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Zitierhinweis
Marc Junge über: David R. Shearer: Policing Stalin’s Socialism.
Repression and Social Order in the Soviet Union, 1924–1953. New
Haven, London: Yale University Press, 2009. XIV, 507 S., 17 Abb. =
The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War.
ISBN: 978-0-300-14925-8.
First published: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas /
jgo.e-reviews, jgo.e-reviews 2011, 2
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Ausgabe: jgo.e-reviews 2011, 2
Verfasst von: Marc Junge
David R. Shearer: Policing Stalin’s Socialism. Repression and
Social Order in the Soviet Union, 1924–1953. New Haven, London:
Yale University Press, 2009. XIV, 507 S., 17 Abb. = The YaleHoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN:
978-0-300-14925-8.
Der amerikanische Soziologe und Historiker David Shearer verlässt
bereits seit einigen Jahren mit zahlreichen klugen Artikeln die
traditionellen Pfade der Analyse des großen Mordens und Wegsperrens
in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Er betrachtet nicht mehr länger
nur die politischen Verfolgungen, sondern wandte sich der sozialen
Kontrolle und ‚Säuberung‘ der Gesellschaft mit Hilfe von Miliz und
politischer Polizei zu. Das nun vorgelegte Buch ist die Quintessenz seiner
bisherigen Arbeiten, geht aber in weiten Teilen darüber hinaus.
Besonders zu betonen ist die Einbindung in ein innovatives
Gesamtkonzept. Ausgangspunkt sind kultur-, modernisierungs- und
ideologietheoretische Ansätze zur Erklärung der überbordenden Gewalt
des Stalinismus. Sie werden provokativ, aber treffend als letzte Ausläufer
der Totalitarismustheorie beschrieben, da sie unspezifisch und historisch
schwach an Ort und Zeit gebunden sind. Shearer selbst gesteht
einerseits durchaus zu, dass die „stalinistischen Führer“ Gewalt und
Repression zur Durchsetzung revolutionärer Ziele einsetzten.
Andererseits bemüht er sich, die wachsende Gewalt historisch
einzuordnen, indem er sie als Reaktion auf eine Abfolge von Krisen
charakterisiert. Begonnen habe es mit der Kollektivierung, die als
staatlich angestoßener „revolutionärer Krieg“ verstanden worden und
die zum Erstaunen der Führer in einen langwierigen „sozialen Krieg“
mutiert sei. In Kombination mit der dann am Ende des Jahrzehnts
aufgetretenen Kriegsgefahr sei es schließlich zu den bekannten
„Reaktionen mit Mitteln des Kriegsrechts“ gekommen. Originell ist an
dieser Argumentation die starke Betonung der sozialen Komponente des
Bedrohungsszenarios (S. 16–17).
Shearer treibt seine Hauptthese so weit, dass er den Versuch des
stalinistischen Regimes, die soziale Kontrolle über die sowjetische
Gesellschaft zu erlangen, für vorrangiger und durchdringender hält als
die politische Repression. Um in einzelnen Schritten zu erklären, warum
es zu dieser Schwerpunktverlagerung kam, lenkt der Autor gleich im
ersten Kapitel den Blick auf die Zeit zwischen der Kollektivierung der
Landwirtschaft Anfang der dreißiger Jahre und dem Großen Terror 1937–
1938. Zunächst widerspricht er der in der Forschung üblichen
Bezeichnung dieser Periode als Ruhephase. Durch die programmatische
Rede Stalins auf der Plenarsitzung des ZK 1933 sei als Reaktion auf die
unvorhergesehenen Folgen der Kollektivierung und Industrialisierung
nicht nur eine Intensivierung, sondern eine neue Form des
Klassenkampfes diagnostiziert worden. Kennzeichnend für den
Klassenfeind und konterrevolutionäres Verbrechen waren nicht länger
politische und ideologische Opposition, sondern ökonomische
Kriminalität (z.B. Spekulation, Korruption und Diebstahl von
Staatseigentum), soziale Devianz (z.B. Hooliganismus und das
Herumstreichen obdachloser und unbeaufsichtigter Kinder) und das
Bandenwesen. Sie galten nun als die größte Bedrohung für die politische
Sicherheit des Staates, seiner ökonomischen Stabilität und
sozialistischen Ordnung. Die ideologische Reinterpretation von Devianz
und sozialem und ökonomischem Chaos oder, anders gesagt, die
Politisierung von Kriminalität, ging einher mit der administrativen und
operativen Unterordnung der zivilen Polizei (Miliz) unter die politische
Polizei. Die Miliz wurde umstrukturiert bzw. militarisiert, aufgerüstet,
aufgestockt und professionalisiert. Umgekehrt wurde die politische
Polizei mit in die soziale Kontrolle der Gesellschaft einbezogen.
Gleichzeitig wurde die gesamte Polizei durch die Einführung des
Passsystems, der Wohnsitzgesetze und die Durchführung direkter
sozialer Verfolgung, etwa im Rahmen der Miliztrojka und der ethnischen
und sozialen Grenzzonenbereinigungen, mit der Aufgabe betraut, zu
definieren, wer als „sozial nah“ oder „sozial fremd“ einzustufen war.
Besonders in den Städten, im Eisenbahnwesen und in den Grenzgebieten
wurde damit die massenhafte soziale Kontrolle und Repression, oft mit
Hilfe administrativer, außergerichtlicher Methoden, systematisiert und
zwar im Sinne von „social“ und „geographic engineering“. Schließlich
wurden Polizeirepressionen und staatliche Gewalt zu einer Form von
„social governance“, zu einem konstitutiven Element des Staates, dessen
herausragendstes Kennzeichen schon Mitte der dreißiger Jahre die
massenhaften Verfolgungen nach Kategorien und Kontingenten waren,
von Shearer als „kategorischer Imperativ“ bezeichnet. Weitere
Unterschiede zum Anfang der dreißiger Jahre bestanden darin, dass ein
Wechsel von einer Politik der revolutionären Ausweitung der Staatsmacht
zu ihrer Absicherung stattfand und Kontrolle über soziale Gewalt nicht
mehr dezentralisiert und öffentlich, sondern zentral und bürokratisch
und „absolut geheim“ vor sich ging. Nicht zuletzt änderte sich neben der
Funktion des gewaltsamen staatlichen Zugriffs auch dessen Ort. Anfang
der dreißiger Jahre war das Dorf am meisten betroffen, Mitte der
dreißiger Jahre waren es dagegen die Städte, und erst 1937–1938 lag der
Fokus wieder auf dem Dorf (S. 12–13).
Die Schwerpunktverlagerung der Führung auf soziale Kontrolle und
Repression sei jedoch nicht nur eine „diskursive Wende“ (discursive turn)
gewesen, sondern eine bewusste Reaktion auf eine sehr reale Gefahr. Der
Autor spricht bezüglich der Folgen der Kollektivierung und
Industrialisierung sogar von einem „sozialen Krieg“ (S. 5) und von
sozialer Unordnung „biblischen Ausmaßes“. Das Gerichtswesen sei damit
völlig überfordert gewesen. Auch die zivile und politische Polizei sah sich
personell und strukturell letztendlich nicht in der Lage, das politische
und ökonomische Versagen der Entscheidungsträger zu richten (S. 15).
Als Beleg führt Shearer den anschaulich präsentierten, sehr bewegten
Lebensweg des „Kriminellen“ Kiril Korenev an, der lange Jahre durch das
löchrige Netz des Polizeisystems schlüpfen konnte (S. 371–404).
Den End- und Kulminationspunkt des Wechselverhältnisses zwischen
diskursiver Wende und den Umständen bzw. der widerständigen Realität
bildeten dann die massenhaften Verfolgungen 1937–1938, deren Ziel es
gewesen sei, das Land „ein für alle mal“ von sozial gefährlicher
Bevölkerung zu befreien. Hier trennt Shearer in Abgrenzung zu den
Vorgängen Mitte der dreißiger Jahre etwas zu kategorisch und
dichotomisch zwischen der institutionellen Verfolgung der Eliten, die auf
der Grundlage selektiver individueller Kriterien beruht habe, und den
massenhaften Repressionen nach Kategorien, die der sozialen
Prophylaxe dienen sollten (S. 14). Der Zeitpunkt und das Level der nun
auch für stalinistische Verhältnisse extremen Gewalt sei – und damit
schließt sich der Kreis – letztendlich durch die Kriegsgefahr bestimmt
worden.
Am Ende fragt man sich dennoch, wieso Shearer seiner Konzeption als
Dach die Kriegsgefahr überstülpt, zumal diese Argumentation empirisch
nur schwach belegt ist. Es entsteht der Eindruck, dass er damit vor
seinen eigenen umwälzenden Ergebnissen zurückschreckt. Wird mit
dieser Argumentation nicht eine verständliche, aber unzulässige
Rationalisierung oder gar Verharmlosung und Rechtfertigung der
Massenverfolgungen durch außenpolitische Gegebenheiten
vorgenommen? Neue Materialien aus der Ukraine und Georgien legen
nahe, dass die „große und mutige politische Idee der
Generalsäuberungen“ (Nikolaj Bucharin), ganz im Sinne Shearers, darin
zu sehen ist, alle aufgestauten sozialen und ökonomischen Probleme auf
einmal, schnell und möglichst für immer zu lösen und damit das
Experiment der Entkulakisierung zu einem erfolgreichen und
unumkehrbaren Ende zu bringen. Reicht es also nicht, die
Repressionstätigkeit der „Kulakentrojka“ und der Miliztrojka als
Höhepunkt innenpolitischer Fehlentwicklungen und als Versuch, der
Probleme mit aller Gewalt und völlig skrupellos Herr zu werden, zu
interpretieren? Lediglich bei den „Nationalen Operationen“ (gegen
Polen, Deutsche, Griechen usw.) und bei der Verfolgung der Eliten wird
man nicht ausschließen können, dass die Kriegsgefahr eine zentrale Rolle
gespielt hat. Wurde die Kriegsgefahr wie schon Ende der zwanziger
Jahre nicht auch im Sommer 1937 nur vorgeschoben, um innenpolitische
Maßnahmen durchzusetzen und zu legitimieren? Hat die wachsende
Wahrnehmung der Kriegsgefahr Anfang 1938 nicht möglicherweise sogar
mit dazu beigetragen, den Großen Terror abzubrechen, zumal die soziale
Repression zugunsten politischer Repression ab Januar deutlich
zurückgefahren wurde? Die auch von den Führern und Eliten der
Sowjetunion immer wieder beschworene Kriegsgefahr als Motiv für die
„Große Säuberung“ anzunehmen, ist deshalb so verführerisch, weil sie
einem bisher scheinbar unverständlichen Vorgehen gegen die eigene
Bevölkerung einen grundsätzlich plausiblen Sinn, eine Rechtfertigung, ja
einen „Überbau“ zu geben scheint, sieht man von den spezifisch
stalinistischen Formen des Vorgehens einmal ab. Zu fragen ist jedoch, ob
nicht das instrumentelle und propagandistische Konstrukt der äußeren
Bedrohung so sehr im Vordergrund stand, dass es die Fähigkeit des
Regimes zur Wahrnehmung der realen Kriegsgefahr 1939/1941 auf
existenzbedrohende Weise beeinträchtigt hat. Und nicht nur das: Auch
den Historikerinnen und Historikern wurde der Blick für die tiefer
liegenden Ziele des äußerst massiven und absolut rücksichtslosen
Umgangs der sowjetischen Führung mit der eigenen Bevölkerung
verstellt.
Auch wenn Shearer die Kriegsgefahr wohl zu sehr in den Vordergrund
stellt, ist sein Buch bahnbrechend und das Beste, was über den
Stalinismus im letzten Jahrzehnt erschienen ist. Es hat neben der
Betrachtung der ideologischen Disposition und des kulturellen
Hintergrunds der Eliten und nicht zuletzt der spezifischen Persönlichkeit
Stalins Platz geschaffen für eine empirisch abgestützte historische
Nüchternheit. Der Blick wird entideologisiert und die äußerst fest
gefügten Interpretationsparadigmen werden wieder in Fluss gebracht.
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