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Die Entwicklung der Deszendenztheorie in Biologie, Linguistik und Anthropologie als Austauschprozess zwischen Geistes- und Naturwissenschaften
Matthis Krischel, Frank Kressing, Heiner Fangerau
Einleitung Als Charles Darwin 1859 seine Deszendenztheorie in der Origin of Species veröffentlichte, löste er eine revolutionäre Wende aus, die allerdings nicht unvermittelt
kam, denn er konnte sich dabei sowohl auf eine etwa fünfzigjährige Tradition evolutionären Denkens in der Naturgeschichte als auch auf eine weitaus ältere evolutionäre Tradition in den Geisteswissenschaften stützen. In diesem Beitrag soll dieser
Ursprung der Evolutionstheorie in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften
dargestellt werden und dabei der Weg des Evolutionsgedankens zwischen den Disziplinen nachgezeichnet werden. Dabei ist der Umstand zu berücksichtigen, dass
die im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten Theorien zur Entwicklung des Menschen diesen als sowohl durch Natur als auch durch Kultur geprägtes Wesen ansahen – ganz im Sinne von Otto Cassmann (1562–1607), der im 16. Jahrhundert die
Anthropologie definierte als die Lehre vom Menschen mit einer „[…] Wesenheit,
die der doppelten Welt-Natur, der geistigen und der körperlichen, die zu einem
Grundbestand vereinigt sind, teilhaftig ist.“ (Cassmann 1594/1596).
Seit der Antike lässt sich die Vorstellung von der Evolution als langsamer, stufenweiser, naturgegebener, stetigen und unvermeidbarer Wandlungsprozesses als
integraler Bestandteil der westlichen Geistestradition nachweisen.(Bock 1955:
129–130). Obwohl dieser Evolutionsbegriff eher das Ablaufen eines Geschichtsbandes als einen ergebnisoffenen Wandelprozess bezeichnet, kann er uns trotzdem
helfen, den modernen Begriff als historisch gewachsen zu verstehen. Wir werden
im Folgenden zeigen, dass für das 19. Jahrhundert die gegenseitige Durchdringung
von Theorien der sozialen, kulturellen und biologischen Evolution anschaulich belegen. Die Idee der kulturellen Evolution schloss auch die Entwicklung der Sprachen mit ein. Die Ausformung der Evolutionstheorie selbst stellt somit einen evolutionären Prozess dar, der allerdings nicht im Sinne einer unilinearen Entwicklung
auf eine Wissenschaftsdisziplin beschränkt war, sondern vielmehr in Gestalt einer
fächerübergreifenden Vernetzung von Wissenschaftlern, Ideen und Konzepten die
Grenzen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen überschritt. Als Beleg für diese
These sollen zunächst die historischen Wurzeln des Entwicklungsgedankens erstens in den Gesellschaftswissenschaften, zweitens in der Linguistik und drittens in
der physischen Anthropologie nachgezeichnet werden. Persönliche und Ideen-Vernetzungen in den Natur- und Geisteswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts
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Matthis Krischel, Frank Kressing, Heiner Fangerau
zeichnen wir am Beispiel der Anthropologie als Wissensgebiet nach. Zuletzt werden der Niedergang und die Wiederbelebung evolutionären Denkens in der Biologie, Anthropologie und Linguistik des 20. Jahrhunderts und die hier wieder aufscheinenden Vernetzungen skizziert.
1. Die historische Entwicklung des Evolutionsgedankens
1.1 Der Gedanke der Höherentwicklung in den Gesellschaftwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts
Bereits im 18. Jahrhundert formulierten der schottische Historiker Adam Ferguson
(1723–1816) und der französische Philosoph Marie-Jean Antoine de Condorcet
(1743–1794) Theorien zur Evolution von menschlichen Gesellschaften. Condorcet
beschrieb in seinem Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795 posthum veröffentlicht) die menschliche Geschichte als zwingend notwendige Abfolge der Entwicklung über zehn Stufen. Bei Ferguson, der 1764 von
einem Lehrstuhl für Naturphilosophie auf einen für Moralphilosophie an der Universität Edinburgh wechselte, vermischte sich das Interesse an biologischer Entwicklung mit dem an kulturellem Fortschritt. Somit lässt sich in seinem Wirken
bereits eine frühe Vernetzung von Geistes- und Naturwissenschaften nachweisen:
In seinem Essay on the History of Civil Society (1767) stellte er das Bild einer sich
entwickelnden Tier- und Pflanzenwelt neben das einer aktiv vorangetriebene Fortentwicklung menschlicher Gesellschaften, die sich gemäß seiner Auffassung in einem Spektrum von Grobheit („rudeness“) hin zur Zivilisation vollzog. Ferguson
nennt als Zwischenschritte die Stadien der Wildheit und Barbarei und gibt Merkmale wie die Anerkennung von individuellem Eigentum und die Ausdifferenzierung der Sprache als Meilensteine der Entwicklung an. Als wichtiges Attribut „zivilisierter“ Gesellschaften bezeichnet er den Handel. Bedenkt man den Stellenwert
des Handels im weltumspannenden britischen Kolonialreich, welches zu dieser Zeit
etwa auch noch die dreizehn Kolonien in Nordamerika umfasste, so erscheint dieses Kriterium aus der eigenen „Zivilisations“-Erfahrung heraus formuliert. Ein drei-Stufen-Modell der Gesellschaftsentwicklung findet sich im 19. Jahrhundert bei Gelehrten aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. So postulierte
zum Beispiel der französische Frühsozialist Claude Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760–1825) ebenfalls eine deterministische Gesellschaftsevolution, indem er
die Epochen der Sklaverei, des Feudalismus und der bürgerlichen Gesellschaft als
festgelegte Stufen der menschlichen Entwicklung beschrieb (Saint-Simon 1814). Gustav Friedrich Klemm (1802–1867), königlich-sächsischer Bibliothekar in Dresden, teilte in seiner zehnbändigen Allgemeinen Kulturgeschichte der Menschheit
(1843–1852) deren kulturelle Entwicklung auf der Basis von sozialer Organisation,
Technik und Glaubenssystemen in die drei Stufen der „Wildheit, Domestizierung
und Freiheit“ ein. Schließlich findet sich die Stufenfolge der Gesellschaftsentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert auch im Werk Ancient Society (1877)
des US-amerikanischen Anthropologen Lewis Henry Morgan (1818–1881).
Die Entwicklung der Deszendenztheorie
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dass sich die Theorie gleichgerichteter evolutionärer Prozesse in der Deszendenz
von Organismen, Individuen, Spezies, Populationen, Kulturen und Sprachen ungebrochener Attraktivität zu erfreuen scheint. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass
sich diese Modelle vorwiegend der eingängigen Metapher des Stammbaums als
Visualisierung phylogenetischer Deszendenz bedienen. Gerade die Eingängigkeit,
Traditionalität und Schematik des Stammbaum-Modells sorgt mit dafür, dass sich
alternativ zum Paradigma des vertikalen genetischen Transfer von Spezies, menschlichen Populationen, Sprachen und Kulturen entwickelte Theorien des horizontalen
Transfers von Genen, Phonemen und Morphemen in Linguistik und Biologie bis
heute als weit weniger wirkmächtig erwiesen haben, obwohl der Evolutionsgedanke selbst in wiederholter und perpetuierender Weise zwischen den beteiligten
Wissenschaftsdisziplinen wandern und sich durch die jeweiligen disziplinenbedingten Modifikationen verändern konnte. Literaturverzeichnis
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