Politischer Hintergrundbericht - Hanns-Seidel

Werbung
Politischer Hintergrundbericht
Projektland:
Tunesien
Datum:
20. Oktober 2014
Tunesien vor entscheidenden Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen
In wenigen Tagen sind 7,8 Millionen Wahlberechtigte in Tunesien aufgerufen, über die
Zukunft ihres Landes zu bestimmen. Am 26. Oktober 2014 werden sie ihre Stimmen
zur Wahl des neuen Parlaments abgeben. Am 23. November 2014 folgt die
Präsidentschaftswahl. Das Votum des tunesischen Volkes knapp vier Jahre nach der
Revolution im Januar 2011 markiert das Ende der Übergangsperiode. Ein neues
Kapitel in der tunesischen Geschichte soll aufgeschlagen werden: Die Zweite
tunesische Republik. Statt Hoffnung und Zuversicht breitet sich jedoch das Gefühl von
Desillusionierung und Enttäuschung im Volk aus.
Nach der offiziellen Eröffnung des Wahlkampfes durch die Unabhängige Nationale
Wahlkommission (Instance Supérieure Indépendante pour les Elections, ISIE) am 04.
Oktober 2014 gibt es keinen Grund mehr, an der Durchführung der Wahlen in
Tunesien zu zweifeln. Damit wird eine Kernforderung der Anfang 2014
verabschiedeten tunesischen Verfassung erfüllt. Das auf dieser Verfassung basierende
Wahlgesetz sieht Parlamentswahlen nach dem Verhältniswahlrecht und
Präsidentschaftswahlen nach dem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen vor.
Von den 7.8 Millionen Wahlberechtigten im In- und Ausland registrierten sich für die
Wahlen bis zum 26. August 2014 knapp 67 % und damit 12 % mehr als vor den
Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung (Assemblée Nationale
Constituante, ANC) im Jahr 2011. Damals bestand allerdings die Besonderheit, dass
sich Wähler noch am Tag der Wahlen unter Vorlage ihres Personalausweises
registrieren lassen und somit wählen konnten. Diese Möglichkeit existiert bei den
bevorstehenden Wahlen nicht mehr.
Besonderheiten im Wahlgesetz
Das aktive Wahlrecht bei den Parlamentswahlen steht allen Tunesierinnen und
Tunesiern zu, die das 18. Lebensjahr (Art. 5) vollendet haben und bei denen keine
schwerwiegenden Straftaten (Art.6) vorliegen. Angehörige der Sicherheitsorgane und
der Armee sind von den Wahlen ausgeschlossen (Art.6) und können sich grundsätzlich
nicht als Kandidaten aufstellen lassen (Art.20). Über das passive Wahlrecht verfügen
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
1
alle über 23-jährigen, die seit mindestens 10 Jahren die tunesische Staatsbürgerschaft
besitzen und nicht wegen schwerwiegender Straftaten (Art. 19) verurteilt sind.
Bezüglich der Kandidaten gibt es ebenfalls einige nennenswerte Regelungen. So
schreibt das Wahlgesetz vor, dass die Parteien zur Gewährleistung der
Geschlechterparität auf den Wahllisten ebenso viele weibliche wie männliche
Kandidaten aufstellen müssen. Nicht durchsetzen konnte sich hingegen der Vorschlag,
dass die Parität auch den Listenplatz einbezieht. Es ist daher wenig verwunderlich,
dass nahezu alle Wahllisten von einem männlichen Kandidaten angeführt werden.
Nichtsdestotrotz gilt die Berücksichtigung des paritätischen Verhältnisses in den
Wahllisten als Novum in der arabischen Welt und ist Ausdruck einer stärker
werdenden Präsenz der tunesischen Frau im öffentlichen politischen Leben.
Mit Blick auf die Präsidentschaftswahl sieht das Wahlgesetz einige Einschränkungen
vor. Es können sich nur Kandidaten zur Wahl aufstellen lassen, die in Tunesien
geboren wurden und muslimischen Glaubens sind. Die Kandidaten dürfen nicht jünger
als 35 Jahre sein (Art. 40). Die ursprünglich geplante Einführung eines Höchstalters für
den Präsidentschaftskandidaten konnte sich nicht durchsetzen. Gleiches gilt für den
Vorschlag, frühere Eliten des gestürzten Präsidenten Ben Ali von der Kandidatur
auszuschließen. Beide Vorschläge wurden in der Verfassung vom Januar 2014 nicht
berücksichtigt.
Viele Parteien, viele Listen, wenig Transparenz
Laut Angaben der ISIE wurden für die 33 tunesischen Wahldistrikte (27 im Inland, 6
im Ausland) über 1.300 Wahllisten mit 15.652 Kandidaten eingereicht. Davon
entfallen 807 auf politische Parteien, 134 auf Wahlbündnisse und 441 auf
Unabhängige. Dementsprechend bewerben sich auf jeden der insgesamt 217 Sitze im
tunesischen Parlament im Durchschnitt mehr als 72 Kandidaten. Für die
Präsidentschaftswahlen hat die ISIE von den insgesamt 70 eingereichten
Kandidaturen 27 Kandidaten zugelassen. Einzige weibliche Präsidentschaftskandidatin ist Kalthoum Kennou. Sie zählt zu den langjährigen Kooperationspartnern
der Hanns-Seidel-Stiftung und ist die ehemalige Präsidentin der tunesischen
Richtervereinigung AMT (Association des Magistrats Tunisiens).
Die Vielzahl der Wahllisten und Kandidaten überfordert die Wähler. Diese
konzentrieren sich daher auf die Wahlkampfauftritte der Parteienvertreter im
öffentlichen Leben und in den Medien. Viele Wähler bleiben indes bis zum Wahltag
unentschieden. Um ein wenig Licht in die Parteien- und Listenlandschaft hinein zu
bringen, lancierten tunesische Aktivisten und Rechtsexperten ein Projekt unter dem
Namen Ikhtiar Tounes (Wahl Tunesien). Dieses unter anderen von der Deutschen
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützte Projekt ist eine
Internetplattform zur Vorbereitung auf die Wahlen. In enger Anlehnung an den in
Deutschland seit 2002 existierenden Wahl-O-Mat sollen die Wähler zu insgesamt 30
Thesen Position beziehen. Sie erhalten abschließend mehrere Diagramme mit
Angaben, die zeigen sollen, welche Partei am ehesten ihnen passen würde. Damit soll
die Suche nach der richtigen Partei erleichtert werden. Trotz der noblen Absicht der
Urheber und Unterstützer dieses Projektes stieß es in der tunesischen Presse teilweise
auf Kritik. Die kritischen Stimmen bezeichnen die Unterstützung dieses Projekts durch
die GIZ als ungerechtfertigte Einmischung der „deutschen Freunde“ in die tunesischen
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
2
Wahlen. Größter Kritikpunkt ist vor allem der Umstand, dass nicht alle Parteien auf der
Homepage vorgestellt werden.
Beeinflussung des Wahlverhaltens durch Umfragen verboten
22 Tage vor dem Wahltag (Art. 50) beginnt der Wahlkampf, so setzt es das Wahlgesetz
fest. Ab diesem Zeitpunkt (04. Oktober 2014) dürfen Umfragen zum möglichen
Wahlausgang nicht mehr veröffentlich werden.
Dennoch erscheinen gelegentlich inoffizielle Umfragewerte, die öffentlich diskutiert
werden. Vielen dieser Umfragen zufolge werden die zwei großen Parteien bei den
Parlamentswahlen die meisten Stimmen auf sich vereinigen. Zum einen die laizistischnationalistisch orientierte Partei Nidaa Tounes unter dem Vorsitz des ehemaligen
Premierministers Béji Caid Essebsi, der trotz seiner Verbundenheit mit dem Regime
von Ex-Präsident Ben Ali über Parteigrenzen hinaus anerkannt und geschätzt wird.
Zum anderen die islamisch-konservative Partei Ennadha unter der Führung von Rachid
Ghannouchi, die aus den letzten Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im
Jahr 2011 als Siegerin hervorging.
Die inoffiziellen Umfragen prognostizieren auch einige Überraschungen. Besonders
erwähnenswert ist die 2011 gegründete Partei „Freie Patriotische Union“ (Union
Patriote Libre) von Slim Riahi, einem wohlhabenden tunesischen Geschäftsmann, der
2011 aus Libyen zurückgekehrt ist. Seine Partei sehen die Umfragen auf Platz drei
hinter Nidaa Tounes und Ennadha. Der Partei, die für eine moderne Marktwirtschaft
und liberale Werte steht, wird immer wieder vorgeworfen, Wählerstimmen zu kaufen.
Unter den anderen Parteien, die sich anhand der Umfragewerte Hoffnung auf mehr als
5 % der Wählerstimmen machen, ist auch die Partei Congrès de la République (CPR),
mit dem amtierenden Staatspräsidenten Moncef Marzouki als Vorsitzendem. Die CPR
wurde bei den Wahlen 2011 zweitstärkste Partei. Daneben kämpfen die liberal
orientierte Partei Forum Démocratique pour le Travail et les Libertés (ETTAKATOL),
deren Vorsitzender ANC-Chef Mustapha Ben Jaafar ist, sowie die Parti Démocratique
Progressiste (PDP) ebenfalls um die Wählergunst. Von den links gerichteten Parteien
gehört das Bündnis Front populaire zu den stärksten Konkurrenten für die beiden
großen Parteien Nidaa Tounes und Ennahdha.
Die Wahlkampfthemen
Den Wahlkampf beherrschende Themen sind vor allem die desolate, sich
kontinuierlich zuspitzende wirtschaftliche Lage, die steigende Armut und die hohe
Arbeitslosigkeit, die seit den Umbrüchen im Jahr 2011 andauert. Die Arbeitslosenrate
liegt bei offiziell 15,2 %. Die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 30 %. Die Dunkelziffer
dürfte deutlich darüber liegen. Zahlreiche junge Akademiker sehen derzeit kaum
Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lage. Das Wirtschaftswachstum für 2014 wurde
von der Zentralbank auf lediglich 2,5 % geschätzt, 2012 waren es noch 4,1 %.
Fehlende Investitionen und die ständige Abwertung des tunesischen Dinars führen
dazu, dass sich die Wirtschaft nicht erholt. Das staatliche Defizit betrug im Jahr 2013
etwa 3,3 Milliarden Euro. Ein großes Problem ist außerdem der starke Einbruch der
Tourismusbranche, der seit der Revolution vom 14. Januar 2011 andauert. Die
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
3
Branche erwirtschaftet über 7 % des Bruttoinlandsproduktes und ein Fünftel der
Deviseneinnahmen für Tunesien.
Erstaunlicherweise präsentiert keine der Parteien in ihrem Wahlprogramm realistische
Projekte, um den wirtschaftlichen Herausforderungen im Land zu begegnen. Sie alle
begnügen sich stattdessen mit Allgemeinplätzen und nicht realisierbaren Versprechen,
wie einem erheblichen Anstieg des Prokopfeinkommens oder der Vollbeschäftigung
aller Bürgerinnen und Bürger innerhalb der kommenden Legislaturperiode.
Prognosen, Koalitionen, Szenarien
Prognosen über den Ausgang der Wahlen sind derzeit nicht möglich. Es scheint jedoch,
dass die Ennahdha ihren Stimmanteil von 2011 nicht halten könne (37 %). Auf der
anderen Seite kann gewiss davon ausgegangen werden, dass erhebliche
Stimmeinbußen für die Ennadha ihr Verschwinden von der politischen Bühne in
Tunesien bedeuten könnten.
Ein mögliches Szenario könnte wie folgt aussehen: Gewinnt die laizistischnationalistische Nidaa Tounes die Wahl mit absoluter Mehrheit, so kann nicht
ausgeschlossen werden, dass die Ennahdha-Bewegung das gleiche Schicksal ereilt, wie
ihre Schwesterpartei in Ägypten, welche nach dem Umsturz 2013 verboten wurde.
Die laizistisch-nationalistischen und liberalen Parteien im Land könnten sich zu einer
Front gegen die Ennahdha zusammenschließen, um sie gesellschaftspolitisch zu
marginalisieren. Der Vorwurf könnte ähnlich lauten wie in Ägypten: Ennahdha trage
die alleinige Verantwortung für die desolate politische, wirtschaftliche und soziale
Lage im Land und unterstütze terroristische Organisationen. Begünstigt würde dieses
Vorhaben durch die unumwundene Unterstützung aus Ägypten, das den
grenzüberschreitenden Versuch verfolgt, eine Kampagne zum generellen Verbot der
Muslimbruderschaft zu lancieren.
Ein weiteres Szenario: Liegen die Ergebnisse der beiden großen Parteien nahe
beieinander – womöglich zwischen 20 und 30 Prozent – ist die Wahrscheinlichkeit
groß, dass es zur Bildung einer „großen Koalition“ kommt. Eine Option, die zumindest
für den sozialen Frieden und die innere Sicherheit im Land mittelfristig die beste zu
sein scheint. Das öffentliche Leben in Tunesien darf nicht zusätzlich durch interne
gesellschaftliche Grabenkämpfe belastet werden. Grabenkämpfe, die womöglich
extern gesteuert würden und die innere Sicherheit rasch bedrohen könnten sowie das
Land tiefer in die wirtschaftliche Misere stürzen ließen.
Ein sicheres Tunesien ist gerade angesichts der immensen wirtschaftlichen
Herausforderungen eine Voraussetzung, um bedeutende Investitionen ins Land zu
holen und die Tourismusbranche wieder zu beleben. Bereits die Sicherung der
Außengrenzen bringt Tunesien aufgrund seiner Lage zwischen Algerien im Westen und
Libyen im Osten deutlich an seine Belastungsgrenze. Die Überwachung und Sicherung
der Grenzregionen, um den vorherrschenden Waffenschmuggel zu unterbinden und
terroristische Angriffe abzuwenden, stellt seit Monaten eine große Herausforderung für
Militär und Grenzpolizei dar. Die terroristischen Angriffe der vergangenen Monate auf
tunesische Sicherheitskräfte am Berg Chaambi beispielsweise, dem Grenzgebiet zu
Algerien, haben gezeigt, welche Gefahren und Sicherheitsrisiken dort existieren.
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
4
Das Wahlvolk, desinteressiert, aber gespannt
Die Menschen in Tunesien sehnen sich im vierten Jahr der Transformation vor allem
nach wirtschaftlicher Stabilität. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die ständig
steigenden Lebenshaltungskosten beschäftigen die Menschen in ihrem Alltag am
meisten.
Bis auf einige wenige Aktivisten und politisch engagierte Jugendliche steht ein Großteil
der jungen Bevölkerung der Politik und den dort handelnden Akteuren relativ
gleichgültig gegenüber. Die allen Parteien gemeinsame Herausforderung vor den
Wahlen besteht nun darin, die Wähler trotz der im Volk weit verbreiteten
Politikverdrossenheit zu mobilisieren und zur Stimmabgabe zu bewegen. Das
Argument, es handele sich bei den anstehenden Wahlen um die ersten freien und
regulären Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit der Unabhängigkeit im Jahr
1956, scheint keine ausreichende Motivation darzustellen.
Zwar hat es die mit der Organisation und Durchführung der Wahlen befasste
Unabhängige Nationale Wahlkommission ISIE (Instance Supérieure Indépendante
pour les Elections) geschafft, die Wahlberechtigten im Juni über eine landesweite
Sensibilisierungskampagne zur Registrierung zu mobilisieren. Eine Garantie für den
Gang zur Wahlurne ist dies jedoch nicht. Selbst die Registrierung der Wähler ging trotz
der Möglichkeit, sich über das Internet oder per SMS einzuschreiben, anfänglich nur
schleppend voran. Die ursprünglich festgelegte Registrierungsfrist vom 23. Juni bis 23.
Juli 2014 wurde schließlich bis in den August hinein verlängert.
Gleichgültigkeit und politisches Desinteresse sind das Resultat unerfüllter Träume,
welche mit der Revolution geweckt wurden und bisher nicht einmal im Ansatz
umgesetzt werden konnten. Die Politik sieht sich mit einer Verdrossenheit im Volk
konfrontiert, die schnell vergessen lässt, das der Keim des Aktivismus und der
Rebellion in der gesamten arabischen Welt seinen Anfang in Tunesien nahm. Dieses
politische Desinteresse im Land wird sich aller Voraussicht nach auch auf die
Wahlbeteiligung auswirken.
Doch so sehr das junge Wahlvolk den Politikern die kalte Schulter zeigt, so sehr wird
es dennoch gespannt den Ausgang der Wahlen verfolgen – entscheidet sich doch in
diesen, welche grundsätzliche Gestalt Tunesien in Zukunft annehmen wird. Nicht
explizit ausgesprochen, aber von allen Tunesiern gedacht, handelt es sich bei dieser
Wahl nämlich um eine Entscheidung, die weitreichende Folgen für Staat, Politik und
Gesellschaft in Tunesien haben könnte. Denn das Ergebnis der Wahl kann auch
erhebliche sozio- und sicherheitspolitische Folgen zeitigen. Sozio-politisch wird bei
dieser Wahl entschieden, ob das islamisch-konservative oder das laizistischnationalistische Verständnis von Staat und Gesellschaft zukünftig für das Land
prägend sein wird oder ob beide weiterhin „gleichberechtigt“ nebeneinander bestehen
dürfen. Sicherheitspolitische Relevanz gewinnt das Ergebnis der Wahlen im Falle eines
deutlichen Sieges der konservativ-islamischen Partei Ennahdha. Die Ennahdha wird
zudem als ein Ableger der Muslimbruderschaft angesehen, jener Bewegung, die
inzwischen in vielen arabischen Ländern, allen voran Ägypten, verboten worden ist.
Innenpolitisch wären bei einem Wahlsieg der Ennahdha der soziale Friede und die
gesellschaftliche Inklusion gefährdet, weil sich die Gräben zwischen der islamischen
und der laizistischen Strömung in der Gesellschaft noch deutlicher zeigen würden.
Außenpolitisch betrachtet würde ein solches Ergebnis die falschen Signale an die
Nachbarn in Nordafrika aussenden, welche zurzeit darum bemüht sind, den
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
5
Einflussbereich der Muslimbrüder einzudämmen, beziehungsweise gänzlich
auszuschalten. Die Ennahdha-Partei mit Rached Ghannouchi an der Spitze ist sich
dieser innen- und außenpolitischen Sprengkraft eines potenziellen Wahlsieges
bewusst. Sie wird daher nicht müde, im Wahlkampf zu betonen, dass sie – unabhängig
vom Wahlergebnis – eine Regierung des Konsenses, sprich der Koalition mit anderen
etablierten Parteien, anstrebe. Béji Caid Essebsi, der Spitzenkandidat von Nidaa
Tounes, schickt ebenfalls versöhnliche Töne in Richtung seiner Gegner aus dem
islamischen Ennahdha-Lager. Auch er sei zu Koalitionsverhandlungen mit der Ennadha
bereit. Beide Parteien lassen sich dennoch die Option offen, auch mit kleineren
Parteien zu koalieren und die unterlegene Partei auf die Oppositionsbank zu schicken.
Die Gründe für diese ausgesprochene Koalitionsbereitschaft liegen zum einen in der
Angst vor der Bewältigung der nahezu unlösbaren Probleme auf wirtschaftlicher und
sozialer Ebene. Zum anderen ist die politische Inklusion das denkbar erfolgreichste
Modell für die Zeit der Transformation in Tunesien.
Hoffen, aber nicht aktiv gestalten
Viele Tunesier hoffen abseits ihres Desinteresses an der Wahl, dass die
Wahlergebnisse eine Konstellation hervorbringen werden, welche zur Bildung einer
„großen Koalition“ oder einer Koalition der Nationalen Einheit führen könnte. Nur so
können der soziale Friede und die innere Sicherheit im Land nachhaltig stabilisiert
werden. Die Idee, dass das Wahlvolk es selbst in der Hand hat, die Zukunft des Landes
aktiv zu gestalten, scheint keine große Rolle zu spielen.
Wer mag es den Tunesierinnen und Tunesiern verübeln? Schließlich haben sie in ihrem
Alltag mit anderen Sorgen zu kämpfen, als mit Ideologien und Wahlkampfpropaganda.
Im Fall Tunesien bestätigt sich kurz vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
die These, dass demokratische Reife und aktive Partizipation nur dann sichtbar
werden, wenn sie mit wirtschaftlicher Prosperität einhergehen. Abwarten und Tee
trinken, wie es die meisten – vor allem männlichen Jugendlichen – derzeit in den
Stadt- und Dorfcafés tun: Dieses Prinzip zeigt, wie tief die Resignation im Volk
verbreitet ist.
Die internationale Staatengemeinschaft, allen voran Europa, ist aufgerufen, die einzig
verbliebene demokratische Knospe des sogenannten Arabischen Frühlings vor dem
Verfall zu retten. Eine weitere Destabilisierung der wirtschaftlichen Lage könnte die
Knospe Tunesien noch vor ihrer Blüte verwelken lassen. Der demokratische
Reifungsprozess muss mit einer Sicherung der Würde der Menschen im Land
einhergehen. Schließlich stand die Revolution unter dem Motto der Wiedererlangung
der verlorenen Würde. Diese hat auch eine wirtschaftliche Dimension, welche die
Menschen hier schmerzlich vermissen: Sie sehnen sich nach Arbeit, nach der
Möglichkeit, ihren Beitrag zum Aufbau des neuen Tunesiens zu leisten. Sie möchten
das Gefühl haben, gebraucht zu werden und vor allem möchten sie sich ihr
Existenzminimum sichern. Ihre Würde ist nur dann vollkommen geschützt und wieder
erlangt, wenn Menschen nicht in die missliche Lage geraten, sich zur Sicherung ihrer
Grundbedürfnisse, zum Objekt erniedrigen lassen zu müssen.
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
6
Dr. Said AlDailami
Der Autor ist Auslandsmitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis.
Der Beitrag wurde erstellt unter Mitarbeit von Antje Skrzypczak
(Projektassistentin).
IMPRESSUM
Erstellt: 20. Oktober 2014
Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2014
Lazarettstr. 33, 80636 München
Vorsitzende: Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D.,
Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf
Verantwortlich: Dr. Susanne Luther, Leiterin des Instituts für Internationale Zusammenarbeit
Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359
E-Mail: [email protected], www.hss.de
Hanns-Seidel-Stiftung, Politischer Hintergrundbericht_Tunesien_20. Oktober 2014
7
Herunterladen