Angelika Neuwirth: Ein Stück Zukunftplanung

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Ein Stück Zukunftsplanung:
„Vergleichende Koranphilologie“ als Forum des Austausches zwischen Islamwissenschaft und
„Islamischen Studien“
Professorin Dr. Angelika Neuwirth (Professur für Arabistik, Freie Universität Berlin)
In einer Zeit beispielloser Mobilität von Wissen und Menschen, in der die gegenseitige Befruchtung
verschiedener Kulturen in Kunst, Literatur und Musik längst zum Alltag gehört, muss es irritieren,
dass Arabisch/islamische Studien an den Universitäten Europas und der islamischen Welt in fast
gänzlicher Isolation von einander betrieben werden. Beide akademischen Traditionen sind je eigenen
hermeneutischen Prinzipien verpflichtet, so dass die Deutung der Grundschriften des Islam, besonders
des Koran, in Ost und West nicht selten zu konträr verschiedenen Ergebnissen führt. Die zum Teil
hyperkritischen wissenschaftlichen Positionen - etwa gegenüber der Historizität des Koran - werden in
den Medien vergröbert und nicht selten polemisch ausgenutzt. Aber auch bei polemikfernen,
objektiven Forschern herrscht eine Unsicherheit gegenüber der Authentizität des Koran vor, die seiner
Wahrnehmung als Referenz für grundlegende theologische und philosophische Fragen hinderlich im
Wege steht. Die gegenwärtige akademische Frühislamforschung kann, solange es kaum spezialisierte
Forschung zum Koran gibt, daher wenig dazu beitragen, den Koran aus dem vorherrschenden
polemischen Diskurs zu lösen. Diese Malaise, die besonders die Muslime in unserem Land trifft, kann
im herkömmlichen islamwissenschaftlichen Lehrbetrieb, der für sein weites Themenspektrum zumeist
wenige Personen zur Verfügung hat, nur am Rande bearbeitet werden. Zentrale historische Fragen, die
unsere muslimischen Studierenden aufwerfen, bleiben unberücksichtigt, und ihre - in vielen Fällen
bereits aus Studien an nahöstlichen islamischen Institutionen mitgebrachte - beachtliche Kompetenz in
der innerislamischen Tradition bleibt für die Diskussion unausgeschöpft, da für systematische
Abgleichungen von westlichen und östlichen Positionen kein akademischer Raum reserviert ist, ja
nicht einmal die raison d’etre erkannt ist. Dem dringenden Erfordernis einer Reform trägt nun der
Wissenschaftsrat mit seiner Empfehlung Rechnung, neben der bestehenden Islamwissenschaft
zusätzlich „Islamische Studien“ zu etablieren und damit der innerislamischen Wissenstradition einen
Platz an deutschen Universitäten einzurichten.
Diese Empfehlung ist gerade für in der westlichen Tradition stehende Islamwissenschaftler ein
willkommener Anstoß zur Neureflektion. Die geplanten „Islamischen Studien“ werden zum einen
dazu beitragen, das etablierte Fach Islamwissenschaft zu entlasten, dem die immer wieder anfallende
Aufgabe der „kulturellen Übersetzung“ von Lehrinhalten mit islamtheologischer Relevanz für
muslimische Studierende nun abgenommen wird. Sie stellen aber vor allem eine epistemische
Herausforderung dar. Denn indem uns im Rahmen der neuen „islamischen Studien“ der ganze Kanon
islamischer Wissenschaften in seiner hermeneutischen Kohärenz, aber auch in seiner Diversifikation
in Gestalt einer Nachbardisziplin unmittelbar vor Augen tritt, wird die Selektivität und
Unvollständigkeit der gegenwärtigen universitären Islamvermittlung mit neuer Deutlichkeit
hervortreten. Die unausweichliche Aufgabe, die sich damit stellt, ist eine hermeneutische Vermittlung
zwischen den beiden akademischen Zugängen zum Islam.
Was in dem wichtigen Konzept des Wissenschaftsrats also noch zu fehlen scheint ist eine akademische
Institution, die die Verschiedenheit der Wissenskulturen nicht als polarisierendes fait accompli
hinnimmt, sondern sie kreativ als epistemisches Potential begreift und zum Gegenstand einer
nachhaltigen hermeneutischen Debatte macht. Die bisher primär als trennend in den Blick
genommenen „Grenzen“ sollen zum Ort der Debatte, der hermeneutischen Reflektion werden. Dass
eine dafür erforderliche Relais-Station bisher noch nicht existiert, ist umso weniger begreiflich, als die
Notwendigkeit des Austausches zwischen den hermeneutischen Traditionen in Ost und West
außerhalb der Universität längst erkannt worden ist und ihre Diskussion in Pilotprojekten wie der
Arbeitsgruppe
„Jüdische
und
Islamische
Hermeneutik
als
Kulturkritik“
(2002-2007
am
Wissenschaftskolleg zu Berlin) erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit erregt hat. Es war in diesem
Kontext, bei dem Versuch der Lektüre von Bibel und Koran auf Augenhöhe, dass die Notwendigkeit
einer grundlegenden Reform der westlichen akademischen Koranforschung, als erstrangige Aufgabe
erkannt wurde. Der erste Schritt dazu, die systematische Bemühung, westliche Koranphilologie auf
das methodische Niveau der Bibelwissenschaft zu heben, wurde mit der Gründung des
Akademieprojekts
Corpus
Coranicum
–
dokumentierte
Edition
und
historisch-
literaturwissenschaftlicher Kommentar 2007 in Angriff genommen, dessen Arbeit inzwischen eine
neue Grundlage für den hermeneutischen Austausch zwischen den beiden Forschungstraditionen
gelegt hat. Dieses Vorhaben versteht sich zwar primär als Forschungsprojekt, wirkt aber auch durch
Lehr- und Vortragsaktivitäten in Berliner Schulen und intensiv in den Lehrbetrieb an der Freien
Universität, nicht zuletzt aber auch in eine größere Zahl von nahöstlichen islamischen Institutionen
hinein. Der hier verfolgte Zugang zum Koran ist nicht zuletzt ein Versuch, mit einer methodisch
zeitgemäßen Lektüre des Koran als genuines Dokument einer Religionsstiftung die Grundlage für eine
Diskussion mit muslimischen Partnern zu legen, denen es ja gleichermaßen um die Sichtbarmachung
der epistemischen Potentiale ihres heiligen Textes geht.
Was ist faktisch bei den beiden Forschungsansätzen so verschieden? Hier wird immer wieder
der
Gegensatz
zwischen
einer
„wissenschaftlich-ergebnisoffenen“
Islamwissenschaft
einerseits und einer gegen die Kritik dogmatischer Positionen abgeschotteten „Islamischen
Theologie“ andererseits ins Feld geführt. Man vergisst dabei, dass eine Reihe neuer
theologischer Ansätze diesen Gegensatz längst erweicht haben, dass ganze Studiengänge (wie
der von Ömer Özsoy an der Universität Frankfurt ins Leben gerufene) längst eine
Diskursivität demonstrieren, wie sie als kreative Herausforderung an die Islamforschung
schon lange Desiderat war. Zum anderen wird übersehen, dass gerade die Thematisierung der
„Grenzen“, die in der Spätantike in einer weit verbreiteten polemisch-apologetischen
Auseinandersetzung zwischen den Religionstraditionen überhaupt erst zur Herausbildung der
verschiedenen Theologien geführt hat, auch für unsere Zeit wertvolle, noch völlig
unausgeschöpfte hermeneutische Potentiale birgt.
Eine Polarisierung der beiden Wissenstraditionen greift also zu kurz. Viel versprechender ist
es, unter dem Aspekt des erhofften epistemischen Mehrwerts einen synoptischen Blick auf
beide Traditionen zu werfen. Was ist an ihnen so verschieden – und damit so herausfordernd?
Es
scheint die Ausgangslage selbst zu sein, die für die beiden Wissenstraditionen
verschiedene Weichen – hin zu einem historischen bzw. einem sprachlich-ästhetischen
Zugang zur jeweiligen heiligen Schrift gestellt hat: Für die westliche Tradition besaß das
‚richtige, historische, Verstehen’ von Texten bereits seit der Spätantike deswegen so
ausschlaggebende Bedeutung für die gesamte Kultur, weil deren zentrale normative Texte, die
Bibel und die griechisch-römischen „Klassiker“, schon bald sprachlich fremd geworden
waren - weil also übersetzt werden musste. In der arabischen Kultur dagegen war das
maßgebliche Wissen – vor allem biblisches Wissen – mit dem Koran selbst, d.h. ohne
philologisches Zutun, bereits arabisiert worden, und das sogar – wie man es sah – in
unnachahmbarer Vollkommenheit. Bei einem solchen Übersetzungs-fait-accompli kann es
nicht verwundern, dass das Interesse der arabisch-islamischen Forscher an den historischen
Schichten ihrer Schrift, d.h. den Spuren älterer, jüdischer und christlicher, Traditionen im
Koran, nur gering war und ist, und dass diese früheren Traditionen gewissermaßen als durch
den Sieg des Islam obsolet gewordene „Vorgeschichte“ erscheinen können. - Gerade die
historische Dimension des Koran war es aber, die im Zentrum des Interesses der – in der
Epoche des Historismus auf den Plan tretenden - westlichen Forscher stand, eine Dimension,
die sie folglich von Anfang an, bereits im 19. Jht., zur Priorität ihrer Koranforschung erhoben.
Dieser Gegensatz beherrscht die heutige Situation: Gegenwärtig herrscht zwischen (Früh)Islamforschern in Europa und im Nahen Osten zumeist Sprachlosigkeit.
Das ist nicht Resultat einer zwangsläufigen Entwicklung. In der Moderne gab es seit dem 19.
Jahrhundert im britisch kolonialisierten Indien, aber auch im arabischen Nahen Osten, sehr
ernsthafte Bemühungen islamischer Gelehrter, sich der neuen westlichen Textlektüre
anzunähern. Es entstanden neue wissenschaftliche Hilfsmittel zur historischen Erschließung
des Koran, eine avantgardistische Gelehrtenschule in Ägypten insistierte sogar auf dem nicht-
sakralen Charakter des Koran als einem literarischen Text, der mit demselben
Instrumentarium
zu
Zwischenweltkriegszeit
erschließen
sei
ergingen
Rufe
wie
andere
arabischer
Texte
auch.
Universitäten
Noch
an
in
der
europäische
Islamwissenschaftler – so erhielt einer der Begründer der westlichen Islamwissenschaft, Ignaz
Goldziher, einen Ruf nach Kairo, der Pionier koranischer Textforschung, Gotthelf
Bergsträsser, arbeitete eng mit ägyptischen Gelehrten zusammen. Und sogar noch in den
Siebziger- und Achtziger Jahren waren Gastdozenturen deutscher Koranforscher in Jordanien
und Ägypten willkommen. Solche gegenseitige Neugierde und Offenheit heute Geschichte.
Zwischen jener Zeit und heute liegen einschneidende politische Ereignisse, die zu einem
„islamistischen Erwachen“ geführt haben. Es liegen dazwischen aber auch Text-Kriege, die
maßgeblich zu einem akademischen Klimasturz beitrugen. Es war vor allem das gleichzeitige
Erscheinen 1977 von zwei englischsprachigen Werken zur Koranentstehung aus der Feder
hochangesehener Autoren, die erstmals die gesamte islamische Tradition als historisch
basislos und damit die Masternarrative der Islamgenese als bloße Mythenstiftung zu erweisen
versuchten – das einen Erdrutsch in der Beziehung zwischen Früh-Islamforschern in Ost und
West auslöste. Die bis heute anhaltende Folge ist eine fortschreitende Selbstghettoisierung der
Forschung in der islamischen Welt, die sich der Lektüre der inzwischen zahllos gewordenen
Werke derselben Tendenz einfach entziehen. Aber auch im Westen wirkte sich das neue
„revisionistische Modell“ für lange Zeit gravierend aus: Der Korantext – nun als spätere
Kompilation anonymer Autoren wahrgenommen - verlor seinen Rang als genuines Dokument
einer Religionsentstehung und verschwand für 30 Jahre aus dem Horizont der Forschung.
Obwohl sich die Entwertung der islamischen Tradition und besonders die Spätdatierung des
Koran
durch
die
sog.
revisionistische
Forschung
inzwischen
aufgrund
von
Handschriftenzeugnissen aus dem ersten islamischen Jahrhundert als unhaltbar erwiesen hat,
ist die Kluft nur tiefer geworden; das Vertrauensverhältnis zwischen westlichen und
nahöstlichen Forschern ist so nachhaltig beschädigt, dass die akademische Ausbildung von
muslimischen Studierenden, die später an einer nahöstlichen Institution tätig werden wollen,
zu einem problematischen Unternehmen geworden ist. - Wir stehen somit vor der dringlichen
Aufgabe, unseren akademischen Zugang zum Koran neu zu bedenken. Dazu sind im Kreis der
Forscher am Corpus Coranicum-Projekt und benachbarten an der Freien Universität
angebundenen Projekten Überlegungen angestellt worden, die im folgenden kurz vorgestellt
seien.
Um Kompetenz für die heute dringend geforderte „kulturelle Übersetzung“ zu vermitteln, bietet sich
das Modell eines Masterstudiengangs „Vergleichende Koranphilologie“ an. Dieser Studiengang soll
nicht nur seiner Zielsetzung nach innovativ sein, indem er die westliche und die nahöstliche
Wissenstradition verbindet, er soll diese doppelte Ausrichtung auch personell und vor allem sprachlich
„inszenieren“, indem die Unterrichtsmodule, die den Blick aus den beiden hermeneutischen
Perspektiven auf ihren Gegenstand richten, jeweils von arabischen und deutschen Wissenschaftlern
gemeinsam konzipiert und zu gleichen Teilen auf Arabisch, der Gelehrtensprache des Islam, und auf
Deutsch unterrichtet werden sollen. In einem zweisprachigen Aufbaustudium sollen erstmalig beide,
die deutsch-europäische und die arabische, Forschungstradition, im Bereich der Koranwissenschaften,
aber auch der sie begleitenden profanen sprachbezogenen Wissenschaften gleichrangig und auf
Augenhöhe miteinander verbunden werden. Damit stellt sich die deutsche Orientwissenschaft nicht
nur der Herausforderung der gegenwärtigen Nachfrage nach wissenschaftlich ausgebildetem
Fachpersonal für eine zeitgemäße Vermittlung islamischer Grundschriften, sondern erschließt sich
auch selbst von neuem eine benachbarte Wissenskultur, die die Geschichte hindurch in verschiedenen
Manifestationen formgebend an der europäischen Identitätskonstruktion beteiligt war.
Der neue Studiengang trägt also nicht zuletzt einer wichtigen kulturpolitischen Anforderung
Rechnung, nämlich der Rückbesinnung auf die in früheren Epochen in Europa sehr viel
präsentere Nachbarkultur als einer Wissenskultur, die sich in die europäische eingeschrieben
hat. Es ist nicht irrelevant, dass eine entsprechende Neubesinnung gegenwärtig auch im
Nahen Osten stattfindet: Arabische, aber auch iranische Intellektuelle fordern die Revision der
vor Ort noch immer fortwirkenden Sicht, nach welcher relevante nahöstliche Geschichte mit
der Koranoffenbarung beginnt; sie fordern ihre Rückkoppelung an die sie umgebende jüdischchristliche Spätantike. Ihre Stimme bleibt außerhalb ihrer Heimat bisher weitgehend ungehört.
Ihr Plädoyer ist dennoch wichtig für die überfällige Entmythisierung islamischer Geschichte
und verdient in eine überregionale Debatte einbezogen zu werden. Denn ihr Anliegen ist nur
die eine Hälfte der erforderlichen – weit über die Behebung der lokalen Malaise
hinausgehende - Revision. Der nahöstlichen Selbstexklusion entspricht eine ähnlich
entschiedene westliche Exklusion des Koran aus derselben Geschichte, überdeutlich in der
Tendenz, den Koran als einen gegenüber der europäischen Kultur grundlegend fremden Text
zu betrachten, während andere Schriften aus derselben geographischen Landschaft und in
derselben Tradition stehend - insbesondere biblische und postbiblische Literatur - als
Basistexte europäischer Identität assimiliert werden.
Was kann vergleichende Koranforschung hier leisten? Sie hat zunächst ihren Gegenstand aus
seiner konfessionell isolierten Position zum einen und dem polemischen Diskurs zum anderen
zu lösen und ihn wieder in seinen - ihm bereits durch seine spätantike Genese vorgegebenen –
weiten Horizont religionsübergreifender theologischer und philosophischer Debatten
zurückzuholen. Dazu ist der Schritt einer systematischen historischen Lektüre des Koran
wichtig. Darauf aufbauend ist die in beiden Traditionen akkumulierte Reflektion über den
Koran und über monotheistische heilige Schriften allgemein vergleichend aufzuarbeiten und
als epistemisches Potential auszuschöpfen. Dies kann nur so geschehen, dass die in beiden
Wissenstraditionen entwickelten Strategien, heilige Schriften für die zentralen Zeitfragen
ihrer jeweiligen Rezipienten zu erschließen und relevant zu halten, durch eine kulturelle
Übersetzung dem jeweiligen anders akkulturierten Partner zugänglich gemacht werden. Dies
kann nur im Rahmen der akademischen Lehre geschehen.
Gewiss ist, dass Koranforscher heute - ob sie wollen oder nicht – inzwischen zu
Gesprächspartnern in der politischen Debatte um die kulturellen „Grenzen“ Europas
geworden sind, die westliche und nahöstliche/islamische Intellektuelle gleichermaßen
einbezieht. Leben wir tatsächlich in einem exklusiv jüdisch-christlichen Europa? Oder nicht
eher in einem von seiner Geschichte und seiner Gegenwartsrealität her jüdisch-christlichislamischen Europa? Für den, der den Koran unter Berücksichtigung seiner besonderen
Gattung, d.h. als dialogisch antwortende Stimme in dem Konzert anhaltender theologischer
Debatten der Spätantike liest, ist die Antwort eindeutig: Der Koran mag das exklusive Erbe
der Muslime sein, historisch gesehen ist er gleichzeitig ein theologisch bedeutendes
Vermächtnis auch der Geschichte Europas. Dieser Sachverhalt verpflichtet die westliche
Forschung, die sich um den Koran gebildete Wissenskultur nicht mehr nur als Gegenstand,
sondern jetzt auch als hermeneutische Herausforderung zu begreifen.
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