Verhängnis in alter Zeit

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Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
2003
Verhängnis in alter Zeit
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
-22003
Alois Senti
Verhängnis in alter Zeit
in: Terra Plana, Heft 2/2003 Seite 13-16.
Verhängnis in alter Zeit
Die Verwünschung der milchreichen Futterkräuter auf den Alpen
Alois Senti, Bern/Flums
Auf den Alpen wuchsen in alter Zeit ungewöhnlich milchreiche Kräuter, so dass die
Älpler täglich dreimal melken mussten. Entsprechend aufwendig war das Buttern und
Käsen. Junge Melkerin. Schabkunstblatt, Paris um 1790.
Nach übereinstimmenden Berichten aus Wangs, Vättis, Mels, Weisstannen und Flums
ernährten sich die Tiere in alter Zeit auf den Alpen von ungewöhnlich milchreichen
Kräutern, so dass die Älpler die Kühe täglich dreimal melken mussten. «Uf dän Alpä
isch früener vil mei und schüüners Gras gwagsä as jetz.» So stand das Gras auf dem
Hintersäss der Sarganser Alp Tamons so hoch wie in einer Heuwiese. «Si hind dinn jo
gsäit, mä hei drüümoul gmulchä pro Tag.» Junge Leute, die das Vergnügen dem
ständigen Buttern und Käsen vorzogen, verwünschten dann aber die gesegneten
Pflanzen. Der Teufel soll das Zipperi, die Mutteri und den Ritz holen.
-3Der unbedachte Fluch ging in Erfüllung. Und die Bauern hatten es nur der
Geistesgegenwart eines zufällig anwesenden Jägers zu verdanken, dass wenigstens die
Mutteri und der Ritz noch grünen. Dem Jäger gelang es, die Verwünschung im letzten
Augenblick rückgängig zu machen. In der Aufregung übersah er aber das Zipperi.
Dieses verdorrte für immer.
Die Namen der drei Pflanzen scheinen einerseits durch die weit verbreiteten und immer
wieder erzählten Sagen vom Verlust des Zipperi und anderseits durch die KräuterHeilbücher überliefert worden zu sein. Mutteri und Ritz werden nicht nur von den
Älplern geschätzt, sondern zählen auch zu den wichtigen Heilkräutern. Im
Sarganserland befasste sich der Melser Sagensammler Johannes Natsch (1829-1879) in
der Mitte des 19. Jahrhunderts als Erster mit dem Verlust der milchreichen
Futterpflanzen. Er kannte wohl das Gedicht «Der Ziprion» des Bündners Alfons von
Flugi. Bei Flugi ereignet sich das Verhängnis auf dem Hexenboden der Alpen des
Calanda.
Johannes Natsch erzählt den Vorfall vom Tanzboden der Alp Sardona zuhinterst im
Calfeisental. Ein Ort, an dem sich die Hexen zu versammeln pflegten.
«Auf den Alpen des Calanda und der benachbarten Gebirge wuchsen früher die
milchreichsten Kräuter in Hülle und Fülle, und unter diesen zeichneten sich Mutternen
und Ritz und vor allem aber der oder Ziprion aus. Die Kühe wurden davon gross und
fett und mussten dreimal des Tages gemolken werden. Ein lockerer Bursche wusste aber
von dem betreffenden Hirtenvolke viele zu verführen und zur Teilnahme an nächtlichen
Zusammenkünften auf dem so genannten Tanzboden, in einer unwirtlichen
Gebirgsgegend, zu bewegen, um dort nicht nur zu tanzen, sondern auch Hexenkünste zu
üben. Einst kam ein junger, frischer Gemsjäger von ungefähr zu einem solchen Tanze,
an dem auch seine Liebste teilgenommen hatte.
Als diese ihn erblickte, kam sie schnell auf ihn zu und überredete ihn, zu bleiben und
mitzutanzen. Das Mädchen, das eine Sennerin war, dachte gar nicht ans Aufhören, bis
die Morgendämmerung sie ermahnte, den Ort ihres wilden Vergnügens zu verlassen
und zu ihren Kühen zu gehen, um dieselben rechtzeitig zu melken.
Voll Zorn hierüber rief sie: «Verflucht sei Ziprion, Muttern und Ritz vom Rhein bis an
die höchste Spitz!» Erschrocken sprang der Jäger bei Seite und erwiderte, wie zur
Abwehr: «Behüt mir Gott Muttern und Ritz vom Rhein bis an die höchste Spitz!» Kaum
war dies Wort verklungen, war auch seine Sennerin samt der übrigen Spukgesellschaft
verschwunden. Weil der Jäger in der Hast den Ziprion in seinem Stossgebete zu nennen
vergessen hatte, ist nachher dieses Kräutlein verdorrt für immer, während die andern
Milchkräuter immer noch grünen und blühen in unseren Alpen.»
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Auch auf der Valenser Alp Lasa sollen sich die Hirten an den so reichlich spriessenden
Kräutern und der überfliessenden Milch versündigt haben. Wenn doch die Alp nur
weiss der Kuckuck wo wäre, lamentierten die Taminataler, dann bräuchten sie nicht
länger zweimal täglich zu käsen und könnten mit den andern am Sonntag auch zum
Tanze gehen. In der Nacht darauf erwachten sie an einem unheimlichen Tosen und
Krachen. Keiner wagte sich vor die Hütte hinaus. Erst als es zu dämmern begann,
wurden sie allmählich gewahr, was geschehen war und dass sie sich samt ihren Tieren
auf einer ganz andern, mit Steinen übersäten Alp befanden, die ihrem frevelhaften
Wunsche, nur noch einmal täglich käsen zu müssen, voll entgegenkam. Sie mussten mit
dem Vieh früher als sonst zu Tal fahren. Die einst milchreiche Alp verwilderte und
konnte schon nach wenigen Jahren nicht einmal mehr mit Schafen bestossen werden.
Eine Variante der Taminataler Sage überliefert den Unmut der Hirten mit den Worten:
«Varfluocht sei der Cipriu, der söll immar ! und ebig dürr stuh!»
Auf einer Alp im Weisstannental reichten schon die unbedachten Worte: «... ich wett,
der Tüüfel neim dr Zipriuu, ass i vum Tanzä gä mälchä muess.» Und in Flums war es
der Unwille eines tanzlustigen Mädchens, der das milchtreibende Futterkraut in
Isländisch-Moos verwandelte. Es rief im Zorn: «Zipriuu! Dr Tüüfel sölls houlä, ass mä
muess drüümoul ga mälchä guu!» Nach dieser Verwünschung sei das Futterkraut
verdorrt. «Au ds Muetergotteschrut (Hypericum L., auch Johanniskraut) und dr Zipriuu.
Äsou hät mä dm yslindischä Mous früener gsäit. Äs wagst in dä Megernä z Fursch jen
und uf em Fans. Git derä, wos na bruuchen zum Tei machä.» In einer Flumser Variante
wird der Verlust des Paradieses auf die Hartherzigkeit einiger Alpknechte
zurückgeführt, die ein um Butter bettelndes wilds Wybli abgewiesen haben.
Die Geschichten vom verhängnisvollen Verlust der milchtreibenden Kräuter auf den
Alpen öffnete den Zuhörenden ein Fenster in die gute alte Welt und ermahnte die Älpler
zum rechten Umgang mit den auf den Alpen anfallenden Gaben Gottes.
Der Flumser Älpler und Landwirt Emil Schlegel meinte in diesem Zusammenhang
nüchtern: «Mä hät halt früener gäärä derä Züüg verzellt, au winn mä gwüsst hät, ass nüt
dra isch.» Geschichten dieser Art ergaben sich seiner Meinung nach aus der Angst der
Viehhalter, durch unzuverlässige Knechte ein weiteres Stück ihrer ohnehin schmalen
Lebensgrundlage zu verlieren. Und den Erzählern ging es darum, den jungen Leuten
deutlich zu machen, dass die Betreuung so vieler Tiere und die Verarbeitung der täglich
anfallenden Milch dem Vergnügen vorangehen muss und keine Nachlässigkeiten
erlaubt.
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Der Alpenwegerich
Ritz ist ein Wegerichgewächs. Bei der in
den Sagen genannten Art handelt es sich
um den mit dem Adelgras und den
Romeyen synonymen Alpenwegerich
(Plantago alpina l.). Im Sarganserland
wächst das tiefgrüne Kraut vom
Calfeisental bis ins oberste Murgtal und
im ganzen Alvier- und Churfirstengebiet
oberhalb von 1500 Metern. Von den
Wegericharten im Tal unterscheidet sich
der Alpenwegerich durch seine schmalen,
grasähnlichen Blätter. Die 5 bis 10
Zentimeter hohen Blüten sind von gelben
Staubbeuteln umgeben. Gegen die Kälte
erweist er sich als widerstandsfähiger als
die oft mit ihm genannte Muttern.
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Die 5 bis 10 Zentimeter hohen Blüten sind von gelben Staubbeuteln umgeben. Gegen
die Kälte erweist er sich als widerstandsfähiger als die oft mit ihm genannte Muttern.
Die Pflanzenheilkunde verwendet alle Arten des Wegerichs, und zwar sowohl die
Wurzel und Blätter als auch die Blüten und Samen. Kräuterpfarrer Johann Künzle hält
den Alpenwegerich, «die auch Ritzen genannt werden», für am heilkräftigsten. In den
Sagen reimt sich der umgangssprachliche Name Ritz mit dem «höchsten Spitz» der
Berge, auf denen das unauffällige Futterkraut einst von Wildheuern, Ziegen und
Schafen genutzt wurde.
Die Muttern
Muttern
Das milchreichste Futterkraut der Alpen ist in den Augen der Älpler die Muttern,
Mutterwurz, Mutteri oder der Alpenliebstock (Ligusticum Mutellina L. Crantz/Meum
Mutellina, Gärtner). «Muttere, Romeyen und Adelgras ist das Best, was mis Chüeli
frass», weiss man im Berner Oberland. Die auf nährstoffreichen Alpweiden wachsende
Futterpflanze erreicht eine Höhe von 10 bis 40 Zentimetern. Ihre blassgelben und
weissrötlichen Blüten setzen sich aus 10 bis 15 kleinen Dolden zusammen.
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Anzutreffen ist die Pflanze im Calfeisental, im Weisstannental vom Augstchamm bis
zur Alp Tamons, von den Flumserbergen bis ins Murgtal sowie auf der Seebenalp und
im Alviergebiet bis zum Ganzen zwischen 1400 und 2500 Metern. Der Name Mutellina
scheint aus dem Deutschen entlehnt worden zu sein. In der Pflanzenheilkunde wird die
Muttern bei Nieren- und Blasenleiden herangezogen. Ihre Wurzel enthält ein
wohlriechendes, die Entwässerung förderndes Öl. Der Wangser Kräuterpfarrer schreibt:
«Die Liebstöckelwurzel ist ein fester Bestandteil aller Blasen- und Nierentees.» Und in
den Sagen heisst es: «G'sege-mer Gott Mueterne und Ritz über all Gred und Spitz!»
Küherbub mit Ziege, «Alpenrosen» 1818.
Junge Leute, welche das Vergnügen der Arbeit auf den Alpen vorzogen, verwünschten die
gesegneten Pflanzen, die ihnen so viel Mühe verursachten. Zwei von drei Kräutern verdorrten
für immer. Der Melser Sagensammler Johannes Natsch überliefert den Vorfall auf der Alp
Sardona im Calfeisental. Foto Fetzer, Bad Ragaz.
Das Zipperi
Zipperi
Beim Zipperi, dem Ziperiuu oder Ziperion der Sagen geht es um das dritte, nach der
mündlichen Überlieferung durch den Fluch des vergnügungssüchtigen Hirtenvolkes zu
Grunde gegangene Futterkraut der Alpen. Bei der Verwünschung verdorrte es auf der
Stelle und verwandelte sich in das in hoch gelegenen, trockenen Wäldern häufig
anzutreffende, 5 bis 10 Zentimeter hohe Isländisch-Moos (Cetraria islandica L. Ach.).
Die verästelten und am Rande gebogenen Lappen der Bodenflechte sind auf der
vorderen Seite graugrün und auf der hinteren Seite heller.
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Im Gegensatz zur Rentierflechte (Cladonia rangiferina L.), mit der das Isländisch-Moos
häufig verwechselt wird, sind die Ästchen des Zipperi flach und zäh. Einst waren sie
voll Milch. Heute hat die Flechte einen bitteren Geschmack. Die wissenschaftliche
Bezeichnung soll an ihr reichliches Vorkommen in Island erinnern.
Der Wangser Lehrer Georg Grünenfelder (1832-1889) führt das Zipperi in der 1880
verfassten «Beschreibung der Ortsgemeinde Wangs» zusammen mit der Brunnenkresse
(Nasturtium officinale R.Br.) als «Thee für Auszehrende» auf. Isländisch Moos ist etwa
eine halbe Stunde zu kochen. Dabei entsteht ein schleimiges Heilmittel, das den
Kranken bei Heiserkeit und chronischem Katarrh hilft, hartnäckigen Husten
beschwichtigt und den Auswurf erleichtert. Vom Vieh wird das milchreiche Kraut seit
seiner Verwünschung gemieden.
-9Literatur
- Flugi, Alfons v.: Volks-Sagen aus Graubünden, Chur 1843, S. 13l.
- Grünenfelder, Georg: Beschreibung der Ortsgemeinde Wangs (Manuskript der
Ortsgemeinde Wangs), S. 9.
- Kaiser, Flavian: Ragaz-Pfäfers und ihr Exkursions-Gebiet, Bad Ragaz 1880, S. 52,
53.
- Künzle, Johann: Das grosse Kräuterheilbuch, Olten 1945, S. 346, 377, 415.
- Müller, Eduard: Beitrag zur Volksbotanik des Kantons St. Gallen, in: Mitteilungen
aus dem Botanischen Museum der Universität Zürich, Zürich 1925, S. 106, 115, 117.
- Natsch, Johannes Anton: Sagen
Kantonsbibliothek St. Gallen), Nr.55.
aus
dem
Oberland
(Manuskript
der
- Seiter, Heinrich: Flora der Kantone St. Gallen und beider Appenzell, St. Gallen 1989,
S. 401, 548.
- Senti, Alois: Sagen aus dem Sarganserland, Basel 1974/1998, Bd. I , S. 155,245,302;
Bd. 2, S. 55, 126, 144.
- Senti, Alois: Erfragte Vergangenheit, St. Gallen 2001, S. 2l.
- Stadler, Franz Joseph: Schweizerisches Idiotikon, hg. von Niklaus Bigler, Aarau
1994, S. 503.
- Vonbun, Franz Joseph: Beiträge zur deutschen Mythologie, Chur 1862, S. 136.
- Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Frauenfeld 1881 ff., Bd. I 681; Bd. II
793, 795; Bd. IV 578, 579; Bd. VI 716,914,1928, 1930; Bd. XIII 1347, 1773.
Wir danken dem Verfasser bestens für die freundliche Wiedergabebewilligung.
Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 02/2007
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