22 Grundlagen der Sozialen Arbeit Interessant ist an dieser Stelle, dass zunächst Sprachfähigkeit als Ausdruck von Bildungsfähigkeit angesehen wird und sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam ein Verständnis herausbildet, dass auch bei non-verbaler Kommunikation eine Bildungsmöglichkeit gegeben ist bzw. grundsätzlich eine Bildsamkeit, auch bei schwereren Behinderungen mit z. T. sehr eingeschränkter Mitteilungsmöglichkeit, vorhanden ist. Übungen zu Kap. 2.1 1. Verständnisfrage: An welcher geschichtlichen Stelle wurden die früher gemeinsam internierten Personengruppen der psychisch kranken bzw. der geistig behinderten Menschen von anderen Personengruppen in den Armen- und Arbeitshäusern getrennt? 2. Diskussions- / Reflexionsfrage: Wie stark war der Einfluss der veränderten Produktionsweise des Kapitalismus auf den professionellen Umgang mit geistig behinderten oder psychisch kranken Menschen? & Sachße / Tennstedt (1980 / 1988 / 1992): Geschichte der Armenfürsorge, Band 1 – 3 Buchkremer (1990): Heil- / Sonderpädagogik und Sozialpädagogik 2.2 Wissenschaftstheoretisches Verständnis: Soziale Arbeit zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften In diesem Abschnitt wird die Soziale Arbeit wissenschaftstheoretisch als eine Querschnittswissenschaft verstanden, die zwischen einer sozialund einer geisteswissenschaftlichen Orientierung verortet werden kann. Sozialarbeitswissenschaft ist eine eigenständige Fachwissenschaft des Sozialen. Für die Frage nach einer professionellen wie disziplinären Verortung Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe scheint zunächst der Rückgriff auf wissenschaftstheoretische Erörterungen nachrangig. Wissenschaftstheoretisches Verständnis 23 Jedoch kommt keine Wissenschaft ohne eine solche Klärung des Vorverständnisses allen forschenden und praktischen Handelns aus, will sie sich ihrer Stellung und ihres Wissensbereiches innerhalb der Wissenschaftslandschaft bewusst werden. Spätestens seit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert stellt sich für jede Fachwissenschaft, und somit auch für die Sozialarbeitswissenschaft, die Frage nach ihren metatheoretischen Grundlagen. Die Soziale Arbeit als noch junge Fachwissenschaft, deren Existenz erst 2001 in Deutschland durch die Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz anerkannt wurde, benötigt noch viel mehr ein solches Vorverständnis, um den daraus abzuleitenden Gegenstand zu bestimmen. Die Fragen, die dabei gestellt werden müssen, sind ebenso Fragen des Erkennens selbst als auch der Organisation dieser Erkenntnis innerhalb einer Wissensgesellschaft. Erkennen als Fähigkeit, sich der Welt bewusst zu werden, stellt allerdings für die Soziale Arbeit nur einen Zugang zur Wirklichkeit dar. Zugleich ist sie eine Handlungswissenschaft, deren Professionalität darin besteht, sich auf gesellschaftlich und professionell deklarierte Aufträge zu konzentrieren, die sie dann mit einer möglichst hohen Fachlichkeit ausführt. Gleichzeitig überschneidet sich das berufliche Helfen als „inszenierte Solidarität“ (Rauschenbach 1994) mit der ontologischen Eigenart des Menschen, anderen Menschen zu helfen. Inszenierte Solidarität ergänzt somit in der Moderne die natürliche Solidarität der kleinen Sozialverbünde von Familie, Dorf oder Zunft, wie sie in der Vormoderne beherrschend waren. Über den Gegenstand und die Funktion wird in Kapitel 2.3 ausführlicher zu sprechen sein. Wissenschaftstheoretisch wird die Soziale Arbeit derzeit von vielen Autoren / Autorinnen den Sozialwissenschaften zugeordnet (Engelke 2003, 59; Erath 2006, 39), genauer als angewandte Sozialwissenschaft und damit als eine Handlungswissenschaft verstanden (Staub-Bernasconi 2007). In der Tat spricht vieles dafür, diesen Handlungsbezug als eine Variante der wissenschaftslogischen Verortung Sozialer Arbeit zu begreifen. Eine andere mögliche Variante besteht darin, sie (wieder) näher an geisteswissenschaftliche Denklinien heranzuführen und damit dem „Verstehen“ eine ebenso gewichtige Bedeutung beizumessen wie dem „Handeln“. Auch wenn dies in verschiedenen Theorieansätzen, u. a. bei Staub-Bernasconi (2007), durchaus in Form einer Kompetenz zur Analyse sozialer Probleme und dem Verstehen subjektiver Bedeutungshorizonte davon betroffener Personen zum Ausdruck kommt, 24 Grundlagen der Sozialen Arbeit erscheint meines Erachtens die sinnstiftende Funktion der Sozialen Arbeit in einer durch Industrialisierung, Moderne und ihre jeweiligen Post-Varianten gefährdeten Gesellschaft von so großer Bedeutung, dass sie einer besonderen Explikation bedarf (Röh 2008). Handlungstheoretisch ausformuliert finden wir hierzu gute Ansätze bei Mührel (2005), der „Verstehen“ als etwas Ontologisches, ein stetiges „Erleiden und eine Widerfahrnis“ (84) begreift und gleichzeitig „Verstehen“ als eine notwendige Form des Zugangs zum anderen und damit auch zum Hilfesuchenden konzipiert – ohne indessen in eine reine Methodik, sprich Sozialtechnologie, zu verfallen. Gerade in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen, die vielfach einer Veränderung durch methodisches Handeln weniger zugänglich sind bzw. bei denen Lernprozesse viel langsamer verlaufen, bedarf es einer gekonnten verstehenden Haltung. Mit Marquard (2003) könnte man folgende Geschichtentypen für die geisteswissenschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit heranziehen: Sensibilisierungs-, Orientierungs- und Bewahrungsgeschichten liefern uns ein handlungstheoretisches Programm, entlang dessen wir Soziale Arbeit sowohl in ihrer sensibilisierenden, orientierenden als auch bewahrenden Funktion verstehen können. Für die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe ließe sich diese in analoger Form wie folgt beschreiben: ■ Sensibilisierungsgeschichten stünden hier für Strategien und Wege, die versuchen, die besondere Lebenssituation, die besondere Verletzlichkeit und den Anspruch auf eine menschenwürdige Begleitung und Assistenz von Menschen mit geistiger Behinderung zu verdeutlichen, sie zu benennen, der Öffentlichkeit zu präsentieren, und daraus Ansprüche auf einen humanen Umgang mit ihnen abzuleiten. ■ Orientierungsgeschichten würden uns weiterhin dabei helfen, die richtigen ethischen Entscheidungen in der Behindertenhilfe zu treffen, indem die Orientierungen offengelegt, diskutiert und damit fundiert werden, an denen wir alltäglich, professionell, aber auch politisch Handlungen bemessen können. ■ Bewahrungsgeschichten würden schließlich dazu dienen können, die moderne, vor allem im kapitalistischen Produktionssystem zu verzeichnende Dynamisierung des Alltagslebens durch die quasi kompensatorische Rückbesinnung auf weitere Werte (Muße, Rücksicht, Solidarität) abzufedern bzw. zu bremsen. Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit 25 Wie man also sieht, kann durch das Marquard’sche Geschichtenerzählen, aber auch Geschichtenerleben, also die biografische wie alltägliche Rekonstruktion der lebensweltlichen Geschehnisse, eine Orientierung erreicht werden, die weit über die wissenschaftliche und professionelle Expertise hinaus geht. Soziale Arbeit in der Tradition von Sozialpädagogik hat sich dabei schon immer einer gewissen Nähe zu geisteswissenschaftlichen Positionsbestimmungen erfreut, die sie fruchtbar vom naturwissenschaftlichen Weltverständnis abzugrenzen half (Winkler 1997). Meines Erachtens sollte sowohl der sozialpädagogische, in diesem Sinne hermeneutisch-geisteswissenschaftliche Zugang mit seinen Implikationen bzgl. der Erziehung und Bildung, als auch der sozialarbeiterische, in diesem Zusammenhang fürsorgerisch verstandene Zugang einer Existenzsicherung zu einem modernen Bild als „Soziale Arbeit“ vereint werden, wie Mühlum dies mit der Formel des „Subsumtionstheorems“ vorsieht (Mühlum 2001, 13). Übungen zu Kap. 2.2 3. Verständnisfrage: Wofür steht die Formel von einer „inszenierten Solidarität“? 4. Diskussions- / Reflexionsfrage: Welche Gründe sprechen dafür, Soziale Arbeit den Sozialwissenschaften und welche dafür, sie den Geisteswissenschaften zuzuordnen? & Engelke (2003): Die Wissenschaft Soziale Arbeit Niemeyer / Schröer / Böhnisch (Hrsg.) (1997): Grundlinien historischer Sozialpädagogik. Traditionsbezüge, Reflexionen und übergangene Sozialdiskurse 2.3 Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit Eine genaue Gegenstands- und Funktionsbestimmung hilft, den professionellen Rahmen für eine Soziale Arbeit festzulegen. Sie wird hier anhand einer integrativen Fassung Sozialer Arbeit als komplementärem Gebilde aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik vorgenommen, u. a.