausgang
von Volksabstimmungen?
Schaubild 5 ist zu entnehmen, dass dies auf den Einfluss der politischen Elite zutrifft: Die Schweizer
Stimmbevölkerung berücksichtigt bei Volksabstimmungen die Positionen der Regierungsparteien. So
wurden Vorlagen, hinter denen eine große Koalition aus mindestens drei Parteien stand – für die
Ausrichtung der Vorlagen kontrolliert – häufiger angenommen als Vorlagen, die nicht von einer
Regierungsmehrheit unterstützt wurden. Darüber hinaus zeigt sich aber, dass die Stimmbürgerschaft eine
eigene politische Agenda hat, die moderat nach rechts tendiert. So erwiesen sich moderate Vorlagen – die
Parteienkonstellation berücksichtigt – als zustimmungsfähiger als dezidierte Vorlagen. Vorlagen mit
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moderat rechter Stoßrichtung, hinter denen eine große Koalition stand, wurden zudem häufiger
angenommen als Vorlagen mit moderat linker Zielsetzung, ceteris paribus.
Schaubild 5: Annahmequoten parlamentarischer Vorlagen nach Richtung, Stärke und
Koalitionskonstellation
Lesebeispiel Balken: 76,9 Prozent der dezidiert restriktiven Vorlagen, die von einer großen Koalition von
mindestens drei Regierungsparteien unterstützt wurden, wurden von der Stimmbevölkerung per
Volksabstimmung angenommen. Im Insgesamt wurden nur 60 Prozent aller dezidiert restriktiven
Vorlagen angenommen.
Aus drei Gründen, so lässt sich resümierend festhalten, bleiben linke Positionen bei Volksabstimmungen
überwiegend erfolglos: Erstens, die politische Elite stellt sich meist gegen die Annahme linker und hinter
die Annahme rechter Vorlagen. Deren Empfehlung beeinflusst die StimmbürgerInnen in ihrer
Entscheidungsfindung. Zweitens, tendiert die Stimmbevölkerung zu moderaten rechten Positionen,
weswegen sie drittens dem von linker Seite rege genutzten Instrument der Volksinitiative fast nie zu
Wirkung verhilft.
Einsichten und Aussichten
Die stimmberechtigten EidgenossInnen werden das bedingungslose Grundeinkommen am kommenden
Sonntag vermutlich mit einem deutlichen „Nein“ verwerfen, zumal die Initiative nicht einmal von der SP
Unterstützung erhält. Die Parlamentsfraktion der SP lehnt die Idee mehrheitlich ab, weil sie die
Schwächung der bestehenden Sozialsysteme befürchtet.
Hoffnung für die Linke gibt es indes angesichts einer anderen Volksinitiative, die laut Meinungsumfragen
am Sonntag hohe Zustimmungswerte erhalten dürfte: die Public Service Initiative, die staatlichen und
staatsnahen Unternehmen bei der Grundversorgung das Streben nach Profit untersagen will. Sie erhält
sowohl von der SP als auch von der SVP Unterstützung. Die beiden Pol-Parteien könnten der Initiative
tatsächlich zum Erfolg verhelfen.
Und so scheint die direkte Demokratie neue Koalitionskonstellationen abseits der parlamentarischen
Architektur hervorzurufen, die, auf die Bundesrepublik übertragen, unter dem Schlagwort der
Querfrontbildung für einiges Aufsehen sorgen würde.
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[1] Der Autor bittet um Nachsicht bei der Verwendung des Begriffs „Volk“, wenn er mangels geeignet
erscheinender Alternativen Begrifflichkeiten wie „Volksabstimmung“ oder „Volksentscheid“ beibehält.
[2] Wilhelm, Martin (2016): «Schweizer haben Mühe mit der Idee der Bedingungslosigkeit», online
unter:
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/wir-haben-muehe-mit-der-idee-derbedingungslosigkeit/story/29633530; zuletzt abgerufen am: 2. Juni 2016.
[3] Idealistinnen, die sich für das angestrebte Ziel einsetzten, waren damals wohl nicht mit von der Partie:
Bis 1971 wussten die stimmberechtigten Männer den Frauen das Wahl- und Stimmrecht per
direktdemokratischem Mehrheitsentscheid zu verweigern.
[4] Freitag, M., Vatter, A., & Müller, C. (2003). Bremse oder Gaspedal? Eine empirische Untersuchung
zur Wirkung der direkten Demokratie auf den Steuerstaat. Politische Vierteljahreszeitschrift, 44(3),
348–369.
[5] Als im Ergebnis links werden Abstimmungen gewertet, die eine verteilende Wirkung von oben nach
unten zur Folge haben, eine Mehrverteilung von Finanzmitteln für die öffentliche Daseinsfürsorge und
die Sozialversicherungen bewirken oder Abstimmungsvorlagen verhindern, deren Annahme einen
gegenteiligen Effekt zur Folge gehabt hätte. Zudem werden Abstimmungen als in ihrem Ergebnis links
gewertet, wenn sie die Rechte oder Mittel von ArbeitnehmerInnen oder benachteiligter
Gesellschaftsgruppen wie Arbeitslose und MieterInnen stärken, oder wenn Vorlagen abgelehnt werden,
die darauf abzielten, die Rechte und Mittel dieser Gruppen zu verringern.
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(c) Attac Trägerverein
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