Seminar HS 2011: Soziologie von politischen Parteien Prof. H. Geser Handout von Z. Byun Why Party Systems differ (Alan Ware) Soziologischer Ansatz Cleavage-Theorie nach Lipset und Rokkan Dieser von Lipset und Rokkan entwickelte soziologische Erkärungsansatz aus dem Jahre 1967 geht im Kern davon aus, dass moderne Parteiensysteme durch soziale Konflikte entstanden sind, wobei vier grundsätzliche Konfliktlinien (cleavages) festgestellt werden können: 1) Zentrum gegen Peripherie Diese Konfliktlage fand ihren Ursprung in der Reformation und Gegenreformation des 16. und 17. Jahrhunderts. Zwischen diesen beiden grossen Bewegungen drehte sich der politische Konflikt um konfessionelle - nationale oder supranationale Religion -, und sprachliche Fragen – Landessprache oder Latein. Während dieser Zeitepoche entstand der moderne europäische Nationalstaat, in dem die Macht zentralisiert wurde. Dabei konfrontierten die grossen Themen der Reformation in erster Linie die Kräfte, welche die Bildung von zentralisierten Staaten mit nationalen Kirchen unterstützten (GB und Skandinavien), mit den Kräften, welche die supranationalen bzw. regionalen und lokalen Interessen vertraten und sich diesem Prozess widersetzten (Südeuropa). 2) Staat gegen Kirche Die Französische Revolution, welche die zweite Etappe der nationalen Revolution darstellte, führte zu einer engeren Beziehung zwischen dem Staat und seinen Einwohnern, die nun als Bürger galten. Um die Integration der Bürger in die Gesellschaft sicherzustellen, war der Staat im Begriff die Kontrolle über die Schulbildung der Menschen zu übernehmen, was den massiven Widerstand der katholischen Kirche hervorrief, die vor allem in diesem Bereich ihre Hauptverantwortung proklamierte. 3) Stadt gegen Land Diese Spaltung entwickelte sich im Zuge des Industrialisierungsprozesses (19. Jahrhundert), wobei der Hauptkonflikt zwischen den landwirtschaftlichen (1. Wirtschaftssektor) und industriellen (2. Wirtschaftssektor) Interessen stattfand. Auf der einen Seite wollten die Bauern ihre Landwirtschaft mit Hilfe von Zöllen beschützen, während auf der anderen Seite die Bourgeoisie in der Stadt den freien Handel vorzog. 4) Kapital gegen Arbeit Bei diesem Cleavage handelt es sich um den Konflikt zwischen den Besitzern von Kapital und der neu entstandenen Arbeiterklasse. Als „kritischer Moment“ (critical juncture) in der Entwicklung dieser 1 Konfliktlinie gilt die russische Revolution von 1917, durch die der Kommunismus einen Aufschwung erlebte. Die Radikalisierung der Arbeiterbewegung jedoch hing entscheidend vom Verhalten der bürgerlichen Parteien ab. In Ländern, in denen die Anliegen der Arbeiter als illegitim betrachtet wurden und ihnen aus diesem Grund der Zugang zum Parlament verwehrt blieb, radikalisierte sich ein Teil der Arbeiterschaft. In anderen Ländern wiederum wurde die Arbeiterbewegung durch die sozialistische Partei repräsentiert. Soziologische Erklärung des Parteiensystems Soziologische Ansätze wie die Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan legen nahe, dass die Entstehungsgeschichte einer Partei mit dem Verlauf das Überleben einer Partei in hohem Masse von der Stärke einer gesellschaftlichen Gruppe abhängt und nicht etwa, wie das die Institutionalisten behaupten, von der Ausgestaltung politischer Institutionen. Vertreter des soziologischen Ansatzes gehen davon aus, dass die Struktur von Institutionen keinen Einfluss auf politische outcomes oder andere politische Institutionen wie das Parteiensystem hat. Institutioneller Ansatz Duvergers Gesetz Maurice Duverger fand in den 1950er Jahren heraus, dass das Mehrheitswahlrecht fast immer zur Schaffung eines Zweiparteien-Systems (Bsp. GB) führt. Insbesondere tragen zwei Faktoren zu Duverges Vermutung bei. Beim ersten handelt es sich um den „mechanischen Effekt“, der zu Folge hat, dass dritte, vierte und weitere Parteien kaum Aussichten auf einen Wahlerfolg haben, da innerhalb eines Wahlkreises nur der Erstplatzierte mit den meisten Stimmen einen Sitz gewinnt. Den zweiten Faktor bezeichnet er als „psychologischen Effekt“; Wähler denken rational und sehen deshalb ein, dass ihre Stimmen für dritte und andere Parteien verfallen und aus diesem sich dazu entschliessen, einer der beiden grossen Parteien zu unterstützen. Ein weiteres Argument Duvergers lautet, dass das Verhältniswahlrecht tendenziell die Bildung eines Vielparteiensystems mit mehr als zwei Parteien bewirkt. Kritik an Duvergers Gesetz Von sechs möglichen Staaten mit einem Zweiparteiensystem wenden nur drei (GB, Neuseeland und USA) das Mehrheitswahlrecht an. Kolumbien, Venezuela und Malta hingegen benutzen das Verhältniswahlrecht. Zudem funktioniert der mechanische Effekt nur insofern als dritte und andere Parteien eine begrenzte regionale Basis haben; je konzentrierter die regionale Basis ist, desto grösser ist auch die Wahrscheinlichkeit der Repräsentation für dritte und andere Parteien. Weitere institutionelle Faktoren Neben dem Wahlsystem kann auch eine geltende Sperrklausel einen Einfluss auf das Parteiensystem haben. In Deutschland beispielsweise gilt auf Bundes- und Landesebene die fünf-Prozent-Hürde. 2 Damit also eine Partei gemäss der Stimmverteilung Sitze zugeteilt bekommt, muss sie mindestens fünf Prozent der gültigen Stimmen auf sich vereinen. Andernfalls verfallen die für diese Partei abgegebenen Stimmen. Eine weitere Einflussgrösse auf das Parteiensystem bildet das Regierungssystem. In einem semipräsidentiellen System kann ein direkt gewählter Präsident mit Exekutivkompetenzen bestimmte Auswirkungen auf die Parteien im Parlament haben. Da für das Amt des Staatspräsidenten nur einer in Frage kommt, müssen die Parteien in einem Vielparteiensystem Koalitionen schmieden, um in der Stichwahl die Unterstützung für ihren Kandidaten zu sichern. Kritik am institutionellen Ansatz Ware kritisiert an den früheren Institutionalisten, dass sie zur Erklärung der Entstehung von Parteisystemen den Fokus zu sehr auf die Wahlsysteme gerichtet hätten. In seine Augen wurde deshalb anderen politischen Institutionen eine zu geringe Bedeutung zugeschrieben. Des Weiteren weist er darauf hin, dass die Institutionalisten wie auch Soziologen dazu tendierten, der Rolle des Politikers im Parteienspektrum kaum zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang bringt Ware den US-Politologen Schattschneider ins Spiel, der argumentiert, dass Parteivorsitzende die Konfliktlinien so einzusetzen wissen, um ihre Macht sicherzustellen. Demnach legen politische Führer die Rangordnung von Konflikten so fest, dass sie ihren Machtinteressen am dienlichsten sind. 3