Der Antichrist – ein biblisches oder ein adventistisches Feindbild? Ein häufig gebrauchter Begriff zur Bezeichnung (und zuweilen Diffamierung) von (angeblichen) Gegnern der Gemeinde Jesu ist Antichrist. Doch was bedeutet der Begriff tatsächlich in der Bibel? Und auf wen bezieht er sich? Der Antichrist in den Johannesbriefen Jede Konkordanz zeigt auf einen Blick, dass der Begriff Antichrist nur in den Johannesbriefen vorkommt und zwar in den folgenden Texten: Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind nun schon viele Antichristen gekommen; daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns. Denn wenn sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben; aber es sollte offenbar werden, dass sie nicht alle von uns sind … Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. (1 Joh 2,18.19.22) Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt. Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist, der ist von Gott; und ein jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, der ist nicht von Gott. Und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommen werde, und er ist jetzt schon in der Welt. (1 Joh 4,1–3) Denn viele Verführer sind in die Welt ausgegangen, die nicht bekennen, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist. Das ist der Verführer und der Antichrist. (2 Joh 7) Johannes stellt zunächst fest, dass „schon viele Antichristen gekommen“ sind (1 Joh 2,18).1 Sie „leugne[n], dass Jesus der Christus ist“ (V. 22), genauer gesagt, „dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist“ (2 Joh 7; vgl. 1 Joh 4,2.3). Das bedeutet: Sie behaupten, dass Christus nicht der uns Menschen gleich gewordene Sohn Gottes ist. Damit kann er auch nicht wirklich der Christus, der Erlöser, sein! Diese Antichristen bezeichnet Johannes auch als „Lügner“ (1 Joh 2,22), „Verführer“ (2 Joh 7; vgl. 1 Joh 2,26) und „falsche Propheten“ (1 Joh 4,1.3). Sie waren Christen, aber keine wirklichen (siehe 1 Joh 2,19). Man könnte sie daher besser als „Widerchristen“ bezeichnen.2 Keineswegs setzten sie sich „an die Stelle von Christus“ (wie Antichrist oft gedeutet wird). Johannes erklärt, dass in den falschen Propheten (und damit auch in den „Lügnern“ und „Verführern“) nicht der Geist Gottes, sondern der „Geist des Antichrists“ wirkt (1 Joh 4,1-3). Damit kann nur der Geist Satans gemeint sein, der „schon in der Welt“ wirkt (V. 3b.4b). Dies bestätigt Johannes in seinem zweiten Brief: „Das ist der Verführer und der Antichrist.“ (2 Joh 7) Der (eine) Antichrist ist niemand anders als Satan selbst! So sehen es viele Kommentatoren, auch der adventistische Bibelkommentar.3 Dort heißt es weiter: „Johannes dachte hier ohne Zweifel an die damals verbreiteten doketischen und cerinthischen Formen des Gnostizismus“.4 Bengt Hägglund erklärt: 1 Der Begriff Antichrist vorher im selben Vers steht im Grundtext ohne Artikel, daher kann übersetzt werden: „dass ein Antichrist kommen wird“. 2 So die Zürcher Bibel und die Lutherbibeln vor den Revisionen von 1975 und 1984. 3 Siehe Seventh-day Adventist Bible Commentary, Bd. 7, S. 688 zu 2 Joh 7; S. 643 zu 1. Joh 2,18. 4 Ebenda S. 643. 2 Der Gnostizismus ist bereits beim Aufkommen des Christentums als religiöse Strömung vorhanden … Er will das Christentum mit den bereits vorhandenen religiösen Spekulationen verschmelzen … [und] erwies sich lange Zeit als der gefährlichste Feind des Christentums … [Er] redet von Christus als vom Erlöser, das heißt von dem, der die erlösende Erkenntnis [gnosis] vermittelt. Aber es ist nicht der Christus der Bibel, den man dabei predigt, sondern ein himmlisches Geistwesen, das aus den Äonen vorgegangen ist. Dieser Christus kann keine menschliche Gestalt angenommen haben. Als er auf der Erde erschien, war er nur in einen Scheinleib gekleidet. Auch kann dieser Christus nicht gelitten haben und gestorben sein … Der Gnostizismus verwandelte das Christentum in eine mythologische Spekulation. Seine allgemeine Erlösungslehre enthielt die Leugnung dessen, was im christlichen Glauben das Wesentlichste war.5 Es kann also nicht verwundern, dass Johannes so scharf gegen solche Lehren vorging und sich nicht scheute, die gnostischen Lehrer als Antichristen zu bezeichnen. Es ist festzuhalten, dass die von ihm genannten Merkmale nicht auf die Lehren der Katholischen Kirche oder anderer etablierter christlicher Kirchen oder Freikirchen zutreffen. Sie bekennen sich alle zur vollen Gottheit und zur wirklichen Menschwerdung Jesu Christi (was die meisten adventistischen Pioniere nicht taten). Die Übertragung des Antichrist-Begriffs Manche Ausleger bezeichnen die Mächte, die in Daniel 7 unter dem Symbol des „kleinen Hornes“, in 2. Thessalonicher 2 unter dem „Mensch der Gesetzlosigkeit“ (V. 3 EB) und in Offenbarung 13 unter dem Symbol des „Tieres aus dem Meer“ geschilderten werden, als den Antichristen und meinen damit das Papsttum.6 Es gibt zwar gute Gründe für die Annahme, dass diese drei Symbole dieselbe Macht schildern,7 aber die Aussagen über sie stehen in deutlichen Gegensätzen zu den Aussagen über den Antichristen in den Johannesbriefen. In der folgenden Gegenüberstellung sind die Parallelen fett gekennzeichnet, die Gegensätze kursiv. 5 Bengt Hägglund, Geschichte der Theologie, Berlin 1983, S. 26f., 29f. Siehe LeRoy Edwin Froom, The Prophetic Faith of our Fathers, Bd. 1–4, Review & Herald, Washington, D.C., 1950–54. 6 3 Wir sehen, dass die Parallelen zwischen den Aussagen über das „kleine Horn“ in Daniel 7 und über „das Tier aus dem Meer“ sehr groß sind und es auch einige Parallelen zu den Aussagen über den „Mensch der Gesetzlosigkeit“ in 2. Thessalonicher 2 gibt. Es gibt aber außer einzelnen, recht allgemeinen Begriffen (Wahrheit, Lüge, Verführung) keinerlei Parallelen der Aussagen über den Antichristen in den Johannesbriefen zu den Aussagen in Daniel 7, Offenbarung 13 und 2. Thessalonicher 2, dafür aber eindeutige Gegensätze. Während es in den Johannesbriefen um die Verführung der Christen durch falsche Lehren über Jesu erstes Kommen geht, geht es im 2. Thessalonicherbrief um eine weltweite Verführung durch Zeichen und Wunder kurz vor Jesu Wiederkunft. Die Antichristen des Johannes leugnen die volle Menschwerdung Christi, während der „Widersacher“ bei Paulus sich über Gott erhebt und „vorgibt, er sei Gott“ (2 Ths 2,4). Er ist also ein Anti-Gott, nicht ein Anti-Christ. Ähnlich ist lediglich, dass „der Böse“ (wörtlich: der „Gesetzlose“ EB) „in der Macht Satans“ auftreten wird, während in den Antichristen der Geist Satans wirkt. Aber Satan benutzt viele verschiedene Werkzeuge, wie Offenbarung 13 zeigt. Während es zwischen dem „kleinen Horn“ von Daniel 7 und dem „Tier aus dem Meer“ von Offenbarung 13 ein halbes Dutzend deutliche Übereinstimmungen gibt, fehlen sie zu den Aussagen des Johannes über den Antichristen völlig. Manche Theologen bemühen ein „Antichrist-Motiv“, um eine Übereinstimmung nachzuweisen, doch eine sachgemäße biblische Auslegung ergibt keine Identität der dargestellten Mächte mit den Aussagen über die/den Antichristen.8 Das kann es auch nicht, denn da der wahre (eine) Antichrist Satan ist, erscheint er unter dem Symbol des „Drachen“ in Offenbarung 12 und 13, aber eben nicht als das „Tier aus dem Meer“. Dabei hätte Johannes, wenn er es mit dem kommenden Antichristen gemeint hätte, in seinen Briefen wie in Offenbarung 13 Anspielungen auf das „kleine Horn“ von Daniel 7 machen können. Ihm war sicher auch der 2. Thessalonicherbrief bekannt, denn Paulus hatte ihn mindestens 40 Jahre zuvor geschrieben. Doch Johannes machte auch auf ihn keine Anspielungen. Der Zusammenhang zwischen diesen Bibelabschnitten wurde geschichtlich vielmehr auf eine andere Weise hergestellt, wie Hans-Josef Klauck erklärt: Die Entfaltung einer regelrechten Antichristologie geschieht im Laufe der Theologiegeschichte auf der Textbasis von 2. Thess 2,1-12, der synoptischen Apokalypse [Mt 24; Mk 13; Lk 21] und der Offenbarung. Die Johannesbriefe scheinen eher im Abseits zu stehen. Und doch haben sie in doppelter Hinsicht als ein unentbehrlicher Katalysator gewirkt: • Erstmalig stellt 1. Joh 2,18 den Namen bereit, der es fortan ermöglicht, die diversen Stoffe aus jüdischer und urchristlicher Überlieferung unter einem Schlagwort zusammenzufassen … • ‚… Das Beispiel der Johannesbriefe erlaubt es dem Mittelalter, den Erzfeind in bestimmten religiös-politischen Gruppen zu aktualisieren.‘ … Ihren sensibelsten Punkt … erreicht diese an 1. Joh 2,18 anknüpfende kirchenkritische Auswertung des Antichristgedankens da, wo sie gegen das Papsttum gerichtet wird, zum ersten Mal von einer Synode 991 gegen Johannes XV. Von der Geschichtskonstruktion Joachim von Fiores ausgehend haben sodann die Franziskanerspiritualen im 13./14. Jahrhundert jene Päpste, die ihrer strengen Armutsauffassung nicht entsprachen, als Antichristen eingestuft. Die Reformatoren übertragen dieses Urteil auf das Papsttum als Institution … Als Lehrmeinung ging das in einige Bekenntnisschriften ein, wurde Bestandteil der lutherischen Orthodoxie, blieb aber auch weit darüber hinaus virulent.9 Letzteres gilt besonders für einige adventistische Ausleger, Evangelisten und Prediger, die im Anschluss an Uriah Smith das Papsttum als Antichrist bezeichneten.10 7 Viele Ausleger beziehen 2 Ths 2,3.4 (auch) auf Satan. So sieht es auch C. Mervyn Maxwell, siehe God Cares, Pacific Press, Boise (Idaho) 1981, Bd. 1, S. 117. 9 Hans–Josef Klauck, Der erste Johannesbrief, Zürich/Neukirchen 1991, S. 151–153; er zitiert z. T. eine Aussage von H. D. Rauh. 10 Siehe Uriah Smith, The Prophecies of Daniel and the Revelation, rev., Southern Publishing Ass., Nashville 1944, S. 67, 276 (auf Deutsch: Gedanken über Daniel und die Offenbarung, Pacific Press 1897); Roy Allan Anderson, Unfolding the Relevation, rev., Pacific Press 1953/1974, S. 87, 137; Manfred Böttcher, Weg und 8 4 Die Aussagen des adventistischen Bibelkommentars Im deutlichen Gegensatz dazu stehen die Aussagen des adventistischen Bibelkommentars. Er erwähnt zwar die Ansicht vieler Ausleger, dass die oben genannten Bibelabschnitte das Papsttum als Antichrist darstellen, bezeichnet aber an keiner Stelle selbst das Papsttum als Antichrist! Bei der Erklärung von 2. Thessalonicher 2,4 weist er aber darauf hin, dass die dort „beschriebene Macht mit Satan identifiziert werden kann“, und zitiert dann dazu drei Aussagen von Ellen White, in denen sie Satan als Antichrist bezeichnet!11 Solch ein Vorgehen ist für diesen Kommentar völlig ungewöhnlich; die Autoren wollten ihrer Aussage offensichtlich besonderen Nachdruck verleihen. Dementsprechend wird im adventistischen Bibellexikon Satan als „der Antichrist par Excellenze“ bezeichnet, während in Offenbarung 13 und 2 Thessalonicher 2 lediglich „die Lehre von einem Antichristen auftaucht“.12 Der adventistische Bibelkommentar, der Mitte der 1950er-Jahre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer mehr kontextgemäßen Auslegung der Bibel war, unterstützt also die traditionelle protestantische Zuschreibung, das Papsttum sei der Antichrist, nicht. Die Aussagen Ellen G. Whites Der Bibelkommentar befindet sich darin in völliger Übereinstimmung mit Ellen White. Sie äußerte sich weniger als 20 Mal selbst über den bzw. die Antichristen.13 Etwa ein halbes Dutzend Zitate von Martin Luther und anderen Reformatoren oder Theologen führte sie an, in denen der Begriff Antichrist vorkommt. Acht Mal schrieb sie zudem vom „Geist des Antichristen“. Dort, wo Ellen White den Begriff Antichrist aus den Briefen des Johannes kommentierte (manchmal zitierte sie die Texte, ohne auf den Begriff einzugehen), griff sie in seinem Sinne dessen allgemeine Bedeutung auf. Antichristen sind für sie „Verführer“14, „Feinde der Wahrheit“ und „Leiter dieser Häresien“15, vom wahren Glauben „Abgefallene“16, jene, die „die Gottheit Christi leugnen“17 und „Lehrer des Spiritismus“18. Im allgemeinsten Sinne definierte Ellen White als Antichristen all jene, die „sich weigern, von Gott gelehrt zu werden“,19 und alle, die „sich gegen den Willen und das Werk Gottes erheben.“20 Besonders interessant ist ihr Gebrauch des Begriffs Antichrist im Buch Der große Kampf:21 Sie führte zwar drei Zitate Luthers an, in denen er den Papst als Antichrist bezeichnete, kommentierte das aber in keiner Weise.22 Dort, wo sie den Begriff selbst einmal (!) verwandte, bezog sie ihn eindeutig auf Satan: Ziel der Gemeinde Jesu, Advent-Verlag, Hamburg 1981, S. 218–230 (Kap. 14); Michael Makowski, Das Buch Offenbarung; Saatkorn-Verlag, Lüneburg 2005, S. 114 (beide Autoren haben weitgehend die Auslegungen von Roy Allan Anderson übernommen). 11 SDA Bible Commentary, Bd. 7, S. 271; die drei Zitate werden hier im nächsten Abschnitt wiedergegeben. 12 SDA Bible Dictionary, S. 47. 13 Dabei sind Mehrfachnennungen im selben Abschnitt sowie Zitate in später herausgegebenen Büchern nicht extra gezählt. 14 Advent Review and Sabbath Herald, 22. Februar 1881; zitiert in Sanctified Life, S. 64. 15 Advent Review and Sabbath Herald, 15. April 1875; identisch mit Signs of the Times, 12. April 1883; zitiert in Confrontation, S. 91 (1971). 16 Kress Collection, S. 35; Advent Review and Sabbath Herald, 20. Dezember 1898. 17 Youth’s Instructor, 27. September 1894; identisch mit Signs of the Times, 4. Juli 1895. 18 Patriarchen und Propheten, S. 663: „Offenbarung des Widerchrists“, wörtlich: „Manifestation des Antichristen“. 19 Brief 12. Oktober 1896 an Geschwister Maxson; zitiert in Special Testimonies to Ministers and Workers, Nr. 9, S. 55f. (1897). 20 Manuskript 9, 1900; zitiert in Selected Messages, Bd. 3; S. 402, und SDA Bible Commentary, Bd. 7, S. 950. 21 Bzw. im Vorläufer The Spirit of Prophecy, Band 4. 22 Siehe Der große Kampf, S. 139, 141, 143. 5 Satan wendet jede mögliche List an, die Menschen zu hindern, sich Kenntnisse aus der Bibel anzueignen; denn deren deutliche Aussagen enthüllen seine Täuschungen. Bei jeder Wiederbelebung des Werkes Gottes wird der Fürst des Bösen zu größerer Betriebsamkeit angespornt; nun gelten seine äußersten Anstrengungen einem letzten Kampf gegen Christus und seine Nachfolger. Die letzte große Täuschung wird sich bald vor uns entfalten. Der Antichrist wird seine erstaunlichen Werke vor unseren Augen ausführen.23 Das Papsttum ist für Ellen White lediglich eine „antichristliche Macht“,24 eine Bezeichnung, die sie auch an einigen anderen Stellen gebrauchte.25 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Anmerkung in der Erstausgabe des Buches Der große Kampf (1888) zu Seite 54, in der erklärt wird (Uriah Smith war der Verfasser), „der Papst … ist in Wirklichkeit der Stellvertreter Satans – er ist der Antichrist“,26 nach der Überprüfung der Zitate und Anmerkungen durch W. W. Prescott (im Auftrag Ellen Whites) in der Ausgabe von 1911 ersatzlos gestrichen wurde. Ellen White ist recht eindeutig in ihren Aussagen, was den (einen) Antichristen betrifft: Wie bereits erwähnt, ist es Satan selbst! Sie schrieb u. a.: Die Entschlossenheit des Antichristen, die Rebellion, die er im Himmel begann, fortzuführen, wird in den Kindern des Ungehorsams weiterhin wirken.27 In diesem Zeitalter wird der Antichrist als der wahre Christus erscheinen und dann wird das Gesetz Gottes in den Nationen der Welt völlig ungültig gemacht. Die Rebellion gegen Gottes heiliges Gesetz wird sich voll entfalten. Aber der wahre Anführer dieser Rebellion ist Satan, der sich als Engel des Lichts verstellt.28 Das ist die Herrschaft des Antichristen. Gottes Gesetz ist beiseite gesetzt. Die Heilige Schrift wird gegen die Traditionen von Menschen vertauscht. Satan ist der Herrscher der Welt geworden … Er herrscht über ein großes, gut organisiertes Imperium.29 Entsprechend benutzte sie den Ausdruck „der Geist des Antichristen“, um Satans Einfluss zu beschreiben. „Es gibt zwei Geister in der Welt, den Geist Christi und den Geist des Antichristen“, erklärte sie.30 Bei einigen wenigen Aussagen Ellen Whites geht aus dem Kontext nicht eindeutig hervor, wen sie mit dem Antichristen meint. Einzig in der Aussage „Antichrist, der ‚Mensch der Sünde‘ [2 Ths 2,4 KJV], hat sich als der Höchste auf Erden erhoben, und durch ihn hat Satan in meisterlicher Weise gewirkt, um eine Rebellion gegen das Gesetz Gottes und gegen das Denkmal seiner geschaffenen Werke zu erzeugen“,31 bezieht sich Antichrist auf das Papsttum. Aus dieser Aussage sollten wir aber nicht viel ableiten, denn in der Artikelserie bezeichnete sie nur drei Wochen vorher das Papsttum mit dem Ausdruck, es sei eine „antichristliche Macht“.32 Ellen White 23 „Satan wendet jede mögliche List an … Die letzte große Täuschung wird sich bald vor uns entfalten. Der Antichrist wird seine erstaunlichen Werke vor uns entfalten.“ Ebenda, S. 594. 24 The Great Controversy, S 205; in der deutschen Ausgabe fehlt das Wort „antichristlich“ auf S. 205 oben. 25 In Spirit of Prophecy, Bd. 4, S. 138; Signs of the Times, 12. Juni 1893, 19. Februar 1894, 19. November 1894 und Testimonies to Ministers, S. 37. 26 The Great Controversy (1888), S. 680. 27 Manuskript 9, 1900; zitiert in: Testimonies for the Church, Bd. 9, S. 230 (auf Deutsch in: Aus der Schatzkammer der Zeugnisse, Bd. 3, S. 339); Selected Messages, Bd. 3, S. 401; SDA Bible Commentary, Bd. 7, S. 949f. 28 Advent Review and Sabbath Herald, 12. September 1893; zitiert u. a. in Testimonies to Ministers, S. 62; Evangelism, S. 365; Christus kommt bald, S. 120. 29 Advent Review and Sabbath Herald, 15. Dezember 1904. 30 Advent Review and Sabbath Herald, 10. Juni 1890. 31 Signs of the Times, 12. März 1894. 32 Siehe Signs of the Times, 19. February 1894. 6 wies selbst darauf hin, dass auch inspirierte Verfasser ihre Begriffe nicht konsequent verwenden.33 Zudem bezeichnete sie an manchen Stellen mit dem „Mensch der Sünde“ auch Satan, den wahren Antichristen.34 Auf Ellen White kann sich also niemand berufen, der das Papsttum als den Antichristen bezeichnet. Sie schrieb an keiner Stelle: „Das Papsttum ist der Antichrist“ oder so ähnlich. Luthers Aussage wiederholte sie nie mit ihren Worten. Der Begriff Antichrist als Feindbild Ein aufschlussreiches Beispiel für die Benutzung des Begriffes Antichrist bietet der Artikel im Adventist Review „THE ANTICHRIST – Is the Adventist interpretation still viable?“ von Woodrow W. Whidden,35 damals Professor für Religion an der Andrews-Universität. Er wurde auch im ADVENTECHO im Dezember 2003 auf den Extra-Seiten in gekürzter Fassung veröffentlicht.36 Das Thema dieses Artikels ist – wie bereits die Überschrift sagt –, ob die „traditionelle adventistische Position, dass das Papsttum der Antichrist ist“, noch haltbar ist. Dabei untersucht Whidden jedoch nicht diese Interpretation an Hand der biblischen Texte über den Antichristen in den Johannesbriefen (er erwähnt sie überhaupt nicht!), sondern setzt einfach voraus, dass „der Antichrist im ‚kleinen Horn‘ von Daniel 7 und 8, im ‚Menschen der Sünde‘ von 2. Thessalonicher 2 [KJV] und im leopardähnlichen ‚Tier aus dem Meer‘ von Offenbarung 13“ dargestellt wird. Dann stellt er vier Kriterien auf, an Hand derer ein Antichrist offenbar wird. „Eine Macht, die der Natur eines ‚Antichristen’ entspricht, richtet sich gegen folgende Punkte oder verleugnet sie: 1. Die ewige Autorität der Zehn Gebote als Ausdruck der unveränderlichen Natur und des Willens Gottes. 2. Das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben, nicht durch die Werke des Gesetzes. 3. Die zentrale Stellung Jesu Christi als einzigem Mittler zwischen Gott und Menschen. 4. … sie wird letztlich versuchen, durch ‚falsche Wunder’ oder durch Zwang Anhänger zu gewinnen.“ Als Beleg führt Whidden Texte aus Daniel 7 und 8, 2. Thessalonicher 2, Offenbarung 13 und andere an (für Punkt 2 benutzt er ausschließlich andere Texte). Da diese Kriterien hauptsächlich aus Textabschnitten gewählt sind, die tatsächlich vom Papsttum handeln, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass er zu dem Ergebnis kommt, das Papsttum sei tatsächlich immer noch der Antichrist, auch wenn Whidden zugesteht, dass es Veränderungen durchgemacht hat. Dabei geht es ihm ausdrücklich darum, das Papsttum als Antichrist zu identifizieren: Er benutzt diesen Begriff in seinem Artikel 20 Mal,37 nur einmal den Begriff „der Gesetzlose“ und außer im obigen Zitat den Begriff „Mensch der Sünde“ (2 Ths 2,4 KJV) überhaupt nicht, den Ellen White über 200 Mal (statt Antichrist) auf das Papsttum bezog. Statt des tatsächlichen Kriteriums, das Johannes für die Antichristen nennt, nämlich die Leugnung der tatsächlichen Menschwerdung des Sohnes Gottes, stellt er willkürlich Kriterien für den Antichristen auf, die die Bibel in anderen Zusammenhängen nennt. Das ist eine Art des Umgangs mit der Heiligen Schrift, mit der man alles beweisen kann, und die wir häufig bei anderen Theologen verurteilen – völlig zu Recht! Hier wird tatsächlich ein Feindbild aufgebaut – und dabei werden biblische und adventistische Aussagen ignoriert. Whidden bezeichnet die dargelegte Interpretation zwar mit gewissem Recht als die „traditionelle Position“, aber auch als die adventistische „Standardinterpretation des Antichristen“. Mit welchem Recht tut er das, wo sie weder in unseren Glaubengrundsätzen und ebenso wenig im 33 Siehe Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 20. Siehe Das bessere Leben, Ausgabe 1990ff., S. 115; Advent Review and Sabbath Herald, 29. April 1890; Signs of the Times, 18. Juni 1894; Brief 17. Februar 1900, zitiert in: Manuscript Releases, Bd. 14, S. 162, und Maranatha S. 191; Brief 4.Oktober 1903, zitiert in Manuscript Releases, Bd. 16, S. 9;Manuskript 17, 1906, zitiert in SDA Bible Commentary, Bd. 7, S. 975. 35 Adventist Review, 25. Mai 2000, S. 8–13. Der Titel füllte die ganze Titelseite der Zeitschrift. 36 „Der Antichrist“. Dies war die letzte Ausgabe, die Friedhelm Klingeberg als Chefredakteur verantwortete. Dem Papsttum galt bekanntermaßen sein besonderes Interesse. 37 Ein deutlicher Gegensatz auch zu den lediglich drei Erwähnungen Uriah Smiths in seinem ganzen fast 800 Seiten umfassenden Buch Daniel and Revelation. 34 7 dem offiziösen Standardwerk über die adventistischen Glaubenspunkte erwähnt wird,38 wo sie weder vom adventistischen Bibelkommentar noch von Ellen White unterstützt wird und inzwischen von den meisten adventistischen Autoren zu Daniel und der Offenbarung (z. B. Mervyn Maxwell, William Shea, Jon Paulien, Jacques Doukhan, Ranko Stefanovic)39 nicht mehr vertreten wird?? Marvin Moore, Chefbuchlektor des Pacific Press-Verlags, hebt in seinem Buch The Antichrist and the New World Order sogar durch Fettdruck hervor: „Der Antichrist ist Satan selbst!“40 Er ist unser wirklicher Feind und Widersacher. Darüber hinaus sollten wir keinerlei Feindbilder aufbauen, denn das taten weder Johannes noch Ellen White. Dieser biblischen und der wahren adventistischen Position sollten wir folgen – und nicht die Ansicht Luthers und seiner frühen Nachfolger in unsere Zeit transferieren. Das ist keineswegs eine Aufgabe unseres protestantischen Erbes, denn auch in vielen anderen Positionen folgen wir Luther nicht, wie z. B. im Gesetzes- und Heiligungsverständnis oder in den Lehren über Taufe und Abendmahl. Wir sollten aber in unseren Auslegungen stets bibeltreuer werden und sie nötigenfalls revidieren. Das ist gute adventistische Tradition. Langfassung der im ADVENTECHO 11/2007 veröffentlichten Version. Zum Autor: Damit die Leser diesen Artikel vorurteilsfrei lesen und kein neues Feindbild gefördert wird, hat die Redaktion (ausnahmsweise) der Bitte des Autors entsprochen, seinen Namen nicht zu nennen. 38 In Was Adventisten glauben, 1988 herausgegeben von der Predigtamtsabteilung der Generalkonferenz (Advent-Verlag 1996), wird der Antichrist an der einzigen Stelle, wo er erwähnt wird (S. 159), mit Satan identifiziert. 39 Siehe C. Mervyn Maxwell, God Cares, Pacific Press, 1985, Bd. 1, S. 117; Bd. 2, S. 325ff.; William H. Shea, Das Buch Daniel, Advent-Verlag 1998, Bd. 1, S. 157ff.; Jon Paulien, Das Ende der Welt, AdventVerlag, 2006, S. 120ff.; Jacques B. Doukhan, Secrets of Revelation, Advent Review and Sabbath Herald, 2002, S. 114–116; Ranko Stefanovic, The Revelation of Jesus Christ, Andrews University Press, 2002, S. 404ff. 40 The Antichrist and the New World Order, Pacific Press, 1993, S. 19.