Gottesdienst vom 12

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MUTTENZER
MONATSPREDIGT
OKTOBER 2007
Gottesdienst vom 12. August 2007, 10.00 Uhr, im KGH Feldreben
Verabschiedung von Ulrich Wetter
Mit Gedichten von Luisa Famos, vertont von U. Wetter,
vorgetragen von Muriel Fankhauser, Sopran, und Ulrich Wetter, Orgel
An jenem Tage wirst du sprechen: Ich danke dir, Herr, denn du hast mir gezürnt; da hat
dein Zorn sich gewendet, und du hast mich getröstet.
Siehe, Gott ist meine Rettung! Ich bin getrost und fürchte mich nicht.
Denn meine Stärke und mein Loblied ist der Herr, und er wurde mir zur Rettung.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils und werdet sprechen an jenem Tage: „Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen, tut kund unter den
Völkern seine Taten, verkündet, dass sein Name erhaben ist!
Lobsinget dem Herrn; denn Grosses hat er getan, kund sei das in aller Welt!
Jauchze und juble, Bewohnerin Zions! Denn gross ist in deiner Mitte der Heilige Israels.“ (Jesaja 12, 1-6)
Liebe Gemeinde
Lieber Ueli
Ganz am Anfang, als wir diesen Gottesdienst vorbereitet haben, warst du ein wenig
unsicher, ob das nicht zu gewagt sei: Passionstexte im Hochsommer!
Und dann kamen in diesem Gottesdienst auch noch Klänge vor, die verunsichern können, jedenfalls das ungeübte, nicht an moderne Musik gewöhnte Ohr.
Aber wer sagt eigentlich, dass zu einer bestimmten Jahreszeit eine bestimmte Melodie
gehört? Zum Sommer eine Melodie in Dur, zur Passionszeit Moll-Melodien, zum Herbst
Dur-Klänge, in welche sich Moll mischt, und zum Winter Moll mit einzelnen, z. B. weihnachtlichen, Dur-Passagen?
So ist es ja gerade nicht, und obwohl das Kirchenjahr mit seiner Abfolge von Themen
durchaus Sinn macht, heisst das nicht, dass man sich mit einer Gottesdienst-Thematik
nicht auch einmal quer stellen kann.
Was die ungewohnten Klänge angeht, so erinnere ich mich, im Musikunterricht gelernt
zu haben, dass musikalische Werke, die nur aus „wohlklingenden“, sog. konsonanten
Akkorden bestehen, als langweilig empfunden werden. Es braucht auch die Dissonanz,
die spannungsreichen Klänge, die das Ohr herausfordern, und die Kunst, auch in ganz
klassischen Werken, besteht darin, dass Dissonanzen erzeugt und wieder aufgelöst
werden.
Der Predigttext, den ich für heute gewählt habe, ist ein fröhlicher, jubelnder Text. Er ist
eine Art Gedicht oder Lied und könnte ebenso gut im Psalter stehen. In ihm ist nach
dem ersten Eindruck wenig Moll, sind wenige Dissonanzen spürbar. Eine Reihe begeisterter Imperative: „danket“, „tut kund“, „lobsingt“, „jauchze“, „juble“, machen klar:
hier geht es um Freude, um Befreiung!
Doch dann beginnt man sich zu fragen: Wovon fühlen diese Menschen sich befreit?
Wovon atmen sie auf? Doch wohl von Situationen und Erfahrungen, die bedrücken!
Das Jesaja-Buch entstand unter dem Eindruck der assyrischen Unterdrückung Israels im
7. Jh. v. Chr., und wahrscheinlich sind ausserdem Erfahrungen aus der babylonischen
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Gefangenschaft im 6. Jh. v. Chr. eingeflossen. Diese belastenden Erfahrungen sind in
dem Loblied noch präsent. Der „Zorn Gottes“ ist immer noch Thema. Ganz gelöst ist
die Situation nicht. Eingeleitet wird der Abschnitt mit den Worten: „An jenem Tage
wirst du sprechen“. Die Auflösung scheint also noch gar nicht Gegenwart zu sein. Das
Loblied ist mehr ein Blick in die Zukunft. Und doch klingt es so überzeugend, als wäre
die Rettung schon da.
Wir haben es hier offenbar mit einer Übergangsphase, mit einer typischen Schwellensituation zu tun. Solche Schwellensituationen werden in der Bibel oft durch Wasser symbolisiert: So muss z. B. Jakob am Fluss Jabbok mit einem Engel kämpfen, bevor er seinem Bruder Esau wieder begegnet. Mose zieht mit seinem Volk durchs rote Meer, Josua überquert den Jordan. Johannes der Täufer schliesslich tauft Menschen im Jordan,
zur Zeit Jesu, die auch eine Zeit der römischen Fremdherrschaft über Israel ist.
Auch im Jesaja-Buch kommt Wasser nicht nur als lebensspendende, sondern auch als
bedrohliche Grösse vor. Der assyrische König wird mit den reissenden Wassermassen eines Stroms verglichen, der über Israel hereinbricht.
In diesem Abschnitt aber werden die reissenden Wassermassen abgelöst von den
„Quellen des Heils“, aus denen die Besungenen mit Freuden Wasser schöpfen können.
Wie kommt es zu dieser Verwandlung?
Etwas geschieht im Verlauf des Liedes: eine Spannung, ja eine unerträgliche Situation
löst sich. Und es ist nicht abwegig, zu vermuten, dass diese lösende Wirkung etwas mit
dem Lied, mit dem Singen selber zu tun hat.
Musik hat eine therapeutische Wirkung.
Seit es Musik gibt, haben Komponistinnen und Interpreten, Profi- und Hobby-Sängerinnen und -Sänger damit ihre Erlebnisse verarbeitet, frohe und schmerzhafte.
W. A. Mozart soll immer dann, wenn es ihm besonders schlecht erging, besonders fröhliche Musik geschrieben haben. Paul Gerhardt hat vor dem Hintergrund des 30-jährigen
Krieges Kirchenlieder gedichtet. Eric Clapton – um ein Beispiel aus einer ganz anderen
Zeit und Stilrichtung zu wählen – verarbeitete in seinem Song „Tears in Heaven“ den
Unfalltod seines kleinen Sohnes.
Unter den biblischen Psalmen gibt es Klagelieder, die nach ausdrucksstarken Worten
des Schmerzes und der Wut allmählich zu helleren, zuversichtlicheren, ja dankbaren
Tönen übergehen, und nicht selten im Lob enden. „Erlösung“ findet im Prozess des
Dichtens und Komponierens und dann nochmals beim Vortragen und Singen statt. Und
das Publikum ist aufgefordert, mit einzustimmen und die (er-)lösende Wirkung der Lieder selber an Leib und Seele zu erfahren.
Es ist keine schnelle Erlösung und schon gar kein Zudecken von traurigen Erfahrungen,
sondern wirklich ein Verarbeiten; manchmal verbunden mit einem Eintauchen in
schmerzvolle Empfindungen und anschliessendem Wieder-Auftauchen – ähnlich wie
bei der Taufe im Jordan, die Johannes durchgeführt hat. Nach dem Komponieren oder
Hören der Musik (oder dem Schreiben bzw. Lesen eines Gedichtes) fühlt man sich befreit, auch wenn man die Blessuren, die einem das Leben zugefügt hat, immer noch mit
sich trägt – wie Jakob, der nach dem Kampf mit dem Engel hinkend, aber gesegnet den
Kampfplatz verlässt.
Musik kann eine „Quelle“ der Befreiung sein. Der Predigttext drückt seine Wertschätzung für die Musik aus mit dem Vers: „Meine Stärke und mein Loblied ist der Herr“
oder wie Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen: „Mein Sieg und Saitenspiel
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ist ER.“ Ein schöner Vers, finde ich. Das heisst ja: Gott ist musikalisch! Und umgekehrt:
Musik hat etwas mit Gott zu tun.
Die Psalmen, und wahrscheinlich noch so manche Musik vergangener und zeitgenössischer Komponisten, auch moderne Song-Texte(!), sind eigentlich so etwas wie Gebete.
Sie richten sich nicht nur an eine bestimmte Person, z. B. an den/die Geliebte/n, die einem Schmerz zufügt, oder an ein anonymes Publikum, dem man seine Wut oder seine
Freude entgegensingt. Sondern sie richten sich – ausserdem – an niemand bestimmtes
und zugleich an alle Menschen, an die ganze Welt, ans Leben. Die Seele öffnet sich
ganz, gibt sich ganz im Entstehungsprozess der Musik oder der Worte. Sie richtet sich
an eine Realität, die diese Welt umfasst und sogar übersteigt, die nicht eine Person im
engeren Sinn ist und die doch als DU angeredet wird.
Vielleicht liegt die heilsame Wirkung der Psalmen und vieler anderer Musik unter anderem darin, dass sie diese Weite hat, dass sie, religiös gesprochen, Gebet ist. Und dass sie
von jenem DU, an das sie sich wendet, Rettung erwartet.
Musik und Dichtkunst können ein Mittel sein, verschiedenste Lebenslagen und besonders Schwellensituationen zu bewältigen. Im Psalm 49 habe ich noch so einen schönen
Vers gefunden: „Ich will mein Ohr einem Spruche neigen, bei Harfenklang mein Rätsel
lösen“ (Ps 49,5). (Statt Harfe liesse sich, denke ich, auch „Orgel“ einsetzen.)
Besonders gut kann Musik diese Wirkung haben, wenn sie auf eine stimmige, kunstvolle Art Spannungen und Entspannungen erzeugt, Dissonanzen zulässt und wieder auflöst. So wie das in diesem Gottesdienst die Abfolge der vertonten Passionsgedichte und
das anschliessende Osterlied getan haben. Und so wie das auch die biblischen Passionserzählungen tun.
Während sich in unserem Predigtext ein fröhlicher, scheinbar harmonischer Text, ein
„Dur“-Text, beim genaueren Lesen plötzlich als spannungsreich erweist, ist es bei den
Passionserzählungen umgekehrt: Sie sind keine reinen Moll-Melodien. Auch die Gedichte von Luisa Famos nicht. Sie sind zwar „dissonant“ in dem Sinne, dass sie stören
und verstören. Aber alle Passionslieder, -musikstücke und -gedichte wären nicht denkbar, wenn in ihnen nicht – und sei es zwischen den Zeilen verborgen – die Auflösung
vorweggenommen wäre. Ostern ist immer schon im Bewusstsein und klingt, vielleicht
als diskrete Begleitmelodie, bereits an.
Ich glaube, es ist der Wechsel zwischen Spannung und Auflösung im Leben von uns allen, der bewirkt, dass wir gerne spannende Musik hören, spannende Theaterstücke
oder Filme anschauen und uns ab und zu wieder den spannungsreichen und aufwühlenden Passionsgeschichten zuwenden. Daneben darf es natürlich gerne auch wieder
einmal ein Loblied oder eine Komödie sein oder Musik, in der wir einfach schwelgen
können. In deinem Repertoire, Ueli, ist dies alles, die ganze Bandbreite, vorhanden. Dafür danken wir dir.
Wenn du – und wir alle natürlich – an unseren Lebensmelodien weiterschreiben, begleitet uns immer die Melodie der Heilsgeschichte Gottes, das „göttliche Saitenspiel“ –
oder man kann auch sagen: der göttliche Orgelklang oder Gesang. Wenn wir innehalten und lauschen, können wir seinen Klang vernehmen.
Amen.
(gehalten von Pfrn. Kirsten Jäger)
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