Gedankenlesen: Wie Nervenzellen Sinnesreize darstellen und

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Jahrbuch 2014/2015 | Gütig, Robert | Gedankenlesen: W ie Nervenzellen Sinnesreize darstellen und auslesen
Gedankenlesen: Wie Nervenzellen Sinnesreize darstellen und
auslesen
Thought-reading: Decoding spike-based neuronal representations
Gütig, Robert
Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
In w elcher Weise verarbeiten die knapp 100 Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns Sinnesreize
und Gedanken? Diese
Frage
zu beantw orten ist eine
der faszinierendsten Herausforderungen der
Neurow issenschaften. Entgegen der Lehrbuchmeinung, dass Nervenzellen Informationen durch die Raten von
Aktionspotenzialen darstellen, stärken experimentelle und theoretische Befunde in zunehmendem Maße
alternative Hypothesen, nach denen neuronale Codes deutlich raffinierter sein könnten und z. B. auch die
zeitlichen Intervalle zw ischen Aktionspotenzialen verschiedener Zellen miteinbeziehen könnten.
Summary
The question how the almost 100 billion nerve cells of the human brain represent and process sensory stimuli
and thoughts is one of the most fascinating challenges in neuroscience. Contrary to common belief that nerve
cells encode information by the rate of action potential firing, a grow ing number of experimental and
theoretical accounts is strengthening alternative hypotheses that neural codes could be more refined and for
instance incorporate also temporal intervals betw een action potentials of different neurons.
Stellen Sie sich vor …
Stellen Sie sich vor, Sie w ären heute Abend bei Ihrer besten Freundin Alice zu einem Videoabend eingeladen.
Alice ist erst vor kurzem von einer Forschungsexpedition vom Planeten Mars zurückgekehrt und möchte Ihnen
nun einige der auf dieser Reise entstandenen Videoaufzeichnungen vorführen. Allerdings hat die Sache einen
Haken: Alice hat nämlich bei ihrer Expedition eine Videokamera der neuesten Generation verw endet. Diese
Kamera vom Typ „RetinaCam“ unterscheidet sich erheblich von vorhergehenden Kamera-Generationen.
Anstatt einfallendes Licht mittels eines Objektivs auf einen Film oder einen lichtempfindlichen Mikrochip zu
fokussieren und aufzuzeichnen, bedient sich die RetinaCam der Optik und der Photorezeptoren des
menschlichen Auges und erfasst lediglich die im optischen Nerv der Kamerafrau entstehende neuronale
Aktivität. Alices RetinaCam-Videos bestehen also aus derjenigen neuronalen Aktivität, w elche ihre Netzhaut
w ährend ihrer „Filmaufnahmen“ an ihr übriges zentrales Nervensystem gesandt hat. Um sich nun w ährend des
Videoabends
ein
Bild
von
Alices
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Reiseeindrücken
machen
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zu
können, müssen
Sie
sich, w ie
viele
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Neurow issenschaftler auch, als Codeknacker betätigen und versuchen, die neuronalen Codierungsprinzipien
des menschlichen Gehirns zu entziffern.
Neuronale Codierung und Decodierung
Obw ohl RetinaCams heute vermutlich noch einige Jahrzehnte von ihrer Markteinführung entfernt sind, gehört
die Frage, in w elcher Weise die knapp 100 Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns Sinnesreize und
Gedanken
repräsentieren, also
mit
neuronalen
Signalen
darstellen, und
verarbeiten, zu
einer der
grundlegendsten und faszinierendsten Herausforderungen der Neurow issenschaften. Schon lange
ist
bekannt, dass ein Großteil der Kommunikation zw ischen Nervenzellen über „Aktionspotenziale“ oder auch
„Spikes“ genannte, elektrische Impulse vermittelt w ird. So empfängt eine typische Nervenzelle die Aktivität
von
mehreren
tausend
Spannungssignal,
dem
ihr
vorgeschalteten
Membranpotenzial,
Zellen
auf.
und
Anhand
summiert
dieses
diese
zu
einem
zeitabhängigen
intrazellulären
Spannungssignals
„entscheidet“ die Zelle von Moment zu Moment, ob sie aufgrund des eingehenden raum-zeitlichen Musters von
Spikes selbst aktiv w ird. Welche Eingangsaktivität eine Nervenzelle dazu veranlasst, selbst einen Spike zu
erzeugen, hängt im Wesentlichen von ihren synaptischen Gew ichten ab, also der individuellen Stärke mit
denen Spikes, die auf den verschiedenen Eingangsleitungen der Zelle eintreffen, zum intrazellulären
Membranpotenzial beitragen.
Aus Sicht einer einzelnen Nervenzelle erfordert eine erfolgreiche Decodierung ihrer Eingangsaktivität also das
genaue Einstellen derjenigen synaptischen Konfiguration, mit der die Zelle ein gew ünschtes Antw ortverhalten
realisieren kann. Bei menschlichen Versuchspersonen hat man zum Beispiel über Nervenzellen berichtet, die
ihre Synapsen so eingestellt hatten, dass sie immer dann aktiv w urden, w enn bestimmte berühmte Personen
des öffentlichen Lebens in ihrem “Sichtfeld” erschienen. Die so genannte “Bill-Clinton-Zelle” begann immer
dann – und anscheinend auch nur dann – Spikes zu generieren, w enn dem Probanden eine Abbildung des
ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton vorgelegt w urde [1]. In einer anderen Hirnregion, der primären
Sehrinde, findet man w eniger stark spezialisierte Zellen, die einfachere Bildmerkmale auslesen. So erforschten
die späteren Nobelpreisträger David H. Hubel und Thorsten N. W iesel in den 60er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts Zellen, w elche auf gerichtete Balken oder Streifenmuster innerhalb ihrer rezeptiven Felder
reagieren [2]. Die von ihnen gefundenen “simple cells” und “complex cells” unterscheiden sich dahingehend,
dass simple cells nur auf bestimmte räumliche Positionierungen eines Musters reagieren, w ährend die complex
cells diesbezüglich deutlich w eniger w ählerisch sind.
Die synaptischen Gew ichte, mit denen ein Neuron eine bestimmte Decodierungsfunktion realisieren kann,
hängen empfindlich davon ab, in w elcher Weise die auszulesende Information codiert ist. Seit vielen
Jahrzehnten ist die hier vorherrschende Lehrbuchmeinung, dass Neurone Informationen maßgeblich durch ihre
„Feuerraten“ codieren, also durch die mittlere Anzahl von Spikes innerhalb eines bestimmten Zeitfensters [3].
Auf der Grundlage dieser einfachen Ratenhypothese konnte das Verhalten vieler Nervenzellen erfolgreich
beschrieben und erklärt w erden. Jedoch haben Forschungsergebnisse innerhalb der vergangenen zw ei
Jahrzehnte in zunehmenden Maße ein komplexeres Bild neuronaler Repräsentationen gezeichnet, in dem auch
andere Parameter der Aktivität, w ie zum Beispiel die genauen zeitlichen Abstände zw ischen den Spikes
verschiedener Zellen erhebliche Information über physikalische Reize mit sich führen können [4; 5]. Die schon
lange und kontrovers geführte Debatte, ob und w ie Nervenzellen solche komplizierteren Repräsentationen
von Informationen überhaupt auslesen können, w urde durch diese Ergebnisse w eiter angefacht.
Das Tempotron-Neuronenmodell
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A bb. 1: Sche m a tisch Da rste llung e ine s Te m potronNe urone nm ode lls. Ne urona le Ak tivitä tsm uste r (link s obe n)
e rre iche n da s Ne rve nze lle nm ode ll (re chts) übe r ve rschie de ne
Eingä nge , we lche je we ils die Spik e a k tivitä t e inze lne r
Ga nglie nze lle n übe rtra ge n. In de n zwe i da rge ste llte n
Ak tivitä tsm uste rn (rot und bla u) re prä se ntie rt je de r Strich
e ine n Spik e de r Ne tzha ut. Die Ne rve nze lle ge wichte t je de n
a nk om m e nde n Spik e m it de m syna ptische n Ge wicht de s
e ntspre che nde n Einga ngs und sum m ie rt die e rze ugte n
postsyna ptische n P ote ntia le (re chte s Sche m a ) zum
ze ita bhä ngige n intra ze llulä re n Spa nnungssigna l a uf (unte n
re chts). Die Spa nnungssigna le (rote und bla ue Kurve n) sind in
Einhe ite n de r ne urona le n Fe ue rschwe lle ϑ (ge punk te te Line )
da rge ste llt. W ä hre nd die Ne rve nze lle be i de m visue lle n R e iz,
we lche r da s bla ue Ak tivitä tsm uste r e rze ugt ha t, die
Fe ue rschwe lle übe rschre ite t, a lso se lbst e ine n Spik e ge ne rie rt,
ble ibt die ne urona le Antwort a uf de n R e iz, we lche r da s rote
Ak tivitä tsm uste r e rze ugt ha t, unte rschwe llig, soda ss die Ze lle
ina k tiv ble ibt.
© Ma x -P la nck -Institut für e x pe rim e nte lle Me dizin/Gütig; m it
fre undliche r Ge ne hm igung a us [8]
Ein w ichtiger Schritt zur Beantw ortung der Frage, w elche Codierungsprinzipien dem Gehirn zur Verfügung
stehen, w urde durch die Entw icklung des so genannten Tempotrons vollzogen (Abb. 1). Kern dieses
lernenden Neuronenmodells ist eine synaptische Lernregel, die es ermöglicht, die Synapsen des Neurons so
zu verändern, dass dieses ein gew ünschtes, von außen vorgegebenes Antw ortverhalten anstrebt. Die
Lernregel
ist
insbesondere
darauf
ausgelegt,
Neuronenmodelle
zu
trainieren,
sodass
sie
binäre
Klassifikationsaufgaben lösen, also bei bestimmten Aktivitätsmustern Spikes generieren, bei anderen
hingegen inaktiv bleiben.
Mit Hilfe von speziell konstruierten Aktivitätsmustern und über diese definierte Klassifikationsaufgaben lässt
sich nun systematisch prüfen, w elche Arten von Repräsentationen von einem gegebenen Neuronenmodell
decodiert w erden können und w elche nicht. In einer der ersten Anw endungen gelang es mit Hilfe des
Tempotrons zu zeigen, dass selbst einfache, biologisch plausible Nervenzellmodelle sehr w ohl in der Lage
sind, Informationen auszulesen, die durch relative Spikezeiten repräsentiert sind. Insbesondere funktionierte
diese
spikezeitbasierte
Verarbeitung
auch
dann,
w enn
die
Feuerraten
der
zu
klassifizierenden
Aktivitätsmuster keinerlei Information über deren Klassenzugehörigkeit beinhalteten [6]. Darüber hinaus
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ermöglichte das Tempotron die Untersuchung der intrazellulären Verarbeitungsmechanismen, mit denen
bestimmte Decodierungsleistungen innerhalb einzelner Zellen implementiert w erden können [7].
Spikezeitbasierte visuelle Informationsverarbeitung
Um zu zeigen, dass spikezeitbasierte neuronale Informationsverarbeitung nicht nur eine theoretische
Möglichkeit ist, sondern auch zu erheblich verbesserten Verarbeitungsleistungen echter neuronaler Aktivität
führen
kann,
konfrontierten
Max-Planck-Forscher
das
Tempotron
mit
dem
eingangs
beschriebenen
“RetinaCam-Problem” [8].
Sie bedienten sich hierzu eines an der Harvard Universität erhobenen Datensatzes [4], w elcher die
Aktivitätsmuster von retinalen Ganglienzellverbänden beinhaltete, also
von spikenden Neuronen der
Ausgangszellschicht der Netzhaut. Anhand der verschiedenen visuellen Reize, w elche zu den gemessenen
Aktivitätsmustern geführt hatten, definierten die Forscher zw ei verschiedene Diskriminationsaufgaben für
nachgeschaltete Neuronenmodelle. Die erste, einfachere Aufgabe erforderte die Unterscheidung zw ischen
Reizen, die an einer bestimmten Bildstelle hell bzw . dunkel w aren (Helligkeitsdiskrimination). Im Gegensatz
dazu erforderte die zw eite, schw ierigere Aufgabe das Detektieren einer visuellen Kante (Kantendetektion) und
zw ar in Analogie zu den oben erw ähnten complex cells unabhängig davon, ob die Kante von hell nach dunkel
oder von dunkel nach hell ausgerichtet w ar. Für die Helligkeitsdiskrimination benötigte ein Neuronenmodell
deutlich w eniger Eingangsspikes, w enn es für die Klassifikation der Aktivitätsmuster auf die Spikezeiten
zurückgreifen konnte. Die gemessenen neuronalen Repräsentationen könnten im Gehirn also w esentlich
schneller verarbeitet w erden, w enn die entsprechenden Neurone eine spikezeitbasierte Decodierung anstelle
eines
ratenbasierten
Decodierungsansatzes
implementierten.
Darüber
hinaus
w ar
die
schw ierigere
Kantendetektionsaufgabe mit dem ratenbasierten Decodierungsansatz von einer Zelle alleine überhaupt nicht
zu lösen und w ürde stattdessen, w ie bereits von Hubel und W iesel vorgeschlagen, mehrschichtige
Netzw erkstrukturen
erfordern.
Durch
Verw endung
der
zeitlichen
Repräsentation
jedoch
w urde
die
Unterscheidung zw ischen den verschiedenen Stimuli sehr viel leichter und konnte ohne Schw ierigkeiten von
einem einzelnen Tempotron gelöst w erden. Schließlich konnten die Max-Planck-Forscher zeigen, dass,
zumindest in dem vorliegenden Datensatz, die spikezeitbasierte Decodierung w esentlich robuster in Bezug auf
Kontrastvariationen der visuellen Reize ist als die ratenbasierte Alternative. Dies liegt daran, dass
Kontrastvariationen zw ar deutliche Ausw irkungen auf die Anzahl der erzeugten Spikes haben, aber die
relativen zeitlichen Abstände zw ischen den frühesten Spikes verschiedener Ganglienzellen nur unw esentlich
beeinflussen.
Ausblick
Die Forschungsgruppe Theoretische Neurow issenschaften am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin
hat das hier vorgestellte binäre Tempotron inzw ischen bedeutend w eiterentw ickelt. Dieser Fortschritt beruht
auf einer neuartigen Lösung des w ichtigen “temporal credit assignment”-Problems, also der Frage, w ie
lernende Neurone vergangene sensorische Reize mit später eintreffendem Verhaltensfeedback assoziieren
können. Netzw erke von Tempotrons sind heute in der Lage, auch selten auftretende, komplexe sensorische
Merkmale innerhalb langer Aktivitätssequenzen ohne jegliche äußere Überw achung ausfindig zu machen.
W ährend modernste Bildgebungstechnologien die RetinaCam an die Grenze des technisch Machbaren gerückt
haben, machen die Fortschritte der Theorie spikender neuronaler Netze ihr Gegenstück zumindest vorstellbar:
den “RetinaPlayer”.
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Literaturhinweise
[1] Quiroga, R. Q.; Reddy, L.; Kreiman, G.; Koch, C.; Fried, I.
Invariant visual representation by single neurons in the human brain
Nature 435, 1102-1107 (2005) DOI 10.1038/nature03687
[2] Hubel, D. H.; Wiesel, T. N.
Receptive fields of single neurones in the cat’s striate cortex
The Journal of Physiology 148, 574-591 (1959) DOI 10.1113/jphysiol.1959.sp006308
[3] Rieke, F.; Warland, D.; de Ryter van Steveninck, R., Bialek, B.
Spikes: exploring the neural code, Chapter 1
MIT Press, Cambridge, Ma. (1997)
[4] Gollisch, T.; Meister, M.
Rapid neural coding in the retina with relative spike latencies
Science 319, 1108-1111 (2008) DOI 10.1126/science.1149639
[5] Gütig, R.
To spike, or when to spike?
Current Opinion in Neurobiology 25, 134-139 (2014) DOI 10.1016/j.conb.2014.01.004
[6] Gütig, R.; Sompolinsky, H.
The tempotron: a neuron that learns spike timing-based decisions
Nature Neuroscience 9, 420-428 (2006) DOI 10.1038/nn1643
[7] Gütig, R.; Sompolinsky, H.
Time-warp-invariant neuronal processing
PLoS Biology 7, e1000141 (2009) DOI 10.1371/journal.pbio.1000141
[8] Gütig, R.; Gollisch, T.; Sompolinsky, H.; Meister, M.
Computing complex visual features with retinal spike times
PLoS One 8, e53063 (2013) DOI 10.1371/journal.pone.0053063
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