Politik Andre Goda Konfliktlinien im Parteiensystem der Niederlande Magisterarbeit Konfliktlinien im Parteiensystem der Niederlande Magisterarbeit im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück Vorgelegt am: 25.08.2005 Von: Andre Goda I Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung .................................................................................. 1 2. Die Theorie sozialer Konfliktlinien............................................. 9 2.1 Definition und Merkmale der Theorie sozialer Konfliktlinien ......... 12 2.2 Die vier zentralen Konfliktlinien.............................................................. 15 2.2.1 Der Staat-Kirche-Konflikt .................................................................. 18 2.2.2 Der Arbeit-Kapital-Konflikt................................................................ 19 2.3 „freezing-hypothesis“ ............................................................................... 20 2.4 Neue Konfliktlinien – Postmaterialismus vs. Materialismus .......... 23 2.5 Zusammenfassung..................................................................................... 27 3. Konfliktlinien im Parteiensystem der Niederlande................... 29 3.1 Der Staat-Kirche-Konflikt.......................................................................... 30 3.1.1 Die Entwicklung der konfessionellen Konfliktlinie .................... 30 3.1.2 Der Konflikt zwischen Liberalen und Konfessionellen............. 35 3.2 Der Arbeit-Kapital-Konflikt....................................................................... 37 3.2.1 Der Arbeit-Kapital-Konflikt zwischen Liberalen und Sozialisten ............................................................................................................................ 37 3.2.2 Der Arbeit-Kapital-Konflikt in den konfessionellen Lagern..... 39 4. Die Versäulung bis in die Mitte der 1960er Jahre: Zusammenhänge zwischen der Versäulung und den Konfliktlinien .................................................................................................... 42 4.1 Die parlamentarische Entwicklung in den Niederlanden bis zum 20. Jahrhundert.................................................................................................. 42 4.2 Die Entwicklung der Versäulung ............................................................ 45 4.2.1 Die protestantische Säule................................................................. 48 4.2.2 Die katholische Säule......................................................................... 50 4.2.3 Die sozialistische/ sozialdemokratische Säule ........................... 53 4.2.4 Die liberale Säule................................................................................. 54 II 4.3 Die Rolle der traditionellen Konfliktlinien bei dem Prozess der Versäulung .......................................................................................................... 56 4.4 Die Blütezeit der Versäulung von 1945 bis 1965................................ 61 5. Der Prozess der Entsäulung Mitte der sechziger Jahre.......... 66 5.1 Die D´66 ......................................................................................................... 68 5.2 Weitere Protestparteien nach 1966........................................................ 69 5.3 Die neue Linke............................................................................................. 71 5.4 Der Zusammenschluss der konfessionellen Parteien...................... 73 5.5 Die Parlamentswahlen von 1994 und 1998 .......................................... 76 5.6 Der Auftritt der „Lebenswert-Parteien“ in den neunziger Jahren . 79 5.7 Die Liste Pim Fortuyn und die Wahlen von 2002 und 2003............. 82 6. Die Auswirkungen und Folgen der Entsäulung für die traditionellen Konfliktlinien .......................................................... 87 6.1 Die Auswirkungen und Folgen der Entsäulung für die StaatKirche-Konfliktlinie ........................................................................................... 87 6.2 Die Folgen und Auswirkungen der Entsäulung auf den ArbeitKapital-Konflikt .................................................................................................. 89 7. Fazit und Ausblick................................................................... 93 8. Literaturverzeichnis................................................................. 97 III Abkürzungsverzeichnis ANWV Algemeen Nederlands Werkliedenverbond AOV Algemeen Ouderen Verbond ARP Anti-Revolutionaire Partij BP Boerenpartij CDA Chisten-Democratish Appél CDU Chistelijk-Democratische Unie CHU Christelijk-Historische Unie CNV Christelijk Nationaal Vakverbond CPB Centraal Planbureau CPN Communistische Partij van Nederland DCP De Constitutioneele Partij D´66 Democraten 66 DS´70 Democratish-Socialisten 70 EVP Evangelische Volkspartij GPV Gereformeerd Politiek Verbond LN Leefbar Nederland LPF Lijst Pim Fortuyn LSP Liberale Staatspartij LU Liberale Unie KVP Katholieke Volkspartij NKV Nederlands Katholiek Vakverbond NVV Nederlands Verbond van Vakbewegingen NWV Nederlandse Werkliedenverbond PPR Politieke Partij Radikalen PSP Pacifistisch-socialistische Partij PvdA Partij van de Arbeid PvdV Partij van de Vrijheid RKSP Rooms-Katholieke Staatspartij RKWV Rooms-Katholiek Werkliedenverbond in Nederland RPF Reformatorisch Politieke Federatie SDAP Sociaal-Democratische Arbeiders Partij SDB Sociaal-Democratischen Bond SER Sociaal-Enconomische Raad SGP Staatskundig Gereformeerde Partij SvdA Stichting van de Arbeid VDB Vrijzinning Democratische Bond VVD Verenigung voor Vrijheid en Democrat IV Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Vorrausetzungen für das Entstehen einer Konfliktlinie: ............. 10 Abbildung 2: Die territoriale und die funktionale Konfliktdimension: ............... 14 Abbildung 3: Kritische Phasen und Spaltungen: Interaktion von nationaler und industrieller Revolution: .................................................................................. 17 Abbildung 4: Merkmale der Arbeit-Kapital-Konfliktlinie: .................................... 20 Abbildung 5: Ziele und Anhänger der Materialismus- und Postmaterialismuskonflinktlinie: ............................................................................ 24 Abbildung 6: Glaubensgemeinschaften in den Niederlanden von 1809 bis 1999:.......................................................................................................................... 57 Abbildung 7: Die Wahlergebnisse in den Niederlanden von 1918 – 1937:.... 59 Abbildung 8: Die Wahlergebnisse von 1946 bis 1963:...................................... 63 Abbildung 9: Die Wahlergebnisse in den Niederlanden von 1967 bis 1972:. 67 Abbildung 10: Die Wahlergebnisse von 1977 bis 1989:.................................... 74 Abbildung 11: Die Wahlergebnisse von 1989 bis 1998:.................................... 76 Abbildung 12: Die Wahlergebnisse von 2002 und 2003: .................................. 85 Abbildung 13: Die Wahlergebnisse der Wahlen zur Zweiten Kammer von 1918 bis 2003 nach politischen Strömungen ...................................................... 93 1 1. Einleitung „The two basic cleavages which divide the Dutch population are class and religion. Religious differences are felt deeply and have a long historical background in the Netherlands“ (Lijphart 1968, 16). „Perhaps the best example of institutionalized segmentation is found in the Netherlands; in fact, the Dutch word Verzuiling has recently become a standard term for tendencies to develop vertical networks (zuilen, columns or pillars) of associations and institutions to ensure maximum loyalty to each church and to protect the supporters from cross-cutting communications and pressures.“ (Lipset/ Rokkan 1990, 103). Die Niederlande blicken auf eine lange bürgerlich-demokratische Tradition in Verbindung mit einer parlamentarischen Monarchie zurück. Das heutige politische System der Niederlande ist eine seit Jahrzehnten bestehende Konkordanzdemokratie, die auf Konsens- und Kompromissfindung angelegt ist und so die Stabilität des politischen Systems sichert. Die Verständigung durch Kooperation und Kompromiss ist insbesondere ein Merkmal des niederländischen Parteiensystems. Da im Verhältniswahlrecht nur eine geringe Sperrklausel von 0,67 % existiert, genügt bereits ein sehr geringer Stimmenanteil, um in die zweite Kammer einzuziehen. Dementsprechend sind auch regelmäßig zwischen acht und zehn Parteien im Parlament vertreten. Dieses Vielparteiensystem erweist sich aufgrund der Konsensorientierung im Kern als äußerst stabil. Für die soziologische Struktur, die dem politischen System der Konkordanzdemokratie in den Niederlanden zugrunde lag, haben führende Sozialwissenschaftler den anschaulichen Begriff der „Versäulung“ verwandt (Lepszy 1979, 13). Mit dem Begriff „Versäulung“ wurde bildhaft deutlich gemacht, dass in den Niederlanden religiös und ideologisch voneinander getrennte „Säulen“ nebeneinander existierten, ohne dass zwischen ihnen ein hohes Maß an Kommunikation und sozialer Integration festzustellen wäre. Die „Säulen“ bildeten sich aus Katholiken, Protestanten, Sozialisten und Liberalen. Historisch gesehen ließe sich die Versäulung sowie die damit entstandenen Konflikte der verschiedenen kulturellen und sozialen Gruppen bis ins 16. 2 Jahrhundert zurückverfolgen, doch erst im Voranschreiten der Demokratieund Parteienentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Versäulung. Der Begriff der „Versäulung“ hat sich in der politischen Alltagssprache und in der Literatur niedergelassen. Dennoch hat sich bis heute keine eindeutige Definition herausgebildet. Rudolf Steininger hat sich in seiner vergleichenden Untersuchung der Versäulungsstruktur in den Niederlanden und Österreich dem Definitionsproblem angenommen (Steininger 1975, 38-51).1 Steininger bezieht sich in seiner Untersuchung vor allem auf die Definition von J. P. Kruijt und Walter Goddijn in „Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse“. „Wenn in einem Lande bedeutende Gruppen unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Prägung mit Hilfe einheitlich ausgerichteter und kontrollierter Organisationen und Einrichtungen die gleiche gesellschaftliche Aufgabe für ihre Gruppenzugehörigen zu erfüllen suchen, wird man von Versäulung sprechen.“ (Goddijn/Kruijt 1965, 143) Steininger kritisiert ihre Definition von Versäulung aufgrund der begrifflichen Unschärfe und der daraus resultierenden analytischen Unbrauchbarkeit. Seiner Auffassung nach sei es falsch, den Begriff der „Versäulung“ gleichermaßen auf die gesamte niederländische Gesellschaft und auf die Struktur der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen anzuwenden. Ein weiterer Aspekt seiner Kritik bezieht sich auf die ungenaue Trennung in der Definition, dass heißt auf die Frage, ob der Begriff der „Versäulung“ einen institutionalisierten Zustand oder einen soziologischen Prozess beschreibt. An dieser Unterscheidung entwickelte Steininger seine eigenen nun folgenden Definitionsvorschläge, in denen er zwischen „Versäulung“ und „Versäultheit“ unterscheidet: „Versäulung ist der Prozess der politischen Mobilisierung kategorialer Gruppen, bei gleichzeitiger, weltanschaulicher oder religiös motivierter, tendenziell vollständiger Konzentration der Sozialbe1 Die folgenden Ausführungen stützen sich wesentlich auf die Diskussion bisheriger Definitionen von „Versäulung“, die von R. Steininger untersucht worden sind. 3 ziehungen möglichst aller Mitglieder auf die eigene kategoriale Gruppe.“ (Steiniger 1965, 39.) „Versäultheit ist die institutionelle Absicherung der gleichberechtigten Teilnahme aller relevanten Gruppierungen am politischen Entscheidungsprozess in demokratisch verfassten, weithin durch Versäulung geprägten Gesellschaften.“ (Steininger 1965, 51.) Die Struktur der Versäulung führte zu einer vollständigen Integration des einzelnen Bürgers in die jeweiligen gesellschaftlichen Bereiche seiner Säule. Die Versäulung konnte sogar soweit gehen, dass ein niederländischer Bürger in seinem ganzen Leben nur Personen und Einflüsse aus seiner eigenen „Säule“ kennen lernte. Zur Verständigung zwischen den einzelnen „Säulen“ kam es in den Führungseliten der Parteien. Die Führungseliten arbeiteten auf höchster Ebene zusammen und führten und leiteten die Niederlande als Staat. Das auf der Versäulung beruhende Parteiensystem erwies sich bis in 1960er als äußerst stabil. Von da an kam es zu ökonomischen Wachstums- und Strukturproblemen sowie zur Auflösung traditioneller Werte und gesellschaftlicher Strukturen. Dieser Prozess wurde mit dem Begriff der „Entsäulung“, der „Auflockerung der bisher streng voneinander segmentierten Säulen“, beschrieben (Lepzsy 1979, 300). Der Entsäulungsprozess hatte weit reichende Folgen für das Parteiensystem und die Parteienentwicklung der Niederlande und wirkt sich bis in die Gegenwart aus. Das Parteiensystem der Niederlande ist im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden und entwickelte sich entlang verschiedener Konfliktlinien. Die Ursprünge sind in den Massenemanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts zu sehen. Dabei schlossen sich große Bevölkerungsgruppen entlang der Klassen- und vor allem auch der Konfessionslinien (katholisch, niederländisch reformiert und calvinistisch) zusammen. Diese Spaltung der Gesellschaft fand ihren Niederschlag auch in der Ausgestaltung des Parteiensystems wieder. Zwischen diesen politischen und kulturellen Milieus entbrannten regelmäßige Konflikte.