Einführung ins Fach Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie Dr. Nina Spröber Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm, Sommersemester 2014 Universität Tübingen Bürgerhospital Stuttgart Dr. rer.nat. Nina Spröber Psychologische Psychotherapeutin (VT) Supervisorin Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm Praxis PFKJE – Neu-Ulm Wie entwickeln sich Kinder und Jugendliche? Always remember… „(Jedes Kind) und jeder Jugendliche hat das Potential, sich erfolgreich, gesund und positiv zu entwickeln (im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten); dieses Potential sollte entdeckt und gefördert werden“ (nach Lerner et al., 2002) Reifung versus Lernen Reifung: relativ permanente kognitive, emotionale und physische Veränderung aufgrund biologischer Alterungsprozesse, „vorprogrammiert“ Lernen: relativ permanente Veränderung im Denken oder Verhalten aufgrund von Erfahrungen, nicht „vorprogrammiert“ Anlage versus Umwelt Längsschnittstudien (Zwillingsstudien): – Kognitive Fähigkeiten 60 – 70 % Vererbung – Persönlichkeitseigenschaften 30 – 40 % Vererbung – Einstellungen, moralische Werte, politische Überzeugungen v.a. durch soziales Umfeld Entwicklungsphasen Schwangerschaft Frühe Kindheit: Säuglingszeit (bis 12. Monat); Kleinkindalter (13.-36. Monat) Kindergarten und Vorschulalter (3-5 Jahre) Grundschulalter (6 ––11 Jahre) Pubertät und Adoleszenz (? Jahre) Erwachsenenalter Sprache Körper Emotionen Kognitionen Sozialverhalten Was sind Entwicklungsaufgaben? „Aufgabe, die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während ein Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt“ (Dreher u. Dreher, 1985; Havinghurst, 1956) Copingmodell zur gesunden Entwicklung (nach Fend, 2005), Modell von Ravens-Sieberer Persönliche Ressourcen (soziokogn. Kompetenzen; Ich-Stärke) Bewältigung entwicklungsspezif. Aufgaben Leistungserfolge Soziale Erfolge Soziale Ressourcen (Fam. Stützsystem, Soz. Einbettung außerfamiliär) Bitte denken Sie kurz nach, besprechen Sie sich zu zweit: Welche Entwicklungsaufgaben haben Sie aktuell zu bewältigen? Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsthemen (nach Resch et al. „Entwicklungspsychopathologie“) Alter Fertigkeiten (Havinghurst, 1972; Achenbach, 1990) Psychodynamik (nach Spiel & Spiel, 1987; Rudolf, 1993) 0-1 Essen, schlafen, Verdauung, Bewegung, sensomotorische Organisation, soziale Responsivität, Bindung Intentionalität, Differenzierung von Ich und Nicht-Ich, positive und negative Affekte, Objektpermanenz und Konstanz 1-2 Sprache, sprachliche Kommunikation Selbst-Konstituierung, Selbstwert 2-3 Sauberkeit, Selbstversorgung im Alltag, Sicherheitsregeln Identifikation mit Eltern und Sozialen Rollen, sprachlichlogische Ordnung der Welt, Konfrontation mit Normen und Regeln 3-4 Selbstkontrolle, Selbststeuerung Selbstbewußtheit 4-5 Beziehungen zu Gleichaltrigen Beginnende Realitätsprüfung 5-6 Soziale Kooperation Soziale Rücksichten, Loyalitäten, Standpunktwechsel 6-11 Schulfertigkeiten, Schulregeln, Regelspiele, Hobbies, Geldgebrauch, einfache Verpflichtungen Selbstwertstabilisierung, Selbstaktualisierung, Entwicklung Wertesystem/ Moral 12 - 20 Beziehungen, Übernahme von Verantwortlichkeiten, Ablösung von der Fam. Körperl. Reife, psychosoziale/ -sex. Identität, Intimität, Identifikation, existenzielle Autonomie, Entw. Ideologie Entwicklung = Risiko und Chance Entwicklungspsychopathologie Allg.: beschäftigt sich mit Ursachen und Verlauf individueller Muster fehlangepassten Verhaltens Ziel: risikoerhöhende und –mildernde Bedingungen aufdecken, Ursachen für Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und Vulnerabilität (Anfälligkeit) erforschen und über welche Prozesse solche Bedingungen wirken Aufgabe: Frühzeitig Prädiktoren für abweichende Verhaltensweisen und Prozesse erkennen Bedient sich eines interdisziplinären Ansatzes (biologisch, behavioural, soziologisch, psychodynamisch, kognitiv) Psychopathologische Symptome sind nicht schlechthin Krankheitszeichen, sondern zunächst aktuelle Probleme im Anpassungsprozess an neue Umstände. Misslingt dies kann dies zur psychischen Störung führen. Risiko - und Schutzfaktoren Wirkungsebene •Biologisch •Sozial •psychisch Wirkung im Störungsverlauf •Entstehung •Aufrechterhaltung •Rückfall Wirkung nach Entwicklungsabschnitt •Pränatal •Perinatal •postnatal Kontinuität von Entwicklungsrisiken Kumulationkritische Lebensereignisse Risikofaktoren für die Entwicklung Genetisch (genetische Defekte, Teratogene) Perinatale Risikofaktoren (Frühgeburt, Geburtskomplikationen) Postnatale Risikofaktoren (frühkindliche Bedürfnisregulation/ Temperament, Bindung zu Bezugspersonen, elterliches Erziehungsverhalten, Sozialisation durch Gleichaltrigengruppe) Passung! Protektive Faktoren dauerhafte, gute Beziehungen zu mindest einer primären Bezugsperson Großfamilie/kompensatorische Elternbeziehungen/ Entlastung der Mutter Insgesamt attraktives Mutterbild gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust mindestens durchschnittliche Intelligenz robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament soziale Förderung (z.B. Jugendgruppen, Schule, Kirche) geringere Risikogesamtbelastung Aus: Hoffmann/Hochapfel 2004; alle Literatur bei Hoffmann u. Egle 1996 Was ist „normal“? Das weiße Rauschen Bitte schauen Sie sich den Filmausschnitt an: Verhält sich der Jugendliche „normal“; Wenn ja, welche Verhaltensweisen sind „normal“, welche nicht? „Abnormal“? Bzw. klinisch auffällig Abweichung vom statistischen Durchschnitt Unerwartet Andauernd Leiden (selbst/ andere) Wichtige Ziele/Entwicklungsschritte können nicht verfolgt werden Kulturabhängig Inadäquat zur Entwicklung „normales“ und krisenhaftes Verhalten in der Adoleszenz (vgl. Streeck-Fischer, Fegert, Freyberger, 2009) normal krisenhaft Gelegentliche Experimente mit Drogen Gebrauch/ Missbrauch von Drogen Sex. Experimente mit Peers, Schüchternheit/ Unsicherheit Promiskuitive sex. Beziehungen/ Mangel an Beziehungen Geringe Fluktuation v. Interessen Schulverweigerung, keine Interessen mehr Auseinandersetzungen über Musik, …; Eltern provozieren durch überzogenes Verhalten Eltern hassen, basale gesellsch. Werte bekämpfen, ungeordnetes Denken, Suizidgedanken Unzufriedenheit, Langeweile Angst, unfähig, Leben zu genießen, depressiv Bedeutung für Identität, Emotionsregulation Welche psychischen Störungen gibt es? Häufige kinderpsychiatrische Diagnosen •Externalisierende Verhaltensstörungen •ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) (5%) •Störung des Sozialverhaltens (6-13%) •Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens Internalisierende Verhaltensstörungen Angststörungen Somatoforme Störungen Depressive Störungen Eßstörungen (Anorexie, Bulimie) Häufige jugendpsychiatrische Diagnosen •Depressive Störungen •Posttraumatische Belastungsstörung •Selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität •Eßstörungen (Mädchen) •(Hyperkinetische) Störung des Sozialverhaltens •(Psychosen) •Beginnende ( Verdacht auf eine sich entwickelnde) Persönlichkeitsstörung Prävalenz psychischer Erkrankungen Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA - Studie im Kinder - und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) (U. Ravens-Sieberer · N. Wille · S. Bettge · M. Erhart, 2007) Störungsverläufe Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsthemen (nach Resch et al. „Entwicklungspsychopathologie“) Alter Fertigkeiten (Havinghurst, 1972; Achenbach, 1990) Psychodynamik (nach Spiel & Spiel, 1987; Rudolf, 1993) 0-1 Essen, schlafen, Verdauung, Bewegung, sensomotorische Organisation, soziale Responsivität, Bindung Intentionalität, Differenzierung von Ich und Nicht-Ich, positive und negative Affekte, Objektpermanenz und Konstanz 1-2 Sprache, sprachliche Kommunikation Selbst-Konstituierung, Selbstwert 2-3 Sauberkeit, Selbstversorgung im Alltag, Sicherheitsregeln Identifikation mit Eltern und Sozialen Rollen, sprachlichlogische Ordnung der Welt, Konfrontation mit Normen und Regeln 3-4 Selbstkontrolle, Selbststeuerung Selbstbewußtheit 4-5 Beziehungen zu Gleichaltrigen Beginnende Realitätsprüfung 5-6 Soziale Kooperation Soziale Rücksichten, Loyalitäten, Standpunktwechsel 6-11 Schulfertigkeiten, Schulregeln, Regelspiele, Hobbies, Geldgebrauch, einfache Verpflichtungen Selbstwertstabilisierung, Selbstaktualisierung, Entwicklung Wertesystem/ Moral 12 - 20 Beziehungen, Übernahme von Verantwortlichkeiten, Ablösung von der Fam. Körperl. Reife, psychosoziale/ -sex. Identität, Intimität, Identifikation, existenzielle Autonomie, Entw. Ideologie Überblick Beginn Verhaltensauffälligkeiten Impulskontrollst. Angststörungen Substanzmissbrauch Affektive Störungen Schizophrenie 5J. 10J. 15J. 20J. 25J. 30J. Entwicklungspsychopathologisches Modell der ADHS über die Lebensspanne (Schmidt & Petermann, 2008) Symptome ADHS nach (Wender-Utah): Unaufmerksamkeit Motor. Unruhe Impulsivität Desorganisation Affektlabilität Affektkontrolle Emotionale Überreagibilität Symptome ADHS nach ICD 10: Unaufmerksamkeit Hyperaktivität Impulsivität Komorbide Störungen Hyperkinet. St. d. SSV Soziale Defizite Ablehnung durch Peers/ Bezugspersonen neg. Interaktionen Geburt Kiga/ Vorschule Schwangerschaft: Rauchen, Alk, Stress, soziales Genetik Affektive Störungen Prüfungsängste Schulprobleme Hausaufgabenpr. Vermeidung Schulunlust Schuleintritt Substanzmissbr. Delinquenz Peer Probleme Lernresignation Verkehrsdelikte Borderline PLKst. Antisoziale Plk.st. Probleme im Job, Finanzen, Haushalt, Beziehungen Affektlabilität Übergang Erwachsenenalter Dysfunktionale fronto-stratiale Netzwerke; Neurotransmitter Lebensspanne Ursachen: Der biopsychosoziale Ansatz Wie werden psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen behandelt? Routinediagnostik Psychologische Körperliche Untersuchung KU Testuntersuchung PSU Leistungsdiagnostik Persönlichkeitsdiagnostik evtl. EEG evtl. EKG evtl. Labor Fremdanamnese Lehrerurteil Wiedervorstellung Vorbefunde Überblick über das diagnostische Vorgehen bei Kindern/ Jugendlichen am Beispiel ADHS • Klinisches Urteil! • Exploration/ Anamnese • Vorbefunde • Breitbandverfahren (z.B. CBCL/ TRF/ YSR) • Schulberichte/ Zeugnisse • Fragebogen zu ADHS • Intelligenztestung • Körperliche Untersuchung (v.a. hören, sehen), ggf. EEG • (Konzentrations- und Aufmerksamkeitstest) • (Arbeitsproben) Ziele Rahmen: Selbstmanagementtherapie (Kanfer, Reinecker, Schmelzer, 2012) 1. Eingangsphase: Schaffung günstiger Ausgangsbedingungen 2. Aufbau von Änderungsmotivation und vorläufige Auswahl von Änderungsbereichen 3. Verhaltensanalyse und funktionales Bedingungsmodell 4. Vereinbaren therapeutischer Ziele 5. Planung, Auswahl und Durchführung spezieller Methoden 6. Evaluation therapeutischer Fortschritte 7. Endphase: Erfolgsoptimierung und Abschluß der Therapie Follow-up/ Katamnese Umgang mit Hindernissen: Die Notfallkiste Bildhafte Zielerreichung Psychopharmakologische Therapie in der KJP • Psychostimulanzien (oder Atomoxetin) bei ADHS zugelassen ab 6 Jahren • Neuroleptische Medikation bei Psychose/Schizophrenie (Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon, Aripirazol, Haloperidol); Haloperidol zugelassen ab 3 Jahren • alle atypischen Neuroleptika off-label ; außer Risperidon ab 6 Jahren bei aggressiver Verhaltensstörung und Intelligenzminderung • SSRIs bei Depression (Fluoxetin, Fluvoxamin u.a.) nur Fluoxetin zugelassen ab 8 Jahren • Phytopharmaka (Johanniskraut) Behandlungssettings: ambulant – (teil)stationär Wichtige Informationen zur Veranstaltung Kontakt: • Sekretariat Andrea Bäuerle: [email protected] • Lehrbeauftragte Prof. Dr. Andrea Ludolph: [email protected] Formales: • Multiple-choice-Klausur am Ende des WS (nur ein Mal im Jahr!) • Teilnehmerlisten, Teilnahmebescheinigung wird ausgestellt Ein interessantes Semester! [email protected] [email protected] Postnatale (biographische) Risikofaktoren: - niedriger sozioökonomischer Status - mütterliche Berufstätigkeit in ersten Lebensjahr - schlechte Schulbildung der Eltern - große Familien und sehr wenig Wohnraum - Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle“ - Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils - chronische Disharmonie/Beziehungspathologie in der Familie - psychische Störungen der Mutter/des Vaters - Unerwünschtheit - alleinerziehende Mutter (oder Vater) - autoritäres väterliches Verhalten - sexueller und/oder aggressiver Missbrauch - Verlust der Mutter (oder des Vaters) - „häufige wechselnde frühe Beziehungen“ - schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen - Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate - uneheliche Geburt - hoher Gesamtrisiko-Score - JUNGEN SIND VULNERABLER ALS MÄDCHEN! Aus: Hoffmann/Hochapfel 2004; alle Literatur bei Hoffmann u. Egle 1996 Entwicklungsübergänge – krit. Lebensereignisse Definition Entwicklungsübergänge Entwicklungsübergänge (transition) = normative Entwicklungsaufgaben, die die Gesellschaft an alle Personen innerhalb eines definierten Zeitraumes stellt und die durch bedeutsame Veränderungen im Leben gekennzeichnet sind. z.B. Eintritt in Kindergarten, Schule, weiterführende Schule, Pubertät Kumulierung verschiedener Anforderungen, bei Nichtbewältigung Risiken für psychische Erkrankungen Definition Kritische Lebensereignisse Einschneidende Ereignisse im Leben einer Person, die durch Veränderungen der Lebenssituation gekennzeichnet sind und hohe Anpassungsleistungen erfordern. können normativ sein (aufgrund sozialer oder biologischer Normen wie z.B.: Schuleintritt), nichtnormativ (z.B. Geburt Geschwisterkind, Tod eines Angehörigen) können in positive als auch negative unterteilt werden. Multidimensionale Diagnostik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen Variablen Diagnostik Multiaxiale Kl. Biologisch IV psychologisch II und III soziokulturell I Verhaltensanalyse Organisch Interventionsschwerpunkte Individuumszentriert: Kind/ Jugendlicher Maßnahmen Medikamentös/ ärztlich Motive/ Grundbedürfnisse/ Muster Funktionale (SORCK) Funktionelle Übungsbehandlungen / Heilpäd. Psychoth. Interv.: Kind/ Jugendlicher V Ressourcen Beziehungen Rahmenbedingungen Kontextzentriert: Familie/ Umfeld Psychoth. Interv.: Familie/ Umfeld Maßnahmen JugendSozialhilfe Qualitätssicherung Evaluation der Fortschritte Rückfallprophylaxe Therapieabschluss/ Erfolgsoptimierung Sonstige umfeldbez. Absprachen (peers, Schule)