„Sie haben das Potential, Wahlen zu beeinflussen“

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F RA NKF URTER ALLG EMEINE ZEITUN G
Frankfurt
SAMS TAG, 11. M ÄRZ 2 01 7 · NR. 6 0 · SE I T E 39
Im Gespräch: Sandra Eckert, Politologin
„Sie haben das Potential, Wahlen zu beeinflussen“
gung, die sich für einen revolutionären
Wandel einsetzt. Sie strebt ein reformiertes, anderes Europa an und setzt sich für
Normen wie Rechtsstaatlichkeit ein. Zum
anderen – und das ist aus meiner Sicht
der wichtigere Beweggrund – verschafft
sich die bislang stillschweigende Zustimmung zur EU nun eine Stimme. Für diejenigen, die proeuropäisch sozialisiert sind
und mit der Europäischen Integration als
politische Selbstverständlichkeit aufgewachsen sind, wurde mit dem Brexit eine
Grundüberzeugung erschüttert, nämlich
diejenige, dass der Prozess unumkehrbar
in eine Richtung geht. Insofern ist es nachvollziehbar, dass jetzt eine Mobilisierung
dieser Gruppe erfolgt.
Nach Brexit und
Trump-Sieg haben
zwei Frankfurter die
proeuropäische Bewegung „Pulse of Europe“
begründet. Dass sie
damit etwas erreichen
können, scheint nicht
ausgeschlossen.
Der „Pulse of Europe“-Bewegung, die jeden Sonntag für die Einheit Europas demonstriert, schließen sich immer mehr
Menschen an, mittlerweile in 40 europäischen Städten. Wie ist das zu erklären?
Der Zeitpunkt ist günstig. Eine neue soziale Bewegung muss bei einer kritischen
Masse von Menschen die Bereitschaft zur
Teilnahme wecken und ein Mindestmaß
an Partizipation sicherstellen. Und das
Ziel der Bewegung ist zeitlich klar: Ein
ähnliches Debakel für Europa wie beim
Brexit soll es bei den bevorstehenden
Wahlen in den Niederlanden, Frankreich
und Deutschland nicht nochmals geben.
Die Aktionen sind auf die Wahltermine
in der nächsten Woche in den Niederlanden und im April, Mai und Juni in Frankreich ausgerichtet. Der konkrete Bezug
wirkt wie ein Katalysator für die Bewegung: Sie kann an den einzelnen Standorten und gerade hier in Frankfurt einen beachtlichen Zuwachs verzeichnen; und sie
erweitert ihren Fokus auch über Deutschland hinaus, „Pulse of Europe“ ist inzwischen eine transnationale Bewegung.
Ohne den konkreten Anlass des unmittelbaren Protests gegen nationalistische Tendenzen wäre eine proeuropäische Bewegung wohl nicht in diesem Ausmaß erfolgreich.
Europa wird zunehmend als Gegenstand
der Kritik wahrgenommen. Schwindet
die Unterstützung für die EU?
Ein Mangel an Unterstützung für europäische Politik ist in Deutschland kein
neues Phänomen, der Erfolg parteibasierter Europa-Skepsis hingegen schon. Das
beste Beispiel ist die Haltung zum Euro:
Seit den 1970er Jahren und auch noch in
ihrer Entstehungszeit lehnten gut zwei
Drittel der Deutschen die gemeinsame
Währung ab. Trotzdem scheiterten entsprechende parteipolitische Angebote
wie die in den 1990er Jahren als Reaktion
auf den Maastricht-Vertrag gegründeten
Parteien Pro-DM (Initiative Pro D-Mark –
Neue Liberale Partei) und BfB (Bund Freier Bürger – Offensive für Deutschland).
In der Forschung zu europaskeptischen
Parteien wurde Deutschland deswegen
lange als Ausnahmefall gehandelt.
Was hat sich seitdem geändert?
Die Politisierung europapolitischer
Themen. Lange Zeit war Europa ein Thema für Sonntagsreden: das Friedensprojekt, das Miteinander mit den europäischen Nachbarn, der Schüleraustausch
und die Erasmusstudierenden. Das hat
sich in den letzten zehn Jahren substan-
Kann diese Bewegung tatsächlich irgendeinen Einfluss auf Wahlen haben?
Soziale Bewegungen haben durchaus
das Potential, Wahlen zu beeinflussen:
Sie können die Sichtbarkeit von Themen
erhöhen und neue Themen setzen, was
sich zum Beispiel in den Wahlprogrammen einzelner Parteien niederschlagen
könnte. Dass eine soziale Bewegung tatsächlich wahlentscheidend wirkt, ist eher
unwahrscheinlich. Aber sie kann schon einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung und
die Stimmenanteile nehmen.
Statt Sonntagsreden: Auch morgen wollen die Anhänger von „Pulse of Europe“ wieder demonstrieren.
tiell verändert. Das Interesse an Europa
ist viel größer, in den Medien wird weitaus mehr über die EU, aber auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten berichtet. Zunächst einmal ist dies Politisierung begrüßenswert, denn angesichts der
Auswirkungen europäischer Politik auf
alle Lebensbereiche kann es nicht angehen, dass die Bürger sich nicht für die EU
interessieren und dass Europa im politischen Entscheidungsprozess auf nationaler Eben eine so geringe Rolle spielt.
Duktus der Sonntagsrede hat in der aktuellen Situation wirklich ausgedient.
Das heißt?
Sie werden heute ein potentiell besser
informiertes und kritischeres Publikum
nicht mit den viel besungenen Errungenschaften europäischer Integration überzeugen können. Es geht ans Eingemachte, das was die Wähler wirklich interessiert, wie beispielsweise Fragen der sozio-
Es wurde aber auch immer mehr Kritik
laut.
Ja, und auch das halte ich für eine gesunde Entwicklung in der Auseinandersetzung mit einer politischen Ordnung:
Es muss möglich sein, für die Europäische Union zu sein, aber für ein anderes
Europa als das derzeit existierende. Die
Parteienlandschaft in Deutschland hat
sich im Zuge dieser Entwicklung um das
Spektrum einer erfolgreichen europaskeptischen Partei, der AfD, erweitert – eine
Situation, mit der andere Mitgliedstaaten
der EU schon lange umzugehen haben.
Das Plädoyer für ein anderes Europa
muss aber nicht notwendigerweise europaskeptisch sein, und das zeigt die Bewegung „Pulse of Europe“ auf.
Hat die Politik es in den vergangenen
Jahren versäumt, die positiven Seiten
der EU herauszustellen?
Ich denke nicht, dass die Politiker in
der Vergangenheit zu wenig über die positiven Seiten Europas gesprochen haben,
auch wenn man tendenziell natürlich geneigt war, das Projekt Europa als Konstante deutscher Politik und weniger als Herausforderung wahrzunehmen. Aber der
Sandra Eckert ist Juniorprofessorin an
der Goethe-Universität. Die Politikwissenschaftlerin befasst sich mit der europäischen Integration, dem Binnenmarkt und
den Auswirkungen europäischer Politik
in den Mitgliedstaaten.
Foto privat
Foto Wonge Bergmann
ökonomischen Auswirkungen von Integration in der Eurozone und im Binnenmarkt oder die Herausforderungen einer
gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Und natürlich müssen Politiker sich der Frage
stellen, ob und wie Integration trotz der
aktuellen Desintegrationstendenzen voranschreiten soll.
Ist eine Bewegung wie „Pulse of
Europe“ ein Zeichen für Politikverdrossenheit oder für das Gegenteil?
Zunächst einmal kann man die Entstehung einer neuen Bewegung als Zeichen
der Politikverdrossenheit im Sinne einer
Unzufriedenheit mit bestehenden Möglichkeiten politischer Partizipation deuten – denn sonst brauchte es ja diese Bewegung nicht. Viele soziale Bewegungen
in Deutschland sind mit dem Ruf nach
mehr Demokratie ins Leben gerufen worden. Im Falle von „Pulse of Europe“ geht
es um die Gestaltung der Demokratie auf
europäischer Ebene. Die Transnationalisierung der Bewegung selbst ist insofern
nur folgerichtig. Gleichzeitig ist nicht davon auszugehen, dass diejenigen, die nun
durch „Pulse of Europe“ mobilisiert werden, an sich unpolitisch sind. Die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an der sogenannten „Bewegungsgesellschaft“, das
zeigen die Forschungsergebnisse, wächst
mit dem sozioökonomischen Status und
dem Bildungsgrad.
Viele der Teilnehmer sagen, sie hätten
noch nie demonstriert, was ist geschehen?
Zum einen könnte es sein, dass sich die
Bewegung zumindest teilweise aus einem
konservativ-liberalen Milieu speist, das
traditionell nicht „auf die Straße geht“.
Denn „Pulse of Europe“ ist ja keine Bewe-
Welche Perspektive sehen Sie für die Bewegung?
Derzeit profitiert sie von dem enormen
Momentum in diesem Superwahljahr. Es
wird sicherlich schwierig sein, das aufrechtzuerhalten, zumal die Bewegung ja
auch ein außergewöhnliches Engagement
des Organisationskreises fordert. Andererseits wäre es nicht das erste Mal, dass
aus einer ad hoc gegründeten Bewegung
eine institutionalisierte Struktur entsteht.
Da die Herausforderungen in Europa und
international auch unabhängig vom Wahlausgang in den drei Mitgliedstaaten nicht
obsolet werden, gibt es hier durchaus weiteres Aktionspotential. Zu denken wäre
hier an die nach wie vor virulenten Fragen bezüglich der künftigen Beziehungen
der EU zum Vereinigten Königreich und
dem schwieriger werdenden Verhältnis
zu den Vereinigten Staaten oder zur Türkei; aber auch an innereuropäische Spannungen etwa mit Polen und Ungarn. Ob
die Aktionsmodi dann dieselben bleiben
und auch der Mobilisierungsgrad aufrechtzuerhalten ist, wird die weitere Entwicklung zeigen.
Aus Euro- und EU-Skepsis ist die AfD
entstanden, könnte aus „Pulse of
Europe“ eine Partei werden?
In der Tat, aus Aktivisten können Parteipolitiker werden. Hier finde ich das Beispiel der grünen Parteien oder der Neuen
Linken als Analogie allerdings naheliegender, denn sie sind aus sozialen Bewegungen entstanden. Die AfD war ja zunächst ein Elitenprojekt, eine Professorenpartei, wie es so schön hieß. Eine
Schwierigkeit würde ich darin sehen, dass
die „Pulse of Europe“ mit ihrer proeuropäischen Ausrichtung kein Alleinstellungsmerkmal hat. Dass die POE Einfluss
nehmen will auf die Politik etablierter Parteien, deutet sich bereits an, und sie kann
aufgrund ihres Erfolges und ihrer Sichtbarkeit als Stimme für Europa ohnehin
nicht mehr ignoriert werden.
Die Fragen stellte Patricia Andreae.
Kinderschänder
am Flughafen gefasst
Einen wegen Kindesmissbrauchs international gesuchten Türken hat die Polizei am Donnerstag auf dem Flughafen
verhaftet. Die Beamten überprüften
den Sechsundvierzigjährigen, der mit
einem Flug aus Sofia gekommen war,
bei der Einreisekontrolle. Wie die Bundespolizei gestern weiter mitteilte, war
der Mann 2015 vom Landgericht
Braunschweig zu einer Freiheitsstrafe
von vier Jahren verurteilt worden, weil
er ein Kind mehrfach schwer sexuell
missbraucht hatte. Seitdem wurde mit
einem internationalen Haftbefehl
nach ihm gesucht. Er wurde nach der
Festnahme in Haft genommen. skem.
Marihuana-Plantage
von Polizei ausgehoben
Durch Zufall hat die Polizei eine Marihuana-Plantage in einer Wohnung in
Preungesheim entdeckt. Einem Sprecher zufolge waren die Beamten am
Mittwoch wegen Ermittlungen in einer
anderen Sache in das Mehrfamilienhaus am Marbachweg gekommen. Im
Treppenhaus nahmen sie jedoch Marihuana-Geruch wahr und durchsuchten
daraufhin die verdächtige Wohnung.
Dort fanden sie rund 250 Gramm Marihuana, zahlreiche Marihuana-Samen
sowie ein Zelt für eine Innenraumplantage und die passende Ausstattung. Der
Tatverdächtige kam nach Ende der Ermittlungen wieder frei.
skem.
Informationen zu
Vorsorge und Betreuung
Über Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügungen und Patientenverfügungen informiert in der nächsten Woche die sogenannte Betreuungsbehörde mit einer Veranstaltungsreihe. Sie
richtet sich sowohl an Bürger, die ehrenamtliche Betreuungen übernehmen
wollen, als auch an jene, die Vorsorge
treffen wollen. Die Reihe beginnt am
Montag um 16 Uhr im Rathaus für Senioren, Hansaallee 150. Nach einem
Grußwort von Stadträtin Daniela Birkenfeld (CDU) soll es um Vorsorgevollmachten gehen.
Betreuungsverfügungen
stehen
dann im Mittelpunkt der Veranstaltung am Dienstag. Die Betreuungsbehörde stellt ihren Leitfaden für ehrenamtliche Betreuer und Vollmachtnehmer vor. Am Mittwoch folgen Informationen für Vollmachtnehmer und ein
Vortrag in einfacher Sprache zu Vorsorgevollmachten. Die Veranstaltung am
Donnerstag widmet sich umfassend
dem Thema der Patientenverfügung
und den damit verbundenen Ethikfragen. Zum Abschluss gibt es am Freitag
eine Podiumsrunde mit Vertretern des
Betreuungsgerichts Frankfurt, der
überörtlichen Betreuungsbehörde des
Sozialministeriums, und Mitarbeitern
der Betreuungsvereine.
Die Veranstaltungen beginnen jeweils um 16 Uhr, der Eintritt ist frei.
An allen Terminen können sich die
Teilnehmer ihre Unterschrift unter Vorsorgevollmachten unentgeltlich beglaubigen lassen. Die Unterschrift muss in
Anwesenheit der Urkundsperson vollzogen werden, und es müssen gültige
Ausweispapiere vorgelegt werden. iff.
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