Familienleitbilder und Familienrealitäten im ­gesellschaftlichen Wandel Andrea Müller, Astrid Pfister Die Familie ist eine Primärgruppe mit einzigartigen Merkmalen. Menschen werden in sie hineingeboren und sind bis zu ihrem Tod und sogar darüber hinaus Teil von ihr. Der Begriff Familie wird mit verschiedenen Gefühlen verbunden und durch persönliche Erfahrungen sowie institutionelle Leit­ bilder geprägt. Deshalb lässt sich keine allgemeingültige Familiendefinition bestimmen. Innerhalb der Gesellschaft übernimmt die Familie neben der biologischen Reproduktion auch elementare Sozialisations- und Identitäts­ bildungsfunktionen. Die Familie als Teil der Gesellschaft wandelt sich, was sich auch in Diskus­sionen in der Sozialpolitik zeigt. Die individuelle Solidarität innerhalb der primären Beziehungen hat sich verändert – mit Auswirkungen auf die gesellschaftliche Solidarität. Sozialarbeitende beraten und unterstützen oft Familien in den verschie­ denen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Aufgrund der aktuellen Phase im gesellschaftlichen Zyklus werden Ansprüche an die Familien gestellt, welche von diesen strukturell nicht erfüllt werden können. Die sozialen Sicherungssysteme orientieren sich oft an einem idealisierten Bild der ­Familie. Dies hat Auswirkungen auf die Soziale Arbeit, denn Sozialarbei­ tende müssen oft nach gesetzlichen Vorgaben arbeiten, welche nicht auf die aktuelle Realität der Familien anwendbar sind. Dieses Spannungsfeld­ ist besonders im Bereich der Sozialhilfe spürbar. Die Hauptfragestellung dieser Bachelor-Thesis ist, welche Bedeutung der Wandel der Familienrealitäten und -leitbilder für die Soziale Arbeit hat. In einem ersten Teil werden verschiedene soziologische Theorien dargestellt, die den gesellschaftlichen Wertewandel aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. In einem zweiten Teil werden die Familienrealitäten in der Schweiz anhand der Familienstatistik sowie der aktuellen familienpoli­ tischen Themen aufgezeigt. Abschliessend wird am Beispiel der Arbeit mit Familien in der Sozialhilfe der Bezug zur Sozialen Arbeit hergestellt. Aus den verschiedenen soziologischen Theorien geht hervor, dass sich die Werte innerhalb der Gesellschaft stark gewandelt haben und dadurch verschiedene Probleme entstanden sind. Die Soziologen sprechen von Kolonialisierungstendenzen der Lebenswelt, Sinnverlust, Freisetzungs­ tendenzen sowie Anomie. Für die Soziale Arbeit mit Familien ergibt sich deshalb auf zwei Ebenen Handlungsbedarf. Einerseits müssen auf der Ebene der Klientenarbeit Familienrealitäten und -leitbilder thematisiert werden. Wichtig scheint, dass Sozialarbeitende Haltungsfragen und eigene Vorstellungen von Familie reflektieren. Andererseits besteht auch Hand­ lungsbedarf auf gesellschaftlicher Ebene: Es muss öffentlich auf die Famili­ enrealitäten aufmerksam gemacht werden. Der familiale Wandel sowie gesellschaftliche Ungleichheiten müssen in die Diskussionen der Sozial­ politik eingebracht werden. Zudem sollen Lösungen für eine bessere Ver­ einbarkeit von Familie und Arbeit gefunden werden. Die Familie wird aufgrund der lebenslangen sozialen Zugehörigkeit auch weiterhin eine wichtige Primärgruppe darstellen. Offen bleibt, ob in Zukunft andere Formen von Solidarität die familiale Solidarität ersetzen können. 58 59