Pädagogische Psychologie FS 09 Orientierung zur Vorlesung • Erste Hälfte: 6 Doppelvorlesungen von F. Baeriswyl, • Zweite Hälfte: 6 Doppelvorlesungen von F. Staub • Prüfung: 1/2 Stoff HS 08 von M. Stamm, 1/4 Stoff von F. Baeriswyl und 1/4 Stoff von F. Staub Übersicht zu den Vorlesungen von F. Baeriswyl • Gedächtnis & Lernen – Arbeitsgedächtnis – Aufmerksamkeit – Expertiseaufbau • Motivation und Interesse • Intelligenz • Pädagogisch-psychologische Diagnostik: Grundlagen Vorlesung 1: Gedächtnis & Lernen: Mikroprozesse des Lernens Prof. Dr. F. Baeriswyl Übersicht Vorlesung 19. 2. 2009 • Anschlüsse zum bisherigen PP-Stoff • Bedeutung des Vorwissens für das Lernen • Definitionen von „Lernen“ vergleichen und reflektieren Bedeutung des Gedächtnisses für das Lernen • Lernen als Produkt: Repräsentation im Langzeitgedächtnis – Repräsentationsmodalitäten – Abruf und Erinnern • Lernen als Prozess: Das Arbeitsgedächtnis Zu einigen Begriffen • Wissen: Information bzw. Erkenntnisse, die ein Mensch über sich und die Umwelt im Gedächtnis repräsentiert hat. • Gedächtnis: G. ist im Hirn zu lokalisieren und ermöglicht uns, Wissen aufzunehmen, zu behalten, abzurufen und zu denken. • Lernen bezeichnet den Prozess des Wissenserwerbs durch Konditionierungen und informationsverarbeitende Prozesse Ursprung menschlichen Wissens I • Ererbter Anteil als unbedingte Reflexe und instinktive Verhaltensmuster. Sind im Artgedächtnis verankert. Z.B. Saug- und Greifreflex beim Säugling. Genetisch bedingter Wissensbesitz ist minimal im Vergleich des gesamten W. eines Menschen. Ist im Verlauf der Evolution weniger wichtig geworden. Ursprung menschlichen Wissens II • Bedeutsamer ist das W., das ein Mensch im Verlauf seines Lebens durch Lernen erwirbt. • Quelle 1: Vereinzelte Erlebnisse führen zu autobiographischem Wissen und episodischen Repräsentationen mit emotionalen Anteilen. • Quelle 2: Erfahrungen und Wahrnehmungsprozesse führen zu Faktenwissen und Zusammenhangsw., Wirkzusammenhänge. Oft sind es naive, anschauungsgebundene Einsichten. Ursprung menschlichen Wissens III • Quelle 3: Sprachliche Unterweisung. Vermittlung von Fakten und Zusammenhängen, die der persönlichen Wahrnehmung nicht mehr zugänglich sind. Z.B. mathematische Sätze. • Quelle 4: Kognitive Operationen. Sie werden auf vorhandenes Wissen angewandt und führen zu neuen Einsichten in Beziehungen. • Der Wissenserwerb ist ein komplexer und vielschichtiger Prozess, der sich über das gesamte Leben hinweg erstreckt. (E. van den Meer, 1996, 209 ff) Lernen und Wissenserwerb • Die Kenntnis von Quellen menschlichen Wissens ist eine erste Voraussetzung zur Lernförderung. • Ebenso wichtig sind die Kenntnisse über Lernprozesse, die Wissensaneignung und die Wissensveränderung. • Grundsätzlich kann Lernen auf zwei Niveauarten unterschieden werden: – a) die Konditionierungen – b) kognitives Lernen (Erfahrungs-, Einsichts-, Entdeckungslernen ...) Konditionierungen als Wissensrepräsentation im Gedächtnis • Konditionierungen müssen als eine spezielle Wissensform betrachtet werden. Sie hebt sich ab zum kognitiven Wissen. • Konditionierungen führen zu automatisierten Handlungsmustern und sind dem Bewusstsein nur schwer zugänglich. • Automatisiertes Wissen verlangt wenig Verarbeitungskapazität. Kognitive Lernmodelle • Lernen wird hier als Aufbau und Veränderung von Wissen verstanden. • Einerseits wird das Wissen (kognitive Struktur) durch neue Information verändert. • Anderseits steuert und bestimmt das bisherige Wissen, was als neues Wissen aufgenommen und integriert wird. • Das Vorwissen ist der beste Prädiktor für den Lernzuwachs. Schematische Darstellung einer kognitiven Lernphase: Kognitive Struktur vor der Lernphase - Vorbegriff Phase 2: Die bestehende kognitive Struktur muss erkannt und aufgelöst werden; die neuen Elemente müssen als solche erkannt werden Phase 3: Die neuen Elemente werden integriert, die bestehende Struktur wird neu geordnet Phase 4: Die neue Struktur wird verallgemeinert und dekontextualisiert Phase 5: Die neue Struktur wird kritisch von ähnlichen Strukturen unterschieden Verarbeitungsauftrag 1 • Gehen Sie davon aus, dass die Aussage „ Das Vorwissen ist der beste Prädiktor für den Lernzuwachs.“ stimmt. • Welche Auswirkungen sind dann auszumachen und welche Gegenmassnahmen sind zu bedenken? Bedeutung des Vorwissens: CoaktivStudie CK = Content knowledge; PCK = pedagogical content knowlede Untersuchungen von Gruehn, 2001 Der beste Prädiktor in der 6. Klasse auf die Dt. und Math.-Note im 9. Schuljahr (Baeriswyl et al. 2008) Deutschnote Mathematiknote D5 b Testleistung Deutsch (Klassenmittel) Progymnasium Realschule Geschlecht Deutsche Muttersprache Intakte Familie ISEI Testleistung Deutsch Note Deutsch (Grundschule) Beurteilung Kognitiver Leistungsfähigkeit Beurteilung Schulischer Motivation Übertrittsempfehlung Varianzkomponenten Schüler Grundschule Sekundarschule SE 0.13 0.12 -0.39* 0.16 0.99*** 0.17 -0.35*** 0.07 -0.03 0.13 0.06 0.10 0.09* 0.04 0.35*** 0.06 0.25*** 0.06 0.15* 0.06 0.08 0.04 0.05 0.06 0.62 0.00 0.09 M5 b SE Testleistung Mathematik (Klassenmittel) -0.15 0.11 Progymnasium -0.71*** 0.19 Realschule 1.18*** 0.20 Geschlecht 0.13 0.08 Deutsche Muttersprache 0.11 0.13 Intakte Familie 0.10 0.11 ISEI 0.04 0.04 Testleistung Mathematik 0.51*** 0.07 Note Mathematik (Grundschule) 0.21** 0.06 Beurteilung Kognitiver Leistungsfähigkeit 0.03 0.07 Beurteilung Schulischer Motivation 0.09 0.05 Übertrittsempfehlung 0.07 0.07 Varianzkomponenten Schüler 0.69 Grundschule 0.01 Sekundarschule 0.12 Prädiktoren sind die Elemente des Übertrittsverfahrens am Ende der 6. Klasse Primarschule Kognitives Lernen ... • Ist ein aktives Lernen. Lernumgebungen schaffen Gelegenheiten zu Erfahrungen, zu geistigen und handelnden Auseinandersetzungen, die zu Erkenntnissen und Interpretationen von Situationen führen. • Ist intentionales, zielgerichtetes und selbstgesteuertes Lernen. Eine verhaltensorientierte Lerndefinition „Lernen ist der Prozess, durch den Verhalten aufgrund von Interaktionen mit der Umwelt oder Reaktionen auf eine Situation relativ dauerhaft entsteht oder verändert wird, wobei auszuschliessen ist, dass diese Änderungen durch angeborene Reaktionsweisen, Reifungsvorgänge oder vorübergehende Zustände des Organismus (Ermüdung, Rausch oder ähnliches) bedingt sind...“ (Skowronek 1970, 11 In: Hilgard/Bower 1966). Eine kognitivistische Lerndefinition „Kognitives Lernen heisst Aufbauen von Strukturen. Dies wiederum bedeutet, kognitive Prozesse in einen Zusammenhang bringen, sie zu organisieren“ ... Piaget unterscheidet begrifflich Lernen von Äquilibration. Lernen ist stets ein Lernen von Inhalten, von Gegebenheiten der physikalischen oder sozialen Umwelt. Die Koordination dieser Gegebenheiten, die sich im Aufbau von Strukturen ereignet, ist nicht lernbar. Äquilibrierte Systeme bilden sich nach den inneren Notwendigkeiten der Äquilibration. Lernen ist demnach stets in Abhängigkeit von den Strukturierungsprozessen der gesamten kognitiven Entwicklung zu sehen und nicht umgekehrt. Demnach kann ein Äquilibrierungsprozess nur abgewartet werden. Piagets Theorie erweist sich demnach als eine Quasi-Reifungstheorie (Steiner In: Aebli/Montada/Steiner 1975, 107f). Eine konstruktivistische Lerndefinition Lernen „... ein aktiver, konstruktiver, kumulativer und zielorientierter Prozess. ... Er ist aktiv insofern, als Lernende während der Informationsaufnahme etwas tun müssen, um den Lernstoff in sinnvoller Weise aufzunehmen. Er ist konstruktiv insofern, als die neue Information sorgfältig heraus gearbeitet und in Beziehung zu bereits vorhandenen Informationen gesetzt werden muss. Nur so können einfache Informationen behalten und komplexe Zusammenhänge verstanden werden. Er ist kumulativ insofern, als jedes neue Lernen auf vorhandenem Wissen aufbaut oder vorhandenes Wissen nutzt. Das Vorwissen bestimmt also in gewisser Weise, was und wieviel gelernt wird. Er ist zielorientiert insofern, als Lernen dann am erfolgreichsten ist, wenn der oder die Lernende sich des Ziels bewusst ist, auf das er oder sie hinarbeitet, ... und wenn er oder sie über realistische Erwartungen hinsichtlich der Erreichung des gewünschten Ergebnisses verfügt“ (Shuell In Simons 1992). Gemeinsame Merkmale der Lerndefinitionen • Lernprozesse führen u.a. zu folgenden Ergebnissen: • zu Kenntnissen und kognitiven Fertigkeiten, • neuen motorischen Fertigkeiten - alte werden erweitert, • das Denken und Problemlösen wird in eine „neue“ Richtung gelenkt, neue Zusammenhänge werden erkannt • bestehendes Wissen wird qualitativ verbessert, ausdifferenziert, • die Entwicklung wird beschleunigt • Wissen wird fehlerfreier gemacht (Missverstänndisse werden aufgelöst) Gemeinsame Merkmale der Lerndefinitionen • Das Antwortverhalten, das Lernergebnis soll: • • • • dauerhaft, beobachtbar, bewertbar, und vorhersagbar sein. • Prozesse spielen sich auf folgenden Ebenen ab: • • • • kognitiv, emotional, sensumotorisch und motivational. Verarbeitungsauftrag 2 • Notieren Sie sich typische Lernergebnisse aus verschiedenen Lebensphasen: Kleinkind; Schulzeit; Erwachsenenalter • Versuchen Sie, je zum Wissen, zu Fertigkeiten, zu Emotionen und zur Motivation Erinnerungen zu aktivieren.