Wirtschaftsethik SS 2007 (Zsf. Teil 7), Vogt 42 3. Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik Zu 3.2 Sozialethische Kriterien zur Bewertung der Gesundheitssicherung1 Das Erleben von Gesundheit und Krankheit gehört zu den existenziellen Erfahrungen im Leben eines Menschen. Der Begriff Gesundheit, der mit positiven Erfahrungen verbunden ist, kennzeichnet ein fundamentales Gut, das für eine selbstständige Lebensführung und gesellschaftliche Partizipation von entscheidender Bedeutung ist und häufig erst dann in das Blickfeld eines Menschen gerät, wenn sie fehlt, d.h. im Krankheitsfall. Der Begriff Krankheit ist mit negativen Erfahrungen verbunden und kennzeichnet eine eingeschränkte Funktionalität des menschlichen Organismus. Durch Krankheiten verändern sich das alltägliche Leben und unter Umständen auch die Lebensplanung des Betroffenen. Alltägliche Bedürfnisse treten in den Hintergrund und der Wunsch nach Gesundheit wird zentral. Existenzbedrohende Krankheiten bringen den Betroffenen in eine Grenzsituation und erinnern ihn an seine Vergänglichkeit. Dem kranken Menschen darf jedoch nicht die Fähigkeit zu einem guten und gelingenden Leben abgesprochen werden. Gesundheit ist zwar ein fundamentales, nicht aber das höchste Gut des Menschen. Kersting qualifiziert das Gut Gesundheit/Gesundheitsversorgung als „ein transzendentales oder ein konditionales Gut. Von derartigen Gütern gilt allgemein, dass sie nicht alles sind, alles aber ohne sie nichts ist. Sie besitzen einen Ermöglichungscharakter; ihr Besitz muss vorausgesetzt werden, damit die Individuen ihre Lebensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können.“2 Herausforderungen für das deutsche Gesundheitssystem Das deutsche Gesundheitssystem steht gegenwärtig vor großen Herausforderungen, die eine Reform nötig machen. Von zentraler Bedeutung sind hierbei drei externe Problembereiche: Der medizinisch-technische Fortschritt hat die Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren stark verändert. Durch technische Innovationen im medizinischen Bereich hat sich einerseits die Lebensqualität Kranker verbessert, andererseits stiegen die Behandlungskosten stark an. Die demographische Entwicklung führt in Deutschland dazu, dass die Zahl der über 60-Jährigen von 1998 bis 2050 um ca. 10 Millionen zunehmen wird. Dieses Altern der Bevölkerung wird zu großen Veränderungen im Gesundheitswesen führen, die sich durch fünf Beispiele verdeutlichen lassen: (1) In einer alternden Gesellschaft steigt automatisch die Morbidität und es kommt zu einem verstärktem Bedarf an ambulanten und stationären Gesundheitsdiensten. (2) Mit zunehmendem Alter wird die Pflegebedürftigkeit steigen, die sich aufgrund einer längeren Lebenserwartung über einen größeren Zeitraum ausdehnen wird. (3) Diese beiden Faktoren werden zu einem Anstieg der Kosten des Gesundheitssystems führen. (4) Bedingt durch den demographischen Wandel wird die Zahl der Erwerbstätigen zurückgehen. Dies wird sich auch auf die Pflegeberufe auswirken. (5) Ebenfalls kommt es durch den demographischen Wandel zu einem veränderten Altersaufbau (mehr alte, weniger junge Menschen) der Gesellschaft. Dies hat zur Folge, dass der Generationenvertrag nicht mehr haltbar sein wird. Gesundheitsethische Positionen Ethische Fragestellungen im Bereich der Medizin betreffen nicht nur die Moraltheologie – medizinische Ethik als Teilethik – sondern als strukturethisches Problem auch die Sozialethik. Hierbei geht es um die Gestaltung der Normen, Institutionen und Ordnungen im Gesundheitswesen. Die Diskussion über eine Veränderung des deutschen Gesundheitswesens behandelt im Wesentlichen die Fragen der Mittelverteilung. Innerhalb dieser Diskussion werden momentan zwei Modelle favorisiert: Zum einen das Modell einer mehrstufigen Gesundheitsversorgung und zum anderen das Modell einer dualen Gesundheitsversorgung. 1 Zusammenfassung nach: Bohrmann, Th: Gesundheitssicherung und Solidarität, in. Heimbach-Steins, M. (Hrsg.): christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. II, Regensburg 2005, 228-253. 2 Kersting, W., Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999), 152. Wirtschaftsethik SS 2007 (Zsf. Teil 7), Vogt 43 Das Modell einer mehrstufigen Gesundheitsversorgung: Der Philosoph Otfried Höffe fordert eine Änderung des Krankenversicherungssystems, hin zu einem System, das die Eigenverantwortung der Versicherten stärker betont und aus vier Stufen besteht. Die erste Stufe umfasst die öffentliche Gesundheit, zu der beispielweise die Seuchenprävention und Pflichtschutzimpfungen gehören. Hierauf folgt als zweite Stufe eine Grundstufe, die eine medizinische Grundversorgung umfasst und als gesetzliche Krankenversicherung gestaltet ist. Auf diese medizinische Grundversorgung folgt mit der dritten Stufe (Aufbaustufe) eine individuelle Krankenversicherung. Im Gegensatz zur zweiten Stufe basiert diese nicht mehr auf dem Prinzip der Solidargemeinschaft, sondern auf dem der Selbstverantwortung. Risikofaktoren wie etwa Übergewicht oder Tabak- und Alkoholkonsum dürfen von den Versicherungsgesellschaften für die Festsetzung der Beiträge in dieser Stufe berücksichtigt werden. Durch die vierte und letzte Stufe (Abrundungsstufe) werden individuelle Zusatzleistungen (bspw. Einbettzimmer) finanziell abgedeckt.3 Das Modell einer dualen Gesundheitsversorgung: Dem Modell Höffes vergleichbar fordert auch der Philosoph Wolfgang Kersting mehr Eigenverantwortung der Versicherten. Jedoch plädiert er für ein duales System, bestehend aus einer medizinischen Grundversorgung, die einkommensneutral ist, und eine privaten Krankenversicherung. In den Diskurs über eine Reform des Gesundheitswesens haben sich auch die beiden großen Kirchen in Deutschland eingebracht. Die DBK veröffentlichte hierzu im Jahre 2003 die Stellungnahme „Solidarität braucht Eigenverantwortung. Orientierungen für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem“. Der Kerngedanke dieses Textes – und auch der der Stellungnahmen der EKD – ist, dass Verhältnis von solidarischer Krankenabsicherung und individueller Tragbarkeit. Neben ethischen Kriterien zur Bewertung der Probleme werden auch konkrete Reformvoraschläge unterbreitet. Grundlinien einer Ethik des Gesundheitswesens Um die Funktionsweise des Gesundheitssystems zu verstehen, muss eine sozialethische Reflexion bei den Strukturen des Systems ansetzten. Das deutsche Gesundheitswesen ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Institutionen. Sie alle haben das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung wiederherzustellen, zu verbessern oder zu bewahren. Hierfür bedienen sie sich drei verschiedener Steuerungskomponenten: (1) Die Gesundheitssicherung soll die Leistungen und Güter finanzieren, die zur Gesundheitsprävention und Heilung gebraucht werden. (2) Die Gesundheitsversorgung stellt die benötigten Gesundheitsleistungen und Gesundheitsgüter zur Verfügung (bspw. medizinische Versorgung). (3) Die Gesundheitspolitik ordnet die Gesundheitssicherung und Gesundheitsversorgung. Hierfür stellt sie Rahmenordnungen auf, die dem Schutz, der Erhaltung und der Wiederherstellung der Gesundheit dienen. Für die ethische Diskussion ergeben sich aus diesen drei Steuerungselementen auch die zentralen ethischen Problemfelder. Recht auf Gesundheitsversorgung Das Grundgesetz der BRD erwähnt den Begriff Gesundheit, im Unterschied zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 22 und 25), nicht direkt. Jedoch implizieren die Artikel 1 GG (Schutz der Menschenwürde) und 2 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) die Pflicht, dass der Staat Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit zu ergreifen hat. Des Weiteren wird durch Artikel 20 Abs. 1 (sozialer Bundesstaat) und Artikel 28 Abs. 1 (sozialer Rechtsstaat) des Grundgesetzes eine soziale Verantwortung im Sinne der Sozialstaatlichkeit als Staatsziel definiert. Demzufolge bemüht sich der Staat „allen Bürgern und Bürgerinnen ein menschenwürdiges Dasein – auch bei Krankheit, Alter, Invalidität, Unfall, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit – zu gewährleisten, den schwächeren Personen Entfaltungschancen zu ermöglichen und ihnen die Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand einzuräumen.“ (Bohrmann, S. 241) Spricht man von einem Recht auf Gesundheit, so kann dies nur bedeuten, dass jeder Mensch ein Recht auf Zugang zu den Institutionen des Gesundheitswesens besitzt. Dem Staat kommt hierbei die Aufgabe zu, ein Gesundheitswesen aufzubauen und den Zugang zu diesem zu gewährleisten. 3 Vgl.: Höffe, O.: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder: Besonnenheit statt Pleonexie. In: Deutsches Ärzteblatt 95, H 5. Wirtschaftsethik SS 2007 (Zsf. Teil 7), Vogt 44 Verteilungsmodelle im Gesundheitswesen: Markt oder Staat? Für die Verteilung von Gesundheitsleistungen sind zwei Modelle denkbar. Entweder geschieht die Verteilung dezentral durch eine marktwirtschaftliche Ordnung oder zentral durch eine staatliche Koordinierungsstelle. Bei einem marktwirtschaftlichen Verteilungsverfahren läuft die Koordinierung der Gesundheitsleistungen über den Markt-Preis-Mechanismus. Ein marktwirtschaftliches Verfahren setzt jedoch einen mündigen, gut informierten Verbraucher voraus. Hiervon kann im Gesundheitswesen aber nicht die Rede sein, denn einerseits fehlt das Wissen der Gesundheitsexperten und andererseits können physische und psychische Beeinträchtigungen eine rationale Entscheidung behindern, oder sogar ganz Außerkraftsetzung. Ein weiterer Grund, der auf ein Versagen des Marktes im Gesundheitswesen hindeutet, ist im Bereich der Verteilung zu finden. Wird diese allein über den Markt-PreisMechanismus gesteuert, so erhalten nur die Finanzstarken die benötigten Leistungen. Um dies zu verhindern und auch finanzschwachen Personen eine gute Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen, sind staatliche Interventionen nötig. Diese müssen durch eine solidarische Umverteilung Lebensrisiken auffangen und so allen Einwohnern ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Jedoch bestände bei einem rein staatlich organisierten Gesundheitssystem die Gefahr, dass Strukturprobleme entstehen (bspw.: Verschwendungs- und Überkonsumtionseffekte). Aus diesen Gründen ist ein Mischmodell geeigneter, „die Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger zu übernehmen, da damit sowohl die (finanziell) Schwächeren bedacht werden, als auch die Eigenverantwortung der Individuen nicht unberücksichtigt bleibt.“ (Borhmann, S. 243) Das Ethos der sozialen Krankenversicherung Das System der sozialen Sicherung, das die deutsche Sozialpolitik seit Bismarck geprägt hat, soll die abhängig Beschäftigten gegen bestimmte Risiken des Erwerbslebens schützen. Im Mittelpunkt steht hierbei der Mensch als Person, der in bestimmten Krisensituationen (Invalidität, Unfall etc.) auf eine solidarische Hilfe angewiesen ist. Kennzeichnend für das System der Sozialversicherung ist, dass es für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine gesetzliche Versicherungspflicht gibt, dass sich der Beitrag nach dem individuellen Einkommen berechnet und das sich im Bedarfsfall die Leistungen an der individuellen Bedürftigkeit orientieren. Die Sozialversicherung beruht also auf dem Prinzip der Solidarität. Aufgrund gleicher Interessen solidarisiert man sich und gewährt einander im Notfall gegenseitige Hilfe (man bezeichnet dies als ConSolidarität). Jedoch ist ein solches System auf eine bestimmte Anzahl an Leistungserbringern angewiesen, da diese durch ihre Beiträge die Leistungen erbringen. Ethische Grundbegriffe für die Gestaltung des Gesundheitswesens Solidarität und Eigenverantwortung Das Prinzip der Solidarität muss auch in Zukunft das Grundprinzip des Gesundheitswesens sein. Jedoch muss um die Solidarität nicht überzustrapazieren, die Frage gestellt werden, welche Leistungen in die Eigenverantwortung der Versicherten übertragen werden können. Hierbei stellen Solidarität und Eigenverantwortung keine sich einander ausschließende Gegensätze dar, sondern sind aufeinander bezogen. Eigenverantwortung bedeutet in diesem Zusammenhang beispielweise, dass der Einzelne sorgsam mit seiner Gesundheit umgeht oder bestimmten gesundheitlichen Risiken vorbeugt. Auch eine Selbstbeteiligung für bestimmte Leistungen (Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel) verdeutlicht die Eigenverantwortung. Eigenverantwortung hilft somit die konkrete solidarische Gemeinschaft zu entlasten und zu stärken. Kann der Einzelne aber aus eigener Kraft keine Eigenleistungen mehr erbringen, muss die Solidargemeinschaft eingreifen und finanzielle Hilfe leisten. Bedürfnisgerechtigkeit Eine solidarische Absicherung darf nicht mit einem Versorgungsmaximalismus verwechselt werden. Denn um die Funktion des Gesundheitssystems zu gewährleisten, muss das Leistungsspektrum der solidarischen Krankenversicherung abgegrenzt werden. Zu beachten ist hierbei, dass die menschliche Person mit ihren Bedürfnissen, ihrer Würde und der Gleichheit aller im Zentrum stehen muss. Deshalb Wirtschaftsethik SS 2007 (Zsf. Teil 7), Vogt 45 müssen sich die Leistungen des Gesundheitssystems an der individuellen Bedürftigkeit und nicht an der individuellen Zahlungsfähigkeit orientieren. Dies bedeutet, dass gleiche Bedürftigkeit „immer auch zur Gewährung einer medizinischen Gleichbehandlung“ führt. (Bohrmann, S. 249) Wettbewerb Das deutsche System der Gesundheitssicherung enthält sowohl marktwirtschaftliche Elemente, als auch staatliche Regulierungsmechanismen. Die Frage, ob die Wettbewerbsstrukturen – unter Beibehaltung des Solidarprinzips – gestärkt werden sollen, erscheint regelmäßig auf der politischen Agenda. Aus der Sicht der Sozialethik lässt such hierzu positiv anmerken, dass der Wettbewerb grundsätzlich die Freiheit des Wirtschaftssubjekts betont. Des Weiteren bietet der Wettbewerb die Möglichkeit, dass der Konsument seine Bedürfnisse optimal befriedigen kann. Denn er kann erstens aus einer Vielzahl an Angeboten jenes auswählen, das seine Bedürfnisse am besten befriedigt. Zweitens zwingt der Wettbewerb die Anbieter dazu, ihre Leistungen und Güter zu verbessern und kostengünstiger zu produzieren. Eine rein marktwirtschaftliche Ausrichtung des Gesundheitssystems würde jedoch sehr problematisch sein (s.o.). Partizipation Das Gesundheitswesen muss dem Betroffenen Partizipationschancen ermöglichen. Dies ist am ehesten auf der Ebene Patient und Leistungserbringer möglich. Dort konkretisiert sich die Idee der Partizipation vor allem im aufgeklärten Patienten. Dies bedeutet, dass der Betroffenen aktiv in den Behandlungsprozess eingebunden ist und die Möglichkeiten einer medizinischen Behandlung ausreichend informiert. Auf dieser Grundlage kann der Patient eine so genannte informierte Zustimmung erteilen und übernimmt hierdurch eine aktive Rolle im Entscheidungsprozess. Literatur Bohrmann, Th: Gesundheitssicherung und Solidarität, in. Heimbach-Steins, M. (Hrsg.): christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. II, Regensburg 2005, 228-253. Kersting, W., Über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999), 152. Höffe, O.: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder: Besonnenheit statt Pleonexie. In: Deutsches Ärzteblatt 95, H 5. Kostka, U.: Die Zukunft der sozialen Sicherung gegen Krankheitsrisiken: Gesundheitsprämie oder Bürgerversicherung?, in: Schramm/ Große Kracht/ Koska (Hrsg.): Der fraglich gewordenen Sozialstaat. Aktuelle Streitfelder – ethische Grundlagenprobleme, Paderborn 2006, 113-131. Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen / Kommission für caritative Fragen: Solidarität braucht Eigenverantwortung. Orientierungen für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem (Kommissionstexte 23), Bonn 2003.