Es gilt das gesprochene Wort Rede der Staatsministerin für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen in der Bayerischen Staatskanzlei Dr. Beate Merk, MdL, anlässlich einer Podiumsdiskussion der Hanns-Seidel-Stiftung am 08. Dezember 2015 in München Impulsreferat zum Thema: „Welchen Regeln folgt die Solidarität – die Identitätsprobe der europäischen Idee“ - Anrede Wer heute in Google die Begriffe „Solidarität“ und „Europa“ als Suchbegriffe eingibt, erhält 5.740.000 Einträge in weniger als einer Sekunde angezeigt. Die Solidarität ist ein großes Thema und das Jahr 2015 könnte das Jahr der Solidarität werden – im Positiven wie im Negativen: Überwältigende Solidarität der Bürgerinnen und Bürger mit den Flüchtlingen bei uns und in anderen Ländern auf der einen Seite. Die Komplettverweigerung solidarischen Verhaltens zwischen EU-Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. 2015 wird sicherlich das Jahr werden, in dem über Solidarität intensiv gestritten worden ist. -2Fakt ist: Die Gründerväter haben die Europäische Union und ihre Vorgängerorganisationen vor allem auf der Grundlage einer gegenseitigen Solidarität ihrer Mitgliedstaaten erschaffen. Schon in der Präambel des EU-Vertrags ist die Rede von dem "Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken". Und heute? Erst die Finanzkrise und nun die Flüchtlingskrise: Die gegenseitige Solidarität der EU-Mitgliedstaaten wird auf eine harte Probe gestellt. Lassen Sie es mich deutlich sagen: Die EU ist in ihren Grundfesten erschüttert. Es zeigt sich, dass für Viele die Solidarität nur ein Lippenbekenntnis, ein inhaltsleerer Programmsatz ist. Nationalismen, Alleingänge, Bruch des Rechts sind wieder an der Tagesordnung. Wir in Deutschland stehen im sprichwörtlichen Regen: Wir haben in diesem Jahr bis jetzt mehr als 1 Mio. Flüchtlinge registriert – die meisten sind über Bayern in unser Land eingereist. Wir stemmen nach wie vor die Hauptlast der Flüchtlingskrise in Europa. -3- Jetzt brauchen wir sie, die vielbeschworene Solidarität. Doch von vielen EU-Mitgliedstaaten kommt: Nichts! Meine Damen und Herren! Eines ist für mich glasklar: Wenn Deutschland keine Hilfe bekommt, wenn sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten weiter unsolidarisch zeigt und sich gegen eine gerechte Flüchtlingsverteilung in der EU sperrt, wird Europa scheitern. Dann werden wir zurückfallen in ein Europa der Kleinstaaterei und der nationalen Egoismen. Aber: Ein solches Europa können wir nicht wollen. So können und werden wir unsere hart erkämpften Werte wie Friede, Einheit und wirtschaftliche Stabilität nicht erhalten! Was wir brauchen ist ein Europa, das auf Augenhöhe mit den anderen Weltmächten wie den USA oder China agiert. Das Gewicht hat und Gehör findet in der Welt. Ein gemeinsames Europa ist eine geopolitische und realpolitische Notwendigkeit. Nur so können wir nationale Interessen der Mitgliedstaaten wirksam durchsetzen. -4Ein einfaches Zahlenbeispiel verdeutlicht dies: 1946 lebten auf der Welt rund 2,5 Milliarden Menschen. 500 Millionen, also ein Fünftel davon, waren Europäer. Heute hat Europa nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung. Ein europäischer Nationalstaat allein hat noch weniger Gewicht. Diese Wucht der Zahlen ist nichts anderes als ein Appell an den gesunden Menschenverstand! Deshalb gilt gerade jetzt: Europa muss sich beweisen – als starke und handlungsfähige Gemeinschaft. Europa braucht ein klares Bekenntnis zur Werte- und Solidargemeinschaft. Dabei liegen mir drei Dinge am Herzen: Erstens: Europa braucht mehr Gemeinschaftsgeist und weniger nationalen Egoismus. Wir brauchen endlich eine gerechte Flüchtlingsverteilung in der EU, ein klares Signal, dass Deutschland auf Dauer entlastet wird. Ich sage deutlich: Alle EU-Staaten müssen liefern. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer Solidarität in der EU-Regionalpolitik, in der Staatsschuldenkrise oder im Ukrainekonflikt ein- -5fordert, wer von Subventionen der Gemeinschaft profitiert, – der darf sich in der Flüchtlingsfrage nicht hinter seiner Zugbrücke verschanzen. Solidarität gilt nicht nur bei der Verteilung von Fördermitteln, sondern auch bei der Verteilung von Lasten! Zweitens: Wir müssen der Erosion des Rechts in Europa Einhalt gebieten. Ob Griechenlandkrise oder Flüchtlingsströme: Europa kann die Herausforderungen unserer Zeit nur bewältigen, wenn sich alle Mitglieder an Recht und Verträge halten. Hier muss sich im Übrigen auch die Bundesregierung an die eigene Nase fassen! Schengen und Dublin müssen wieder gelten – das haben wir in Bayern immer klar gemacht. Vereinbarungen von heute müssen auch morgen noch zählen. Wenn alle Mitgliedstaaten sich aufeinander verlassen können, funktioniert die EU als Gemeinschaft. Recht und Ordnung sind die fundamentalen Voraussetzungen für europäische Solidarität. -6Drittens: Subsidiarität und Eigenverantwortung setzen funktionierende nationale Strukturen voraus. Europa ist nur so handlungsfähig, wie es die nationalen Strukturen der Mitgliedsstaaten zulassen. Europa braucht einheitliche Standards und vergleichbare Strukturen von Staat und Verwaltung, sonst machen gemeinsame Regelungen keinen Sinn. Nach wie vor sind z. B. Griechenland und Schweden in ihren staatlichen Strukturen nicht vergleichbar. Hier müssen wir in Europa noch nacharbeiten. Ansonsten werden die zentrifugalen Kräfte weiter zunehmen. Meine Damen und Herren! Die europäische Idee bleibt die genialste Idee in der Geschichte unseres Kontinents. Es liegt an uns allen, für diese Erfolgsgeschichte von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu arbeiten. Noch ist es nicht zu spät! Ich sage: Wir schaffen das, wenn alle Mitgliedstaaten zusammenstehen und es zulassen! -7Liebe Ursula, sehr geehrte Frau Professor Männle, Du hast immer für dieses Bekenntnis gearbeitet – als Europapolitikerin im Landtag, im Vorstand der Europäischen Bewegung und nun mit der HannsSeidel-Stiftung. Ich danke Dir und Deinen Mitarbeitern herzlich für die Diskussionsveranstaltung und freue mich auf den Austausch mit meinen Mitdiskutanten.