Überarbeitung gefordert

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THEMEN DER ZEIT
ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNGEN
Überarbeitung gefordert
Nachdem erneut Kritik an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) laut wurde, hat die Fachgesellschaft eine
Aktualisierung der Empfehlungen bis Sommer 2017 angekündigt.
Unlösbarer Spagat
Der Sprecher der DGE-Arbeitsgruppe für lebensmittelbezogene
Empfehlungen kündigte prompt eine Überarbeitung der grafischen
Modelle für dieses Jahr an (siehe
Stimmen zur Petition). Und auch
die Präsidentin der DGE meldet
sich zu Wort: Die Kommentare
würden deutlich machen, dass die
Empfehlungen der DGE entweder
falsch verstanden oder falsch angewendet würden, teilte die Ökotropholgin Arens-Azevêdo dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) mit. Stattdessen sieht die DGE den GKV-Spitzenverband und die Zentrale Prüfstelle Prävention (ZPP) in der Verantwortung, da diese die Vorgaben
des Leitfadens Prävention zu streng
auslegen würden. Wann immer Diätassistenten oder qualifizierte Ernährungsfachkräfte präventive Ernährungsberatung anbieten, muss
das Schulungskonzept von der ZPP
anerkannt werden. Die ZPP, eine
gemeinsame Einrichtung der gesetzlichen Krankenkassen, erkennt
allerdings bislang nicht an, was
nicht zur Vorgabe der DGE passt.
Kluthe-Neis und Blumenschein zi-
A 252
Die Empfehlung
der Nährwertrelationen der DGE
gelten für gesunde
Menschen: 10 bis
15 Prozent Protein,
30 Prozent Fett und
55 bis 60 Prozent
Kohlenhydrate. Ein
grafisches Modell
dafür bietet der
DGE-Ernährungskreis (8, 9).
tieren Sarah Böke, Fachleiterin und
Prüferin am ZPP: „Auch wenn es in
den letzten Jahren neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den
Vorteil einer eiweißbetonten Ernährung im Rahmen einer Gewichtsreduktion gegeben hat, werden diese aktuell nicht von der
DGE umgesetzt. Somit können
Kurse/Konzepte, die eine eiweißbetonte Ernährung empfehlen,
nicht von der ZPP anerkannt werden.“ Dies bedeute gleichzeitig,
dass der Kurs bei den Krankenkassen nicht gelistet sei, erklärt Blumenschein. Die Leistungen werden
weder bezuschusst noch erstattet.
Viele Menschen, die bei Präventivkursen mitmachen, weisen Fettstoffwechselstörungen auf. Hier
müssten evidenzbasiert ganz andere
Nährstoffrelationen angeraten werden, erläutert die Ernährungstherapeutin Kluthe-Neis vom Vorstand
der Deutschen Gesellschaft der
qualifizierten Ernährungstherapeuten und Ernährungsberater. Angebracht wären etwa 20 Prozent Eiweiß, 40 Prozent Fett und nur 40
Prozent Kohlenhydrate.
Mit ihrem Appell für eine Aktualisierung der DGE-Empfehlungen
haben die beiden Frauen schon jetzt
etwas bewegt. Dr. oec. troph. Ute
Brehme, bei der DGE für den Dialog mit der ZPP zuständig, betont
auf Nachfrage des DÄ, dass sich die
DGE-Empfehlungen an Gesunde
richten (2, 3). Für einen Großteil
der Bevölkerung sind sie folglich
obsolet: Für jene, die übergewichtig
sind, zu viel Bauchfett aufweisen,
Diabetes haben, deren Blutfette zu
hoch sind oder die hyperton sind.
Für die Gewichtsreduktion gelte daher die Adipositasleitlinie von
2014, die mehrere Ernährungsstrategien bereithalte, teilt Brehme mit.
Die Nährstoffrelation sei kein „starres Konzept“. Da dies möglicherweise nicht ausreichend bekannt
sei, habe man die ZPP und den
GKV-Spitzenverband darüber informiert, dass eine zu strenge Auslegung erfolge. Einen Vorschlag für
eine neue Formulierung im Leitfaden Prävention haben sie ebenfalls
übermittelt.
Selbst bei Gesunden obsolet
Wenngleich damit ein erster Schritt
getan ist, um das Problem in der
Präventivberatung zu beheben,
bleiben grundsätzliche Einwände
bestehen. „Selbst für Gesunde sind
diese Empfehlungen nicht belegt“,
ist Dr. med. Johannes Scholl, Facharzt für Innere Medizin und Vorsitzender der Deutschen Akademie für
PräventivMedizin (DAPM), überzeugt. In der Women’s-Health-Initiative (WHI-)Studie hatten 48 835
Frauen 8,2 Prozent weniger Nahrungsfett verzehrt, ohne dass dies
die Herzinfarkt- oder Schlaganfallrate senken konnte, auch ein positiver Effekt auf die Gesamtmortalität
ließ sich nicht nachweisen (4). In
den USA hat das Dietary Guide-
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 6 | 10. Februar 2017
Foto: Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V., Bonn
n einem offenen Brief appellieren zwei Fachfrauen für Ernährung an die DGE-Präsidentin Prof.
Ulrike Arens-Azevêdo: Die primärpräventiven Empfehlungen zur
Nährwertrelation anhand aktueller
Studien sollten ausgeweitet werden.
Denn diese seien ausschließlich für
gesunde Menschen konzipiert, was
nicht dem Großteil der Schulungsklientel entspreche, heißt es
in der Petition (1). Allein Zahl
und Inhalt der Kommentare im Internet bezeugen, dass Daniela
Kluthe-Neis und Birgit Blumenschein mit ihrer Petition einen
Nerv getroffen haben.
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THEMEN DER ZEIT
Foto: privat/Guido Bittner
Stimmen zur Petition
„Viel Brot und Kartoffeln zu verzehren, ist
für Menschen mit Insulinresistenz, nicht
alkoholischer Leberverfettung oder Adipositas kontraproduktiv. Eine mediterrane Ernährung mit reichlich Olivenöl und Nüssen, aber wenig Kohlenhydraten und möglichst zuckerarm, ist die beste Option –
auch für Gesunde. Das ist die Evidenz
nicht nur aus Beobachtungs-, sondern auch aus Interventionsstudien. Die DAPM hält deshalb die Revision und Flexibilisierung der DGE-Empfehlungen im Hinblick auf die tatsächlichen
Probleme der Bevölkerung für dringend geboten.“
Dr. med. Johannes Scholl, 1. Vorsitzender der Deutschen Akademie für
PräventivMedizin e.V.
Foto: MRI
lines Advisory Committee (DGACReport) im Scientific Report folgerichtig die Obergrenze für den Fettanteil infrage gestellt (5). Dies wurde weithin diskutiert und von Fachmedien als Meilenstein gedeutet (6).
In der zweiten Interventionsstudie, der spanischen PREDIMEDStudie (PREvención con DIeta MEDiterránea) mit 7 447 Teilnehmern
mit erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, schneidet die
DGE-Empfehlung zu mehr Kohlenhydraten ebenfalls nicht gut ab.
Myokardinfarkt, Schlaganfall und
kardiovaskulärer Tod waren signifikant seltener bei jenen, die für eine
Mittelmeerdiät mit viel Olivenöl
und hohem Konsum von Nüssen
randomisiert worden waren. Die
Vergleichsgruppe ernährte sich mit
fettreduzierten Milchprodukten und
höchstens zwei Esslöffeln Olivenöl,
dafür mit mehr Brotprodukten, Reis
und Kartoffeln – ähnlich, wie es die
DGE empfiehlt. Letztere schnitten
so viel schlechter ab, dass die Studie wegen des überzeugenden Vorteils der fettreicheren Variante abgebrochen wurde (7).
„Die DGE hat sich mit der in der Petition angesprochenen Problematik auseinandergesetzt und bringt sich für Lösungen ein. Unabhängig davon wurde bereits im letzten Jahr
eine Arbeitsgruppe für lebensmittelbezogene
Empfehlungen in der DGE eingerichtet. Diese wird eine darauf angepasste Überarbeitung
der grafischen Modelle und Empfehlungen
zur Folge haben. Bereits bis zum Sommer wird die DGE die ,10
Regeln’ modifizieren gemäß der Evidenz aus aktuellen Leitlinien.“
Prof. Dr. oec. troph. Bernhard Watzl, Sprecher der DGE-AG lebensmittelbezogene
Empfehlungen, Max Rubner-Institut, Karlsruhe
Kathrin Gießelmann
Dr. med. Martina Lenzen-Schulte
@
A 254
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0617
oder über QR-Code.
„Die Petition zeigt, dass zum Verständnis unserer Empfehlungen Klärungsbedarf besteht.
Häufig genannt wurde die Sorge, eine individuelle Betreuung sei nicht möglich. Doch genau dies ist das Ziel der Ernährungsberatung
und geht konform mit den wissenschaftlichen
Aussagen der DGE. Eine weitere Kritik betraf die Gültigkeit bei Krankheiten. Hier verweisen wir auf die Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften. Nach Klärung der Sachlage werden die DGE und der GKVSpitzenverband alle Beteiligten über das Ergebnis informieren.“
Prof. Ulrike Arens-Azevêdo, Präsidentin der DGE
Foto: privat
„Dies und etliche andere Studien
sind Evidenz genug, um die zehn
DGE-Regeln zu revidieren“, sagt
Scholl. Die Deutsche Adipositas
Gesellschaft (DAG) schließt sich
der Forderung nach einer Aktualisierung auf Anfrage des DÄ an:
„Die derzeitigen Empfehlungen der
DGE zur Makronährstoffverteilung
für die Ernährung der breiten Bevölkerung sind nicht mehr zeitgemäß und sollten überarbeitet werden – zumal sie auch nicht durch
wissenschaftliche Daten gestützt
werden,“ sagt Prof. Dr. med. Matthias Blüher, Präsident der DAG.
Eine Petition reiche hier aber nicht
aus. „Wir benötigen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, in
die auch die DAG für das Gewichtsmanagement
einbezogen
▄
werden sollte.“
Foto:DGE
DAG für Überarbeitung
„Für die Leistungen der GKV in der Primärprävention und Gesundheitsförderung
gilt der GKV-Leitfaden Prävention (10).
An der Erarbeitung der aktuellen Fassung
vom 9. Januar 2017 waren mehrere Institute und Gesellschaften, darunter auch die
DGE, beteiligt. Wegen der Zertifizierung
von Ernährungskursen sind wir in Gesprächen mit der DGE und der GKV-Gemeinschaft einschließlich
der ZPP. Ich bin optimistisch, dass es im Rahmen einer konstruktiven Zusammenarbeit für die aktuell diskutierten Probleme eine praktikable Lösung geben wird.“
Dr. phil. Volker Wanek, GKV-Spitzenverband, Referat Prävention
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 6 | 10. Februar 2017
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ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNGEN
Überarbeitung gefordert
Nachdem erneut Kritik an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) laut wurde, hat die Fachgesellschaft eine
Aktualisierung der Empfehlungen bis Sommer 2017 angekündigt.
LITERATUR:
1. Petition: https://www.change.org/p/bitteunterst%C3%BCtzen-sie-uns-mit-ihrer-un
terschrift-in-unserem-bestreben-die-aktu
ell-durch-die-dge-empfohlenen%C3%A4
hrwertrelation-der-proteine-fette-undkohlenhydrate-diskussion-%C3%BCbermodifizierung-der-aktuellen-dgen%C3%A4hrwertrelationen/u/18952793.
2. Erläuterung zur Erstellung von DGE-Leitlinien; Leitlinie Fett (2015) und Leitlinie
Kohlenhydrate (2011) https://www.dge.
de/wissenschaft/leitlinien/https://www.
dge.de/fileadmin/public/doc/ws/Allge
meine-methodische-VorgehensweiseDGE-Leitlinien.pdf (2014).
3. Positionspapier zu den Richtwerten für die
Energiezufuhr aus Kohlenhydraten und
Fett (2011) https://www.dge.de/fileadmin/
public/doc/ws/position/DGE-Positions
papier-Richtwerte-Energiezufuhr-KH-undFett.pdf.
4. Howard BV, Van Horn L, Hsia J, et al.:
Low-Fat Dietary Pattern and Risk of Cardiovascular Disease. The Women‘s Health
Initiative Randomized Controlled Dietary
Modification Trial. JAMA 2006; 295 (6):
666–655. http://jamanetwork.com/
journals/jama/fullarticle/202339.
5. Scientific Report of the 2015 Dietary
Guidelines Advisory Committee (Advisory
Report). Submitted to the Secretaries of
the U.S. Departments of Health and
Human Services (HHS) and Agriculture
(USDA). https://health.gov/dietaryguidelines/
2015-scientific-report/.
A3
6. Mozaffarian D, Ludwig DS: The 2015
US Dietary Guidelines Lifting the Ban on
Total Dietary Fat. JAMA 2015; 313 (24):
2421–2422. http://jamanetwork.com/
journals/jama/article-abstract/2338262.
7. Estruch R, Ros E, Salas-Salvadó J, et al.:
Primary Prevention of Cardiovascular
Disease with a Mediterranean Diet. NEJM
2013; 368: 1279–1290. http://www.
nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa
1200303#t=article.
8. Erläuterung zur Anwendung der Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr Kapitel 1
der D-A-CH-Referenzwerte (2015)
https://www.dge-medienservice.de/fileu
ploader/download/download/?d=0&file=
custom%2Fupload%2FFile-148473
9526.pdf.
9. Erläuterung zu den lebensmittelbezogenen
Ernährungsempfehlungen der DGE. Die
lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der DGE. Wissenschaftliche
Ableitung und praktische Anwendung der
Modelle. In: Ernährungs Umschau 63
(08/16) M474-M480 https://www.ernaeh
rungsumschau.de/print-artikel/15–08–
2016-die-lebensmittelbezogenen-ernaeh
rungsempfehlungen-der-dge/.
10.. Leitfaden Prävention. Handlungsfelder und
Kriterien des GKV-Spitzenverbandes zur
Umsetzung der §§ 20, 20 a und 20 b SGB
V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom
9. Januar 2017 https://www.gkv-spitzen
verband.de/krankenversicherung/praeven
tion_selbsthilfe_beratung/praevention_
und_bgf/leitfaden_praevention/leitfaden_
praevention.jsp.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 6 | 10. Februar 2017
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